Выбрать главу

Er schmatzte genüßlich und holte die Pfeife hervor, ohne die Damen um Erlaubnis zu fragen.

»Ich erzähle der Reihe nach. Es lebte einmal in der belgischen Stadt Brügge ein kleines Mädchen namens Marie. Ihre Eltern waren wohlanständige Bürger der Stadt, gingen regelmäßig in die Kirche und vergötterten ihr goldlockiges Kind. Als Marie fast sechs war, bekam sie ein Brüderchen, den künftigen Erben der Bierbrauerei >Sansfond & Sansfond<. Die glückliche Familie war nun noch glücklicher, doch plötzlich geschah ein Unglück. Der Säugling, kaum einen Monat alt, stürzte aus dem Fenster und war tot. Erwachsene waren nicht im Hause, nur die beiden Kinder und ihre Bonne. Aber die hatte sich für eine halbe Stunde entfernt, um sich mit ihrem Liebsten, einem Feuerwehrmann, zu treffen. Während ihrer Abwesenheit drang ein Unbekannter in schwarzem Umhang und mit schwarzem Hut ins Haus ein. Die kleine Marie konnte sich unterm Bett verstecken, doch ihr Brüderchen nahm der schwarze Mann aus der Wiege und warf es aus dem Fenster. Dann verschwand er.«

»Was erzählen Sie da für Scheußlichkeiten!« rief Madame Kleber und griff nach ihrem Bauch.

»Das ist noch gar nichts.« Coche winkte mit der Pfeife ab. »Das Beste kommt erst noch. Die wie durch ein Wunder gerettete Marie erzählte ihren Eltern von dem furchtbaren >schwarzen Onkel<. Auf der Suche nach dem Übeltäter wurde die ganze Umgebung auf den Kopf gestellt und im Eifer des Gefechts sogar der örtliche Rabbiner verhaftet, zumal der Ärmste immer in Schwarz herumlief. Aber dem Vater ließ ein merkwürdiges Detail keine Ruhe: Warum hatte der Verbrecher einen Hocker ans Fenster geschoben?«

»O Gott!« stöhnte Clarissa und faßte sich ans Herz. »Sollte etwa ...«

»Sie sind unglaublich scharfsinnig, Mademoiselle Stomp«, sagte der Kommissar auflachend. »Ja, die kleine Marie hatte ihr Brüderchen aus dem Fenster geworfen.«

»How terrible!« rief Mrs. Truffo entsetzt. »But why?«[6]

»Das Mädchen konnte es nicht ertragen, daß alles sich nur noch um den Kleinen drehte und sie ganz vergessen war. Sie dachte, wenn sie das Brüderchen aus der Welt schafft, ist sie wieder der Liebling von Mama und Papa«, erklärte Coche unbewegt. »Aber es war das erste und letzte Mal, daß Marie Sansfond ein Beweisstück hinterließ und entlarvt wurde. Das liebe Kind hatte noch nicht gelernt, Spuren zu verwischen.«

»Und was geschah mit der minderjährigen Verbrecherin?« fragte Leutnant Regnier sichtlich erschüttert. »Sie konnte doch wohl nicht vor Gericht gestellt werden?«

»Nein, vor Gericht wurde sie nicht gestellt.« Der Kommissar lächelte Clarissa verschmitzt zu. »Aber die Mutter konnte den Schicksalsschlag nicht verwinden, ihr Verstand trübte sich, und sie kam ins Irrenhaus. Monsieur Sansfond mochte sein Töchterchen, das die Familie ins Unglück gestürzt hatte, nicht mehr sehen und gab sie ins Kloster der Vinzentinerinnen, der grauen Schwestern, wo sie erzogen wurde. Sie war in allem die Erste - im Lernen, in Gott gefälligen Werken. Am liebsten aber soll sie Bücher gelesen haben. Als die Novizin siebzehn war, ereignete sich im Kloster ein höchst unangenehmer Skandal.« Coche warf einen Blick in seine Mappe und nickte. »Da hab ich’s. 17. Juli 1866. Die Barmherzigen Schwestern erhielten Besuch vom Brüsseler Erzbischof, und es geschah, daß aus dem Schlafgemach des angesehenen Prälaten der uralte erzbischöfliche Ring mit dem riesigen Amethysten verschwand, der Ludwig dem Heiligen gehört haben sollte. Am Abend zuvor hatte

Monsignore die beiden besten Novizinnen zu einer Unterredung in sein Gemach gebeten, unsere Marie und ein Mädchen aus Arles. Auf die beiden fiel natürlich der Verdacht. Die Äbtissin fand unter der Matratze der Arlesierin das Samtfutteral des Rings. Die Diebin fiel in Erstarrung, antwortete nicht auf Fragen und wurde in den Karzer gebracht. Als eine Stunde später die Polizei eintraf, konnte die Verbrecherin nicht mehr verhört werden, sie hatte sich mit der Gürtelschnur ihrer Kutte erhängt.«

»Das hat diese garstige Marie Sansfond gefingert, ich errate es!« rief Milford-Stokes. »Scheußlich, die Geschichte, scheußlich!«

»Das weiß niemand ganz genau, nur wurde der Ring nie gefunden.« Der Kommissar breitete die Arme aus. »Zwei Tage später kam Marie, in Tränen aufgelöst, zu der Äbtissin, sagte, daß alle sie scheel ansähen, und bat, sie aus dem Kloster zu entlassen. Die Mutter Äbtissin, die seltsamerweise gegen ihre Lieblingsnovizin abgekühlt war, hielt sie nicht.«

»Man hätte das Täubchen am Tor durchsuchen müssen«, sagte Dr. Truffo bedauernd. »Der Amethyst war bestimmt unter ihren Röcken versteckt.«

Als er diese Worte seiner Gattin übersetzt hatte, stieß sie ihm den spitzen Ellbogen in die Seite, denn sie hielt die Bemerkung wohl für anstößig.

