Als eisiger Funke blitzte der Mond auf stählerner Klinge.
CLARISSA STOMP
Clarissa drehte sich mit gelangweilter Miene um, ob nicht jemand guckte, erst danach linste sie um die Ecke des Deckhauses.
Der Japaner saß allein achtern auf dem Bootsdeck, die Beine untergeschlagen. Sein Kopf war hoch erhoben, zwischen den halbgeschlossenen Lidern glitzerte gespenstisch das Weiß der Augäpfel, ein entrücktes und leidenschaftsloses Gesicht.
Brrr! Clarissa schüttelte sich. Dieser Mr. Aono war schon ein seltenes Exemplar. Hier auf dem Bootsdeck, eine Etage über dem Erste-Klasse-Deck, gab es keine Flaneure, nur ein Schwarm kleiner Mädchen vergnügte sich mit dem Springseil, und im Schatten eines schneeweißen Rettungsboots hockten zwei von der Hitze zermürbte Gouvernanten. Wer außer Kindern und dem halbverrückten Asiaten konnte sich in dieser Sonnenglut aufhalten? Über dem Bootsdeck gab es nur noch das Ruderhaus, die Kapitänsbrücke und natürlich Schornsteine, Masten und Segel. Die weißen Leinwände blähten sich unter dem Druck des Windes, die »Leviathan« eilte, Qualmwolken ausstoßend, auf den quecksilbrigen Streifen des Horizonts zu, und ringsum blinkte und schillerte das leicht zerknitterte flaschengrüne Tuch des Indischen Ozeans. Von hier oben war zu erkennen, daß die Erde tatsächlich rund war, denn der Horizont lag deutlich tiefer als die »Leviathan«.
Aber Clarissa setzte sich der schweißtreibenden Hitze keineswegs aus Liebe zu Meereslandschaften aus. Sie wollte sehen, was Mr. Aono dort oben trieb. Wohin entfernte er sich jedesmal nach dem Frühstück mit solch beneidenswerter Beständigkeit?
Und sie interessierte sich zu Recht. Hier zeigte der ewig lächelnde Asiat sein wahres Gesicht. Ein Mensch mit so erstarrten, erbarmungslosen Zügen ist zu allem fähig. Die Vertreter der gelben Rasse sind eben doch anders als wir, und nicht nur wegen des Augenschnitts. Äußerlich sehen sie Menschen sehr ähnlich, aber sie sind eine ganz andere Art. Wölfe sehen ja auch aus wie Hunde, haben jedoch eine völlig andere Natur. Gewiß, die Gelbhäutigen haben ihre eigene sittliche Basis, doch die ist dem Christentum dermaßen fremd, daß ein normaler Mensch sie nicht begreifen kann. Besser wär’s, sie trügen keine europäische Kleidung und wären unfähig, mit Messer und Gabel zu essen - damit schaffen sie nur die gefährliche Illusion, sie wären zivilisierte Menschen, dabei verbergen sich unter ihrem geleckten schwarzen Scheitel und ihrer glatten Stirn Dinge, die wir uns nicht vorstellen können.
Der Japaner regte sich, machte die Augen auf, und Clarissa retirierte eilig. Natürlich benahm sie sich wie eine dumme Gans, aber sie mußte doch etwas tun! Dieser Alpdruck konnte ja nicht ewig dauern. Sie mußte den Kommissar in die richtige Richtung schieben, sonst war ganz ungewiß, wie das alles enden würde. Trotz der Hitze bewegte sie fröstelnd die Schultern.
Mr. Aonos Aussehen und Benehmen bargen eindeutig ein Geheimnis. Wie das Verbrechen in der Rue de Grenelle. Sonderbar, daß Coche noch nicht begriffen hatte, daß allen Anzeichen nach der Japaner der Hauptverdächtige war.
Er wollte ein Offizier sein, ein Absolvent von Saint-Cyr, und hatte keine Ahnung von Pferden? Clarissa hatte einmal aus reiner Menschenliebe den schweigsamen Asiaten an der allgemeinen Unterhaltung beteiligen wollen und das Gespräch auf ein Thema gelenkt, das einen Militär interessieren mußte - Reiten, Pferderennen, die Vorzüge und Nachteile der Norfolktraber. Schöner Offizier! Auf die harmlose Frage, ob er schon einmal an einem Steeplechase teilgenommen habe, antwortete er, den Offizieren der kaiserlichen Armee sei es strengstens verboten, sich mit Politik zu befassen. Er weiß nicht, was ein Steeplechase ist! Natürlich ist unbekannt, was Japan für Offiziere hat - vielleicht reiten sie auf Bambusstecken, aber daß ein Absolvent von Saint-Cyr solche Unwissenheit bekundet? Ausgeschlossen.
Das mußte sie Coche verklickern. Oder sollte sie abwarten, bis sie noch etwas Verdächtiges herausfand?
