Der Kommissar rudert in einem Boot mit Madame Coche im Bois de Boulogne. Die liebe Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Plötzlich glotzt über die Baumwipfel hinweg eine gigantische goldschimmernde Visage mit sinnleeren runden Augen, sperrt den Rachen auf, in dem der Arc de Triomphe Platz fände, und fängt an, den Teich leerzusaugen. Coche legt sich schweißüberströmt in die Riemen. Nun stellt sich heraus, daß sich das Ganze nicht im Bois abspielt, sondern in einem uferlosen Ozean. Die Riemen biegen sich wie Strohhalme, Madame Coche stößt ihm schmerzhaft den Schirm in den Rücken, und das gewaltige funkelnde Ungeheuer verdeckt den Horizont. Schließlich spuckt es eine Fontäne in den Himmel, da erwachte der Kommissar und tastete mit flatternder Hand auf dem Nachttisch nach der Pfeife und den Zündhölzern.
Zum erstenmal hatte Coche den goldenen Wal in der Rue de Grenelle gesehen, als er die Leiche von Lord Littleby untersuchte. Der Engländer lag da, den Mund in einem stummen Schrei aufgerissen, die Zahnprothese war halb herausgerutscht, der Kopf oberhalb der Stirn war ein blutiger Brei. Coche hockte sich hin, denn ihn deuchte, daß zwischen den Fingern des Toten etwas golden blinkte, und als er sah, was es war, brummte er vor Vergnügen. Ganz von selbst war ihm ein höchst seltener Erfolg zugefallen, wie er nur in Kriminalromanen vorkommt. Der Leichnam hatte ihm gescheiterweise ein wichtiges Beweisstück zugespielt. Da, Gustave, nimm. Und wage es nicht, den Mann entkommen zu lassen, der mir die Rübe zertrümmert hat, sonst sollst du platzen vor Scham, du alter Krauter.
Das goldene Abzeichen (Coche hatte zunächst nicht gewußt, daß es ein solches war, er hatte es für eine Berlocke oder eine Anstecknadel mit dem Monogramm des Besitzers gehalten) konnte nur dem Mörder gehören. Für alle Fälle zeigte der Kommissar den Wal Lord Littlebys jüngstem Lakaien (der hatte zu seinem Glück am 15. März frei gehabt, was ihm das Leben rettete), aber der hatte das Dingelchen nie beim Lord gesehen. Gott sei Dank.
Und dann rotierten die Schwungräder, drehten sich die Zahnräder der ungefügen Polizeimaschine - der Minister und der Präfekt setzten für die Aufklärung des »Jahrhundertverbrechens« ihre besten Kräfte ein. Schon am Abend des nächsten Tages wußte Coche, daß die Buchstaben JAP auf dem goldenen Wal nicht die Initialen eines hochverschuldeten Lebemanns waren, sondern die Bezeichnung eines soeben erst gegründeten britisch-französischen Schifffahrtkonsortiums. Der Wal war das Emblem des Wunderschiffs »Leviathan«, das vor kurzem in Bristol vom Stapel gelaufen war und auf seine Jungfernfahrt nach Indien vorbereitet wurde.
Über den gigantischen Dampfer posaunten die Gazetten seit Monaten. Jetzt stellte sich heraus, daß der Londoner Münzhof vor der Jungfernfahrt goldene und silberne Gedenkabzeichen geprägt hatte: goldene für die Passagiere der ersten Klasse und die höheren Schiffsoffiziere, silberne für die Passagiere der zweiten Klasse und die Subalternoffiziere. Eine dritte Klasse war für den Luxusliner, auf dem sich die Errungenschaften moderner Technik mit unerhörtem Komfort paarten, nicht vorgesehen. Die Company garantierte den Reisenden vollständigen Service, so daß niemand Bedienstete aufs Schiff mitzunehmen brauchte. »Aufmerksame Diener und taktvolle Kabinenstewardessen sorgen dafür, daß Sie sich an Bord der >Leviathan< wie zu Hause fühlen!« - so lautete die Reklame in den Zeitungen von ganz Europa. Die Glücklichen, die für die Jungfernfahrt von Southhampton nach Kalkutta eine Kabine gebucht hatten, bekamen mit dem Ticket je nach Klasse den goldenen oder silbernen Wal überreicht. Und ein Ticket buchen konnte man in jedem großen europäischen Hafen von London bis Konstantinopel.
Nun ja, die Initialen des Eigentümers wären besser als das Abzeichen, aber es erschwert mir die Aufgabe nicht allzusehr, dachte der Kommissar. Die goldenen Abzeichen waren gezählt. Er mußte nur den 19. März abwarten, an dem das Schiff feierlich auslaufen sollte, nach Southhampton fahren, an Bord gehen und prüfen, welcher der Erste-KlassePassagiere keinen goldenen Wal trug. Oder (was noch wahrscheinlicher war) welcher von denen, die für so irres Geld das Ticket gekauft hatten, nicht an Bord kam. Das würde Coches Mann sein. Das war klar wie Kloßbrühe.
