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Am Abend fand im Grand Salon ein Ball statt. Ich habe Ihnen schon den majestätischen Saal geschildert, der aus Versailles oder dem Buckingham Palace hergeholt scheint. Überall Vergoldungen, die Wände bestehen aus Spiegeln, die elektrischen Kristallüster klirren melodisch im Takt des Wellengangs. Das Orchester (übrigens ganz ordentlich) spielte hauptsächlich Wiener Walzer, ein Tanz, den ich, wie Sie wissen, unanständig finde, darum stand ich in einer Ecke und beobachtete Sweetchild. Der amüsierte sich tüchtig, forderte eine Dame nach der anderen auf, galoppierte wie ein Ziegenbock und trat ihnen gnadenlos auf die Füße, was ihn aber nicht im geringsten beirrte. Mich lenkte ein wenig die Erinnerung ab, wie wir beide tanzten und wie graziös Ihre Hand im weißen Handschuh auf meiner Schulter lag. Plötzlich sah ich, wie Sweetchild zusammenzuckte, seine Dame beinahe fallenließ und, ohne sich zu entschuldigen, fast im Laufschritt zu den Tischen mit dem Imbiß eilte. Seine Dame blieb wie versteinert mitten im Saal stehen. Der unbändige Hungeranfall kam auch mir sonderbar vor.

Aber Sweetchild würdigte die Schüsseln mit Kuchen, Käse und Früchten keines Blicks. Er griff sich aus dem silbernen Serviettenhalter eine Papierserviette und begann, darüber gebeugt, eifrig etwas zu krakeln. Er war ganz außer sich, hielt es inmitten der Menge nicht für nötig, Vorsicht walten zu lassen! Vor Neugier brennend, bewegte ich mich lässigen Ganges zu ihm hin. Aber Sweetchild richtete sich auf und faltete die Serviette zweimal, wohl um sie in die Tasche zu stecken. Schade, ich hatte ihm nicht über die Schulter schauen können. Wütend stampfte ich mit dem Fuß auf und wollte eben umkehren, da sah ich Mr. Fandorin mit zwei Gläsern Champagner auf den Tisch zu kommen. Ein Glas reichte er Sweetchild, das andere behielt er. Ich hörte, wie der Russe sagte: »Ach, lieber Professor, was sind Sie doch zerstreut! Eben haben Sie eine schmutzige Serviette in die Tasche gesteckt.« Sweetchild holte verlegen die Serviette hervor, zerknüllte sie und warf sie unter den Tisch. Ich trat zu den beiden und brachte das Gespräch auf die Mode, denn ich wußte, daß der Indologe bald gelangweilt gehen würde. So kam es auch.

Kaum hatte er uns mit einer Entschuldigung verlassen, flüsterte Mr. Fandorin mit Verschwörermiene: »Na, Sir Reginald, wer von uns kriecht unter den Tisch?« Da ging mir auf, daß das Verhalten des Professors nicht nur mir, sondern auch dem Diplomaten verdächtig vorkam. Zwischen uns entstand blitzschnell ein völliges Einvernehmen. »Ja, das ist nicht ganz schicklich«, antwortete ich. Mr. Fandorin blickte nach rechts und links und schlug vor: »Machen wir’s so: Einer denkt sich einen anständigen Vorwand aus, und der andere kriecht unter den Tisch.« Ich nickte und dachte nach, doch mir fiel nichts Passendes ein. »Heureka«, flüsterte mein Partner und öffnete mit einer schnellen Bewegung einen meiner goldenen Manschettenknöpfe, der fiel zu Boden, und der Diplomat stieß ihn mit der Schuhspitze unter den Tisch. »Sir Reginald«, sagte er laut, damit die Umstehenden es hörten. »Ich glaube, Sie haben einen Manschettenknopf verloren.«

Abgemacht ist abgemacht. Ich hockte mich hin und blickte unter den Tisch. Die Serviette lag ganz nahe, doch der verdammte Knopf war bis an die Wand gekullert, und der Tisch war ziemlich breit. Stellen Sie sich folgendes Bild vor: Ihr Ehemann kriecht auf allen vieren unter dem Tisch herum und kehrt dem Saal nicht gerade seine imposanteste Seite zu. Auf dem Rückweg gab es einen kleinen Zwischenfall. Als ich unter dem Tisch hervorschaute, sah ich direkt vor mir zwei junge Damen, die sich lebhaft mit Mr. Fandorin unterhielten. Als sie meinen rothaarigen Kopf in Höhe ihrer Knie erblickten, kreischten sie erschrocken auf, doch mein tückischer Partner sprach ungerührt: »»Darf ich vorstellen - der Baronet Milford-Stokes.« Die Damen guckten mich von oben herab kühl an und entfernten sich wortlos. Ich sprang auf und rief vor Wut kochend: »Sir, Sie haben die Damen mit Absicht hier festgehalten, um mich zum Gespött zu machen!« Fandorin antwortete mit unschuldiger Miene: »Ich habe sie in der Tat hier festgehalten, aber nicht, um Sie zum Gespött zu machen, Sir. Mir war nur die Idee gekommen, daß die beiden mit ihren weiten Röcken Ihr riskantes Unternehmen verdecken könnten. Aber wo ist denn nun das Beutestück?«