Und der gestrige Vorfall? Clarissa war durch den Korridor gegangen, als aus Mr. Aonos Kabine höchst seltsame Geräusche drangen - ein trockenes Krachen, als ob jemand methodisch Möbelstücke zertrümmerte. Clarissa faßte sich ein Herz und klopfte.
Die Tür wurde aufgerissen. In der Öffnung stand der Japaner - nackt bis auf das Lendentuch! Der dunkle Körper glänzte schweißig, die Augen waren blutunterlaufen.
Als er Clarissa erblickte, stieß er einen Pfeiflaut aus.
Die zurechtgelegte Frage (»Monsieur Aono, könnten Sie mir vielleicht ein paar der wundervollen Gravüren zeigen, von denen ich so viel gehört habe?«) war ihr entfallen, und sie stand starr. Gleich würde er sie in die Kabine zerren und sich über sie hermachen! Dann würde er sie in Stücke zerlegen und die ins Meer werfen. Das war ganz einfach. Und dann gäbe es Miss Clarissa Stomp nicht mehr, die wohlerzogene englische Lady, die nicht besonders glücklich war, aber noch so viel vom Leben erwartete.
Clarissa stammelte, sie habe sich in der Tür geirrt. Aono sah sie schweigend an und atmete schwer. Ein saurer Geruch ging von ihm aus.
Sie mußte wohl doch mit dem Kommissar sprechen.
Vor dem Five o’clock tea paßte sie an der Tür des Salons »Windsor« den Kommissar ab und teilte ihm ihre Überlegungen mit, doch der Kerl nahm das irgendwie sonderbar auf - er sah sie spöttisch und stechend an, als erwarte er ein unanständiges Geständnis. Zwischendurch brummte er in den Bart: »Wie sie doch alle erpicht sind, sich gegenseitig anzuschwärzen.«
Als sie fertig war, fragte er aus dem Nichts: »Die Herren Eltern sind hoffentlich wohlauf?«
»Wessen, von Monsieur Aono?«
»Nein, Mademoiselle, die Ihrigen.«
»Ich bin schon als Kind Waise geworden«, antwortete sie mit einem erschrockenen Blick auf den Kommissar.
»Was festzustellen war.« Coche nickte zufrieden und ging, ein Clarissa unbekanntes Liedchen trällernd, als erster in den Salon. Eine Flegelei!
Dieses Gespräch hinterließ einen unguten Bodensatz. Die Franzosen sind ja doch trotz all ihrer gepriesenen Galanterie keine Gentlemen. Natürlich sind sie imstande, einer Frau blauen Dunst vorzumachen und den Kopf zu verdrehen, ihr hundert rote Rosen aufs Hotelzimmer zu schicken (hier verzog Clarissa schmerzlich das Gesicht), aber glauben darf man ihnen nicht. Ein englischer Gentleman ist vielleicht etwas langweilig, dafür weiß er, was Pflicht und Anstand ist. Ein
Franzose dagegen schleicht sich ins Vertrauen und übt dann Verrat.
Diese Verallgemeinerungen hatten freilich nicht direkt mit Kommissar Coche zu tun. Überdies lieferte er beim Mittagessen eine Erklärung für sein Benehmen, und das auf beunruhigende Weise.
Beim Dessert warf Coche, der bislang ein ungewohntes enervierendes Schweigen bewahrt hatte, plötzlich einen durchdringenden Blick auf Clarissa und sagte: »Übrigens, Mademoiselle Stomp, Sie fragten neulich nach Marie Sans- fond, der Dame, die angeblich mit Lord Littleby kurz vor seinem Tode gesehen wurde.«
Clarissa fuhr vor Überraschung zusammen, alle verstummten und guckten neugierig den Kommissar an; sie kannten schon die besondere Intonation, mit der er seine »Geschichten« zu beginnen pflegte.
»Ich hatte versprochen, Ihnen später von dieser Frau zu erzählen. Jetzt ist die Zeit gekommen.« Coche sah nur Clarissa an, und dieser Blick gefiel ihr immer weniger. »Es wird eine lange Geschichte, aber langweilig ist sie nicht, denn es geht um eine außergewöhnliche Frau. Und wir haben ja Zeit, oder? Wir sitzen bequem, essen Käse, trinken Orangeade. Doch wenn jemand anderes zu tun hat, soll er in Gottes Namen gehen, der alte Coche ist nicht beleidigt.«
Niemand rührte sich vom Fleck.
»Also, soll ich von Marie Sansfond erzählen?« fragte er gespielt treuherzig.
»Ja, unbedingt!« riefen alle.
Nur Clarissa schwieg, sie wußte, daß das Gespräch nicht von ungefähr begonnen worden war und ausschließlich ihr galt. Coche machte auch keinen Hehl daraus.