An dieser Stelle brach die Erzählung ab, denn Mr. Fandorin hatte wieder gewonnen, und auch die zweite Bank fiel nicht an
das Geburtstagskind. Gleich darauf saß Mrs. Truffo allein am Tisch, die anderen waren wie vom Wind weggeblasen.
Ich denke dauernd über das Märchen von Mr. Fandorin nach. Es ist nicht so einfach, wie es scheint.
Sweetchild ist der dritte Kaufmann. Als ich das Märchen zu Ende gehört hatte, kam mir die Erleuchtung! Ja, er ist ein gefährlicher Wahnsinniger. In ihm brodelt eine unbezähmbare Leidenschaft - als ob ich nicht wüßte, was das ist. Nicht umsonst folge ich ihm seit Aden wie ein unsichtbarer Schatten.
Ich schrieb Ihnen schon, liebste Emily, daß ich die Liegezeit im Hafen ausgiebig genutzt habe. Sie glauben gewiß, ich meinte damit den Erwerb eines neuen Navigationsgeräts. Ja, ich habe einen neuen Sextanten, und ich kontrolliere wieder regelmäßig den Kurs des Schiffes, aber hier geht es um etwas anderes. Ich hatte einfach Furcht, mein Geheimnis dem Papier anzuvertrauen. Womöglich liest es jemand, ich bin ja rings von Feinden umgeben. Aber mein Verstand ist wendig, und ich habe mir einen feinen Kniff ausgedacht: Ab heute schreibe ich mit Milch. Wenn ein Fremder das Papier zur Hand nimmt, wird er nichts erkennen, doch meine Emily ist schlau und wird die Blätter überm Lampenschirm erwärmen, dann werden die Zeilen sichtbar. Ein vortrefflicher Einfall, was?
Also, Aden. Noch auf dem Schiff, solange wir nicht an Land durften, fiel mir auf, daß Sweetchild nervös war, ja, er hüpfte vor Erregung. Das hatte schon angefangen, als Fandorin erklärt hatte, das gestohlene Tuch von Lord Littleby sei der Schlüssel zu den mythischen Schätzen des Smaragdenen Radschas. Nun fieberte der Professor dem Landgang entgegen, er murmelte immer wieder vor sich hin: »Ach, schnell an Land.« Fragt sich, wozu?
Das wollte ich herausfinden.
Ich zog meinen breitkrempigen schwarzen Hut über die
Augen und folgte Sweetchild. Zunächst lief alles gut - er drehte sich kein einziges Mal um, und ich ging ihm ungehindert nach bis zu dem Platz hinter der Zollbude. Aber hier gab es eine unangenehme Überraschung: Sweetchild rief eine Droschke und rollte in unbekannter Richtung davon. Die Droschke fuhr recht langsam, aber ich konnte ihr ja nicht gut hinterherlaufen - wie hätte das ausgesehen? Natürlich warteten auf dem Platz weitere Fahrzeuge, ich hätte eines davon besteigen können, doch Sie kennen meine unüberwindliche Abneigung gegen offene Equipagen, Emily. Sie sind eine Erfindung des Teufels und werden nur von hirnlosen Draufgängern genutzt. Unter denen gibt es sogar solche - ich habe es mehr als einmal mit eigenen Augen gesehen -, die ihre Frau und ihre unschuldigen Kinder mitfahrenlassen. Wie leicht geschieht ein Unglück! Besonders gefährlich sind die bei uns in Britannien so populären zweirädrigen Wagen. Jemand hat mir erzählt (habe vergessen, wer), wie ein junger Mann aus angesehener Familie in einem zweirädrigen Wagen mit seiner jungen Frau, die noch dazu im achten Monat schwanger war, eine Spazierfahrt unternahm. Natürlich fand das ein böses Ende: Der Taugenichts kam mit den Pferden nicht zurecht, sie gingen durch, und der Wagen schlug um. Dem jungen Mann passierte nichts, bei seiner Frau aber setzten vorzeitige Wehen ein. Weder sie noch das Kind konnte gerettet werden. Und alles aus Unbedachtheit. Wären sie lieber zu Fuß gegangen. Oder Boot gefahren. Zur Not kann man auch die Eisenbahn nehmen, ein Einzelabteil. In Venedig benutzen sie Gondeln. Wir beide waren dort, erinnern Sie sich? Wissen Sie noch, wie das Wasser an den Stufen zum Hotel leckte?
Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, ich schweife immer wieder ab. Also, Sweetchild fuhr mit einer Droschke weg, und ich blieb beim Zoll zurück. Denken Sie, ich hätte aufgegeben? Keineswegs. Während ich auf Sweetchild wartete, betrat ich einen Laden für Marinebedarf und kaufte einen neuen Sextanten, der besser ist als der gestohlene, sowie ein ausgezeichnetes Nachschlagewerk über Seefahrt, mit astronomischen Formeln. Jetzt kann ich die jeweilige Position des Schiffes schneller und genauer bestimmen und bin nicht mehr hinters Licht zu führen.
Ich wartete sechs Stunden und achtunddreißig Minuten. Saß auf einer Bank. Blickte aufs Meer. Dachte an Sie.
Als Sweetchild zurückkehrte, stellte ich mich schlafend. Er huschte vorbei, überzeugt, daß ich ihn nicht gesehen hätte.
Kaum war er hinter der Ecke der Zollbude verschwunden, lief ich zu seinem Kutscher. Für einen Sixpence erzählte mir der Bengale, wohin unser lieber Professor gefahren war. Sie müssen zugeben, liebe Emily, daß ich mich bei dieser Geschichte geschickt angestellt habe.
Diese Information bestärkte mich in meinem anfänglichen Verdacht. Sweetchild hatte sich vom Hafen direkt zum Telegraphenamt bringen lassen. Dort blieb er eine halbe Stunde, später kehrte er noch viermal dorthin zurück. Der Kutscher sagte: »Sahib sehr-sehr aufgeregt. Immer hin und her. Mal befehlen: Bring auf Basar, dann an Rücken klopfen: Bring auf Post, los-los.« Mir wurde klar, daß Sweetchild zuerst eine Depesche abgeschickt und dann ungeduldig auf Antwort gewartet hatte. Nach den Worten des Bengalen war er das letztemal ganz verändert herausgekommen, hatte ein Papier geschwenkt und sich zum Schiff bringen lassen. Also mußte er die Antwort bekommen haben.
Was darin steht, weiß ich nicht, doch es liegt auf der Hand, daß der Professor, oder was immer er ist, Komplizen hat.
Das war vorvorgestern. Seitdem ist Sweetchild wie ausgewechselt. Wie ich schon schrieb, redet er nur noch von Edelsteinen. Manchmal setzt er sich plötzlich irgendwo an Deck hin und zeichnet etwas, mal auf seine Manschette, mal auf sein Taschentuch.