Ich entfaltete die Serviette mit vor Erregung zitternden Händen, und wir erblickten etwas Seltsames. Ich zeichne es aus der Erinnerung auf:

Was sind das für geometrische Figuren? Was bedeutet die Zickzacklinie? Was hat »Palace« damit zu tun? Und wozu die drei Ausrufungszeichen?

Ich sah Fandorin verstohlen an. Er zupfte mit zwei Fingern an seinem Ohrläppchen und murmelte etwas Unverständliches. Ich vermute, auf russisch.

»Was halten Sie davon?« fragte ich.

»Abwarten«, antwortete der Diplomat mit rätselhafter Miene. »»Er ist seinem Ziel nahe.«

Wer ist nahe? Sweetchild? Welchem Ziel? Und ist es gut, daß er ihm nahe ist?

Aber ich kam nicht dazu, alle diese Fragen zu stellen, denn im Saal setzte gewaltiger Applaus ein. Monsieur Drieux, der für die Betreuung der Passagiere zuständig ist, schrie ohrenbetäubend in den Trichter: »Also, Mesdames et Messieurs, der Grand Prix unserer Tombola geht an die Kabine Nummer achtzehn!« Bislang hatte mich die geheimnisvolle Serviette so in Anspruch genommen, daß ich nicht auf das Geschehen im Saal achtete. Dort hatte das Tanzen längst aufgehört, und es lief die Ziehung der Wohltätigkeitslotterie zugunsten gefallener Mädchen (ich schrieb Ihnen am 3. April von dieser blöden Idee). Meine Einstellung zur Wohltätigkeit und zu gefallenen Mädchen ist Ihnen bekannt, darum enthalte ich mich eines Kommentars.

Die feierliche Verkündung wirkte sonderbar auf meinen Gesprächspartner - er verzerrte leidend das Gesicht und zog den Kopf zwischen die Schultern. Im ersten Moment wunderte ich mich, doch dann fiel mir ein, daß die Kabine Nr. 18 Mr. Fan- dorin gehörte. Stellen Sie sich vor, das Glückslos war auf ihn gefallen!

»Das ist ja unerträglich«, murmelte der Auserwählte Fortu- nas und stotterte stärker als sonst. »Ich werde ein wenig Spazierengehen.« Er wollte zur Tür retirieren, aber Mrs. Kleber rief schallend: »Das ist Monsieur Fandorin aus unserm Salon! Da ist er, meine Herrschaften! Im weißen Smoking mit roter Nelke! Monsieur Fandorin, wo wollen Sie hin? Sie haben den Grand Prix gewonnen!«

Alle wandten sich dem Diplomaten zu und applaudierten noch heftiger. Vier Stewards trugen den Hauptpreis in den Saaclass="underline" eine unglaublich häßliche Standuhr, die Big Ben nachbildete. Es war ein wahrhaft angsteinflößendes Gerät aus geschnitztem Eichenholz, anderthalb Mann hoch und mindestens vier Stones schwer. Ich sah in Mr. Fandorins Augen etwas wie Grauen, und ich kann ihn dafür nicht verurteilen.

Ein weiteres Gespräch war unmöglich, und ich kehrte in meine Kabine zurück, um diesen Brief zu schreiben.

Ich fühle gefährliche Ereignisse heranreifen, die Schlinge zieht sich um mich zusammen. Aber machen Sie sich keine Hoffnungen, meine Herren Verfolger, so einfach kriegen Sie mich nicht!

Es ist schon spät, Zeit, die Koordinaten zu messen.

Auf Wiedersehen, liebe, zärtliche, unendlich vergötterte Emily.

In heißer Liebe Ihr Reginald Milford-Stokes

RENATE KLEBER

Renate paßte Schnauzer (so nannte sie den alten Coche, seit sie wußte, was für einer er war) vor seiner Kabine ab. Nach der zerknitterten Visage und den zerrauften grauen Haaren des Kommissars zu urteilen, war er eben erst aufgestanden - er hatte sich wohl gleich nach dem Mittagessen hingelegt und bis zum Abend gegrunzt.