Nach diesen Worten herrschte Totenstille. Die Logik von Fandorin-san schien unwiderleglich, und ich bin sicher, daß es allen kalt den Rücken hinunterlief. Außer einem Menschen.
Als erster kam der Kommissar wieder zu sich. Er sagte mit nervösem Lachen: »Sie haben eine blühende Phantasie, Monsieur Fandorin. Was jedoch die Gefahr betrifft, so haben Sie recht. Doch Sie, meine Herrschaften, brauchen nicht zu zittern. Wenn einer in Gefahr ist, dann der alte Coche, und das weiß er sehr gut. So ist nun mal mein Beruf. Aber mit bloßen Händen kriegt mich keiner.« Er ließ den Blick drohend über uns alle gleiten, und es war wie eine Forderung zum Duell.
Komischer alter Dickwanst. Er könnte allenfalls gegen die schwangere Madame Kleber antreten. In meinem Gehirn entstand ein verlockendes Bild: Der rot angelaufene Kommissar wirft die junge Hexe zu Boden und würgt sie mit seinen haarigen Wurstfingern, und Madame Kleber verendet mit vorquellenden Augen und herausgestreckter widerlicher Zunge.
»»Darling, I am scared!«[5] piepste Mrs. Truffo mit dünnem Stimmchen. Ihr Mann streichelte ihr begütigend die Schulter.
Eine interessante Frage stellte der rothaarige und häßliche M.-S.-san (der Name ist zu lang zum Ausschreiben): »Professor, beschreiben Sie doch das Tuch ausführlicher. Na gut, ein Vogel mit einem Löchlein statt des Auges, na gut, ein Dreieck. Hat das Tuch sonst noch etwas Bemerkenswertes?«
Ich muß erwähnen, daß dieser sonderbare Herr sich fast ebenso selten an den allgemeinen Gesprächen beteiligt wie ich. Und wenn er mal etwas sagt, schießt er wie der Autor dieser Zeilen daneben. Um so bemerkenswerter die überraschend gute Frage.
Sweetchild-san: »Soweit ich mich erinnere, ist außer dem leeren Auge und der einmaligen Form nichts Besonderes an dem Tuch. So groß wie ein ansehnlicher Fächer, läßt sich aber in einem Fingerhut verstecken. In Brahmapur ist solch hauchdünnes Gewebe keine Seltenheit.«
»Also liegt der Schlüssel in dem leeren Auge und in der Dreiecksform«, resümierte Fandorin-san mit bewundernswerter Sicherheit.
Er ist wirklich großartig.
Je länger ich über seinen Triumph und über die ganze Geschichte nachdenke, desto stärker wächst in mir der unwürdige
Wunsch, ihnen allen zu demonstrieren, daß auch Gintaro Aono etwas wert ist und sie alle verblüffen kann. Ich könnte zum Beispiel Kommissar Coche etwas Interessantes über den gestrigen Vorfall mit dem schwarzen Wilden erzählen. Im übrigen hat der weise Fandorin-san zugegeben, daß ihm in dieser Sache noch nicht alles klar ist. Ihm ist etwas unklar, und plötzlich kommt der »wilde Japaner« und - zack! - löst das Rätsel. Das wäre doch was!
Gestern habe ich, durch die Beleidigung aus dem Gleis geworfen, vorübergehend die Nüchternheit des Denkens eingebüßt. Nachdem ich mich beruhigt hatte, kam die Überlegung wieder, und in meinem Kopf formte sich eine logische Gedankenkette, die ich dem Polizisten stecken will. Die Schlußfolgerungen mag er sich selber zurechtlegen. Folgendes werde ich ihm sagen.
Zuerst erinnere ich ihn an die groben Worte der Madame Kleber mir gegenüber. Es war eine schwere Beleidigung, noch dazu öffentlich. Und sie geschah genau in dem Moment, als ich meine Beobachtungen mitteilen wollte. Ob Madame Kleber die Absicht verfolgte, mir den Mund zu stopfen? Ich das nicht verdächtig, Herr Kommissar?