»Ob man sie nicht durchsuchte oder doch, aber nichts fand, weiß ich nicht. Marie jedenfalls fuhr vom Kloster nach Antwerpen, das bekanntlich die Welthauptstadt für Edelsteine ist. Dort wurde die Ex-Nonne plötzlich reich und lebte fortan auf großem Fuß. Manchmal saß sie auch mit leeren Händen da, doch nicht lange - ihr scharfer Verstand, ihre glänzenden schauspielerischen Fähigkeiten und das gänzliche Fehlen moralischer Skrupel« (der Kommissar hob belehrend die Stimme und machte sogar eine Pause) »halfen ihr immer wieder, die Mittel für ein elegantes Leben aufzutreiben. Die Polizei von Belgien, Frankreich, England, den Vereinigten Staaten, Brasilien, Italien und einem weiteren Dutzend Länder nahm Marie Sansfond mehr als einmal fest und verdächtigte sie der verschiedensten Verbrechen, aber eine Anklage wurde ihr nie präsentiert: Mal gab es keine Anhaltspunkte, mal reichten die Indizien nicht aus. Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen ein paar Episoden aus ihrer Dienstliste. Sie langweilen sich doch nicht, Mademoiselle Stomp?«

Clarissa hielt es für unter ihrer Würde, darauf zu antworten. Aber ihr war sorgenvoll zumute.

»Das Jahr 1870«, sagte Coche nach einem weiteren Blick in seine Mappe. »Das kleine, aber reiche Städtchen Fettburg in der deutschsprachigen Schweiz. Schokoladen- und Schinkenproduktion. Auf viertausend Einwohner kommen achteinhalbtausend Schweine. Eine Region der fetten Idioten - Pardon, Madame Kleber, ich wollte Ihre Heimat nicht beleidigen«, besann sich der Kommissar verspätet.

»Macht nichts.« Madame Kleber zuckte lässig die Achseln. »Ich komme aus der französischsprachigen Schweiz. In dem Teil, wo Fettburg liegt, leben tatsächlich nur Dummköpfe. Ich glaube, ich kenne die Geschichte, sie ist lustig. Erzählen Sie nur.«

»Lustig für manch einen vielleicht.« Coche seufzte vorwurfsvoll und zwinkerte plötzlich Clarissa zu, was schon über die Hutschnur ging. »Eines Tages gerieten die ehrlichen Bürger des Städtchens in unbeschreibliche Erregung. Ein Bauer namens Möbius, der in Fettburg als Faulpelz und Tölpel galt, prahlte, er habe am Vorabend sein Land verkauft, einen schmalen Streifen steiniger Brache, und zwar an eine hochgestellte Dame, die sich Gräfin de Sansfond nenne. Für 30 Acre unfruchtbaren Bodens, auf dem nicht mal Disteln wuchsen, habe ihm die dumme Gräfin 3 000 Franken bezahlt. Aber in der Stadtverwaltung gab es Leute, die klüger waren als Möbius, und denen kam die Geschichte spanisch vor. Was wollte die Gräfin mit 30 Acre Sand und Steinen? Irgendwas stimmte da nicht. Für alle Fälle wurde ein gewiefter Mitbürger nach Zürich entsandt, und der fand heraus, daß die Gräfin de Sansfond eine bekannte Person sei. Sie führe ein fröhliches Leben in Luxus, und das Interessanteste - sie zeige sich häufig in Begleitung des Herrn Goldsilber, des Direktors der staatlichen Eisenbahngesellschaft. Wie erzählt wurde, hatte der Herr Direktor mit der Gräfin ein Techtelmechtel. Und da reimten die Bürger sich alles zusammen. Ich muß erwähnen, daß das Städtchen Fettburg seit langem von einem Eisenbahnanschluß träumte, um Schokolade und Schinken billiger ausführen zu können. Das Ödland, das die fröhliche Gräfin erworben hatte, zog sich von der nächstgelegenen Bahnstation zu dem Wald, wo das Gemeindeland anfing. Den Stadtvätern dämmerte: Die Gräfin hatte von ihrem Liebhaber erfahren, daß der Streckenbau in Vorbereitung war, und hatte den Schlüsselabschnitt gekauft, um tüchtig zu kassieren. Und da reifte in den Köpfen der Bürger ein dreister Plan. Sie entsandten zu der Gräfin eine Deputation, die Ihre Erlaucht überreden sollte, das Landstück der ruhmreichen Stadt Fettburg abzutreten. Die Schöne sträubte sich zunächst und behauptete, von dem Streckenbau nichts zu wissen, doch als der Bürgermeister andeutete, die Sache rieche nach einer Absprache zwischen Ihrer Erlaucht und Seiner Exzellenz dem Herrn Direktor, und das sei strafbar, schluchzte die schwache Frau und willigte ein. Das Ödland wurde in dreißig gleich große Grundstücke aufgeteilt und auf einer Auktion versteigert. Die Fettburger schlugen sich beinahe, und einzelne Grundstücke erzielten einen Preis von 15000. Insgesamt verdiente die Gräfin ...« Der Kommissar fuhr mit dem Finger über die Zeile. »... fast 280000 Franken.«

вернуться

6

(engl.) Wie schrecklich! Aber warum?