Coche machte sich eigentlich nichts aus Reisen, aber diesmal konnte er es kaum erwarten. Gar zu gern wollte er selbst das »Verbrechen des Jahrhunderts« aufklären. Vielleicht wurde er dann endlich Abteilungsleiter. Bis zu seiner Pensionierung waren es noch drei Jahre. Eine Pension dritter Kategorie war ja ganz schön, doch die zweite Kategorie war ganz was anderes. Der Unterschied betrug anderthalbtausend Francs jährlich, und anderthalbtausend lagen nicht auf der Straße.
Im übrigen hatte er sich selbst um die Reise beworben. Er hatte gedacht, eine Fahrt nach Southhampton, schlimmstenfalls per Schiff nach Le Havre, wo das erstemal angelegt wurde, und da würden schon die Gendarmen auf der Landungsbrücke warten - und die Reporter. Schlagzeile in der »Revue Parisienne«: »Das Verbrechen des Jahrhunderts ist aufgeklärt, unsere Polizei auf der Höhe ihrer Aufgaben.« Oder noch besser: »Der alte Spürhund Coche hat uns nicht enttäuscht.«
Die erste unangenehme Überraschung erwartete den Kommissar im Seefahrtsbüro von Southhampton. Er erfuhr, daß das verdammte Riesenschiff hundert Kabinen erster Klasse und zehn höhere Offiziere hatte. Alle Tickets waren verkauft. Hundertzweiunddreißig Stück. Und jedem war ein goldenes Abzeichen beigegeben worden. Also hundertzweiundvierzig Verdächtige, nicht schlecht, was? Aber nur bei einem würde das Abzeichen fehlen, beruhigte sich Coche.
Am Morgen des 19. März stand der Kommissar, vom nassen Wind geplustert und in einen warmen Schal gewickelt, an der Schiffstreppe. Neben ihm standen der Kapitän, Mister Jesaja Cliff, und der Erste Offizier Charles Regnier. Sie empfingen die Passagiere. Ein Blasorchester spielte abwechselnd englische und französische Märsche, auf der Pier lärmte aufgeregt die Menge. Coche schnaufte immer wütender und kaute auf der unschuldigen Pfeife herum, denn wegen des kalten Wetters trugen die Passagiere Regencapes, Mäntel und
Umhänge, da versuche mal, herauszufinden, ob einer das Abzeichen hatte oder nicht. Das war Überraschung Nummer zwei.
Alle, die in Southhampton an Bord kommen sollten, waren erschienen, und das bedeutete, daß der Verbrecher trotz des verlorenen Abzeichens auch schon da war. Er mußte die Polizisten für komplette Idioten halten. Oder hoffte er, in der Menge der Passagiere unterzutauchen? Oder hatte er keinen anderen Ausweg?
Eines war klar: Coche mußte mitschippern bis Le Havre. Man wies ihm eine Reservekabine zu, die eigentlich für Ehrengäste der Dampfschiffahrt vorgesehen war.
Gleich nach dem Ablegen fand im großen Saal der ersten Klasse ein Bankett stand, auf das der Kommissar besondere Hoffnungen setzte, weil in den Einladungen gestanden hatte: »Eintritt bei Vorlage des goldenen Abzeichens oder des Tickets erster Klasse.« Wer würde schon mit dem Ticket in der Hand kommen, wo es doch viel einfacher war, den schönen goldenen Wal anzustecken.
Während des Banketts tastete Coche ungeniert jeden Gast mit dem Blick ab. Bei einigen Damen mußte er die Nase ins Decollete stecken. Was hing da am Goldkettchen, der Wal oder nur ein Edelstein? Das mußte er doch prüfen!
Alle tranken Champagner, nahmen sich Leckerbissen von den Silbertabletts und tanzten, Coche hingegen arbeitete: Er strich diejenigen aus der Liste, die das Abzeichen trugen. Die meisten Scherereien hatte er mit den Männern. Viele von ihnen hatten den Wal an der Uhrkette befestigt und in die Westentasche gesteckt. Der Kommissar mußte elfmal nach der Uhrzeit fragen.
Überraschung Nummer drei: Alle Offiziere trugen das Abzeichen, doch vier Passagiere hatten keinen Wal, davon zwei Damen! Der Schlag aber, der Lord Littlebys Schädel zertrümmert hatte wie eine Nußschale, war so stark gewesen, daß nur ein Mann ihn geführt haben konnte, und zwar ein sehr kräftiger. Andererseits wußte der in Kriminalfällen überaus erfahrene Kommissar, daß auch ein schwaches Dämchen im Affekt oder in hysterischer Erregung wahre Wunder vollbringen kann. Ein Beispiel war zur Hand. Vor Jahresfrist hatte eine Modistin aus Neuilly, eine zarte Person, ihren ungetreuen Liebhaber aus ihrem Fenster im dritten Stock geworfen, einen wohlgenährten Rentier, doppelt so dick und anderthalbmal so groß wie sie selbst. Darum durfte Coche die Frauen ohne Abzeichen nicht aus der Zahl der Verdächtigen ausschließen. Aber wo hätte man je gesehen, daß eine Dame der Gesellschaft so routiniert Injektionen verabreichen konnte?