Weiter. Warum stellt sie sich schwach, wenn sie so gesund ist wie ein Sumo-Ringer? Sie werden sagen, Unsinn, Lappalie. Darauf antworte ich Ihnen, Herr Fahnder, daß ein Mensch, der sich ständig verstellt, ganz sicher etwas zu verbergen hat. Nehmen Sie zum Beispiel mich. (Ha-ha, das werde ich natürlich nicht sagen.)
Dann lenke ich die Aufmerksamkeit des Kommissars darauf, daß europäische Frauen eine sehr zarte weiße Haut haben. Wieso haben die mächtigen Finger des Negers nicht den kleinsten Abdruck auf ihrer Haut hinterlassen? Ist das nicht auffällig?
Und wenn der Kommissar dann meint, ich hätte nichts vorgebracht außer den müßigen Mutmaßungen eines rachsüchtigen asiatischen Verstandes, sage ich ihm das Wichtigste, was den Herrn Fahnder sogleich überzeugen wird.
»Monsieur Coche«, sage ich dann mit höflichem Lächeln, »ich besitze nicht Ihren glänzenden Verstand und versuche nicht, mich in die Untersuchung einzumischen (wie sollte ich Unwissender das tun?), aber ich halte es für meine Pflicht, Ihre Aufmerksamkeit auf einen weiteren Umstand zu lenken. Sie sagen selber, der Mörder aus der Rue de Grenelle befinde sich unter uns. Monsieur Fandorin hat uns eine überzeugende Theorie vorgetragen, auf welche Weise die Dienerschaft von Lord Littleby getötet wurde. Eine Choleraimpfung - das ist eine ausgezeichnete Finte. Also konnte der Mörder mit der Spritze umgehen. Und wenn nun die Villa in der Rue de Grenelle nicht von einem Arzt, sondern von einer Frau, einer Krankenschwester, aufgesucht wurde? Sie würde ja noch weniger Verdacht erregt haben als ein Mann, nicht wahr? Stimmen Sie mir zu? Dann rate ich Ihnen, einmal unauffällig einen Blick auf die Arme von Madame Kleber zu werfen, wenn sie dasitzt, ihr Schlangenköpfchen nachdenklich in die Hand stützt und der weite Ärmel dabei bis zum Ellbogen heruntergleitet. In der Beuge werden Sie kaum erkennbare Pünktchen bemerken. Das sind die Einstiche von Injektionsnadeln, Herr Kommissar. Fragen Sie Doktor Truffo, ob er ihr irgendwelche Spritzen gibt, und der geehrte Arzt wird Ihnen dasselbe antworten wie heute mir: Nein, das tue er nicht, und überhaupt sei er ein prinzipieller Gegner der intravenösen Verabreichung. Dann zählen Sie zwei und zwei zusammen, o weiser Coche-san, und Sie werden etwas haben, worüber Sie sich Ihren grauen Kopfzerbrechen können.« Das werde ich ihm sagen, und dann wird er sich Madame Kleber vornehmen.
Ein europäischer Ritter würde mein Vorgehen wohl häßlich finden, und darin würde sich seine Beschränktheit kundtun. Eben darum gibt es in Europa keine Ritter mehr, doch die Samurai leben. Zwar hat der Kaiser die Standesunterschiede aufgehoben und uns verboten, zwei Schwerter am Gürtel zu tragen, aber das bedeutet nicht die Abschaffung des Samuraititels, sondern im Gegenteil die Erhebung der ganzen japanischen Nation in den Samuraistand, damit wir uns nicht voreinander mit unserm Stammbaum brüsten. Wir halten zusammen, und die übrige Welt steht gegen uns. Oh, edler europäischer Ritter (der gewiß nur in Romanen existiert)! Wenn du mit Männern kämpfst, so benutze männliche Waffen, und wenn du mit Frauen kämpfst, dann weibliche. Das ist der Ehrenkodex des Samurai, und daran ist nichts Häßliches, denn Frauen verstehen nicht schlechter zu kämpfen als Männer. Gegen die Ehre eines Samurai würde es verstoßen, gegen Frauen männliche Waffen anzuwenden und gegen Männer weibliche. So weit würde ich mich nie erniedrigen.
Ich zögere noch, das geplante Manöver zu unternehmen, aber mein Geisteszustand ist erheblich besser als gestern. So erheblich, daß ich ohne Mühe den ganz passablen Dreizeiler zustande brachte: