Madame Kleber prustete los und bedeutete Coche mit einer Geste: Ich sage nichts, erzählen Sie weiter.
»Wochen, Monate gingen ins Land, doch der Baubeginn blieb aus. Die Fettburger schickten eine Anfrage an die Regierung und erhielten die Antwort, in den nächsten fünfzehn Jahren sei für ihre Stadt kein Bahnanschluß vorgesehen. Sie liefen zur Polizei: so und so, Raub am hellichten Tag. Die Polizei hörte die Geschädigten voller Mitgefühl an, konnte aber nicht helfen, denn Madame Sansfond hatte ja selbst gesagt, daß sie von einem Bahnbau nichts wisse und ihr Land nicht abtreten wolle. Alles sei rechtmäßig und nicht anfechtbar. Nun, und daß sie sich als Gräfin ausgebe, sei natürlich nicht schön, aber leider auch nicht strafbar.«
»Schlau!« lachte Regnier. »Wirklich, nicht anfechtbar.«
»Noch etwas.« Der Kommissar blätterte in seinen Papieren. »Es gibt da eine ganz phantastische Geschichte. Schauplatz ist der amerikanische Wilde Westen im Jahr 1873. In den Goldminen Californiens traf die weltbekannte Nekromantin und Großdrakonesse des Malteserordens Miss Kleo- patra Frankenstein ein, laut Paß Marie Sansfond. Sie verkündete den Goldsuchern, die Stimme von Zarathustra habe sie in diese wilde Gegend geführt, und sie habe den Auftrag, in dem Städtchen Golden Nugget ein großes Experiment durchzuführen. Genau an diesem Längen- und Breitengrad konzentriere sich die kosmische Energie auf so einzigartige Weise, daß es möglich sei, in einer sternklaren Nacht mit Hilfe kabbalistischer Formeln Menschen, die bereits die Große Scheide zwischen dem Reich der Lebenden und dem
Reich der Toten überschritten hätten, wieder auferstehen zu lassen. Sie, Kleopatra, wolle dieses Wunder in der kommenden Nacht vollbringen, in Anwesenheit von Publikum und gänzlich gratis, denn sie sei keine Zirkuskünstlerin, sondern ein Medium der Höheren Sphären. Und was glauben Sie?« Coche machte eine wirkungsvolle Pause. »Vor den Augen von fünfhundert bärtigen Zuschauern zauberte die Drako- nesse über dem Grabhügel von Roter Coyote, einem legendären Indianerhäuptling, der vor hundert Jahren gestorben war, und plötzlich kam die Erde in Bewegung, man kann sagen, sie tat sich auf, und heraus stieg der indianische Krieger mit Federschmuck, Tomahawk und bemalter Physiognomie. Die Zuschauer erbebten, und Kleopatra, ganz im Banne der mystischen Trance, schrie gellend: >Ich fühle in mir die Kraft des Kosmos! Wo ist euer städtischer Friedhof? Gleich mache ich alle, die dort liegen, wieder lebendig!< An dieser Stelle schreibt die Zeitung, daß der Friedhof von Golden Nugget sehr groß war, weil in den Goldminen tagtäglich jemand ins Jenseits befördert wurde. Es gab dort mehr Gräber, als die Stadt Einwohner hatte. Die Goldsucher malten sich aus, was geschehen würde, wenn all die Schlagetots, Trunkenbolde und Galgenvögel ihren Gräbern entstiegen, und verfielen in Panik. Der Friedensrichter rettete die Situation. Er trat vor und fragte die Drakonesse höflich, ob sie nicht bereit sei, dieses große Experiment abzubrechen, wenn die Einwohner der Stadt ihr eine volle Tasche Goldstaub spendeten, als bescheidenes Opfer für die Bedürfnisse der okkulten Wissenschaft.«
»Na und, hat sie eingewilligt?« fragte lachend der Leutnant.
»Ja. Für zwei Taschen.«
»Und der Indianerhäuptling?« fragte Fandorin lächelnd.
Er hat ein schönes Lächeln, nur sehr jungenhaft, dachte Cla- rissa. Nein, Teuerste, schlage ihn dir aus dem Kopf. Wie man in Suffolk sagt: Lecker und rund, aber nicht für deinen Mund.
»Den Indianerhäuptling nahm Kleopatra Frankenstein mit«, antwortete Coche mit ernster Miene. »Für wissenschaftliche Untersuchungen. Er soll später in einem Bordell zu Denver im Suff erstochen worden sein.«
»Tatsächlich, eine interessante P-person, diese Marie Sans- fond«, sagte Fandorin nachdenklich. »Erzählen Sie mehr von ihr. Von diesen geschickten Gaunereien bis zum kaltblütigen Massenmord ist es noch ein g-ganzes Ende.«
»Oh, please, it’s more than enough«, protestierte Mrs. Truffo und wandte sich an ihren Mann. »My darling, it must be awfully tiresome for You to translate all this nonsense.«[7]
»Madame, es zwingt Sie ja niemand, hier zu sitzen«, antwortete der Kommissar beleidigt.
Mrs. Truffo klapperte empört mit den Augen, dachte aber nicht daran zu gehen.
»Der Herr Kosak hat recht«, sagte Coche. »Ich will mal ein etwas böseres Beispiel raussuchen.«
Madame Kleber prustete mit einem Blick auf Fandorin, und auch Clarissa konnte sich trotz ihrer Nervosität eines Lächelns nicht enthalten, so wenig ähnelte der Diplomat einem wilden Sohn der russischen Steppe.
»Also, das Negerbaby, hören Sie zu. Hier haben wir auch einen letalen Ausgang. Die Sache liegt noch nicht lange zurück, zwei Jahre.« Der Kommissar sah ein paar zusammengeklammerte Blätter durch, um seine Erinnerung aufzufrischen. Er griente. »In gewisser Hinsicht ein Meisterwerk.
Ich habe so allerhand in meiner Mappe, meine Damen und Herren.« Liebevoll klopfte er mit seiner kurzfingrigen Plebejertatze auf den schwarzen Kalikodeckel. »Der alte Coche hat sich gründlich auf die Reise vorbereitet und kein Papierchen vergessen, das ihm zupaß kommen könnte. Die Geschichte, die ich Ihnen jetzt erzähle, ist der Presse noch nicht zur Kenntnis gelangt, doch ich habe hier den Polizeibericht. Also, in einem deutschen Fürstentum (in welchem, sage ich nicht, denn es ist eine heikle Sache) wartete eine durchlauchte Sippe auf Familienzuwachs. Es wurde eine schwere Geburt. Zugegen war der angesehene Leibarzt Doktor Vogel. Endlich erfüllte ein Quäken das Schlafzimmer. Als die Großherzogin, die vor Schmerzen minutenlang das Bewußtsein verloren hatte, die Augen aufschlug und mit schwacher Stimme bat: >Ach, Herr Professor, zeigen Sie mir mein Kind<, reichte Doktor Vogel Ihrer Hoheit mit überaus verlegener Miene einen zauberhaften Schreihals von hellkaffeebrauner Farbe. Die Großherzogin verlor wieder das Bewußtsein. Der Doktor sah zur Tür hinaus und winkte mit dem Finger den Großherzog herbei, eine flagrante Verletzung der Hofetikette.«
Dem Kommissar war anzusehen, daß es ihm ein besonderes Vergnügen bereitete, den prüden »Windsors« diese Geschichte zu erzählen. In dem Polizeibericht dürften kaum solche Einzelheiten gestanden haben - Coche phantasierte also. Er lispelte, wenn er die Großherzogin zitierte, und wählte absichtlich hochtrabende Wörter, damit es komischer wirkte. Clarissa sah sich nicht als Aristokratin, aber sie verzog das Gesicht, denn den Hohn gegen adlige Persönlichkeiten empfand sie als schlechten Ton. Auch Milford-Stokes, Baronet und Sproß eines alten Geschlechts, runzelte die Stirn. Doch diese Reaktion schien den Kommissar noch mehr zu beflügeln.
»Seine Hoheit nahmen es dem Leibarzt nicht übel, denn es war ein erhebender Moment. Von seinen Gefühlen als Vater und Gatte überwältigt, stürmte der Großherzog ins Schlafzimmer ... Die nun folgende Szene können Sie sich selber ausmalen: ein soldatenmäßig fluchender Landesherr, eine Großherzogin, die bald schluchzte, bald Rechtfertigungen stammelte, bald in Ohnmacht fiel, ein lauthals brüllendes Negerbaby und der in wohligem Entsetzen erstarrte Leibmedikus. Zu guter Letzt faßten sich Seine Hoheit und beschlossen, über das Schicksal der erlauchten Gattin später zu befinden. Einstweilen galt es, die Spuren zu verwischen. Bloß wie? Den Säugling heimlich in den Abtritt werfen?« Coche hielt schelmisch die Hand vor den Mund. »Bitte um Vergebung, meine Damen, das ist mir so herausgerutscht. Sich des Säuglings zu entledigen war unmöglich - das ganze Herzogtum wartete auf die Geburt. Es wäre ja auch eine Sünde gewesen. Die Berater zusammenrufen? Gott behüte, sie würden es ausplaudern. Was tun? Und da unterbreitete Doktor Vogel, ergebenst hüstelnd, einen Vorschlag zur Rettung der Situation. Er habe eine Bekannte, Fräulein von Sansfond, die Wunder vollbringe und nicht nur einen neugeborenen weißhäutigen Säugling beschaffen, sondern sogar einen Phönix vom Himmel holen könne. Sie verstehe zu schweigen, Geld für ihre Gefälligkeit werde sie als adliges Fräulein natürlich nicht nehmen, aber sie liebe altertümliche Kostbarkeiten . Kurz und gut, ein paar Stunden später ruhte in der Atlaswiege ein prächtiges Jungchen, heller als ein Milchferkel und sogar mit weißblondem Haar, und das arme Negerbaby war in unbekannter Richtung aus dem Palast getragen worden. Im übrigen hatte man der Großherzogin versichert, das unschuldige Kind werde in südliche Gefilde gebracht und dort von guten Menschen aufgezogen.
7
(engl.) Bitte, es ist mehr als genug. Liebling, es muß schrecklich ermüdend für dich sein, all diesen Unsinn zu übersetzen.