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Die Antwort kam prompt, nach zweieinhalb Stunden. Ja, er war eingereist, der Gute, sogar zweimal. Das erstemal im Sommer 1876 (na schön) und das zweitemal im Dezember 1877, also vor drei Monaten. Er war aus London gekommen und von der Paß- und Zollkontrolle in Pas de Calais registriert worden. Wie lange er sich in Frankreich aufgehalten hatte, war nicht bekannt. Durchaus möglich, daß er am 15. März noch in Paris gewesen war. Womöglich hatte er mit einer Spritze in der Hand in der Rue de Grenelle vorbeigeschaut?

Es mußte somit ein Platz bei Tisch frei gemacht werden. Am besten wäre es natürlich, sich der Arztgattin zu entledigen, aber ein Anschlag auf das geheiligte Institut der Ehe kam nicht in Betracht. Nach einigem Überlegen entschloß sich Coche, den Teehändler in einen anderen Salon umzusetzen, da er den theoretischen Hoffnungen nicht entsprach und kein aussichtsreicher Kandidat war. Das sollte der Steward erledigen: Es gebe da ein Plätzchen in einem anderen Salon mit honorigeren Herrschaften oder hübscheren Dämchen. Dazu war der Steward schließlich da, solche Dinge zu arrangieren.

Das Erscheinen des neuen Passagiers im Salon kam einer kleinen Sensation gleich, denn während der Reise waren alle schon einander recht überdrüssig geworden, und nun zeigte sich ein frischer Herr, noch dazu ein so imposanter. Nach dem armen Monsieur Boileau, Vertreter einer Zwischenstufe der Evolution, fragte niemand. Der Kommissar vermerkte, daß die alte Jungfer Clarissa Stomp am lebhaftesten reagierte - sie kam plötzlich auf Künstler, Theater und Literatur zu sprechen. Coche selbst setzte sich in seiner Freizeit gern mit einem Buch in seinen Sessel, wobei er allen anderen Autoren Victor Hugo vorzog, der war lebensecht und erhaben und anrührend. Und nach der Lektüre schlief man bestens. Aber von den russischen Autoren mit den zischelnden Namen hatte Coche natürlich nie gehört, da konnte er nicht mitreden. Allerdings mühte sich die englische Schrulle vergebens, Monsieur Fandorin war viel zu jung für sie.

Renate Kleber blieb ebenfalls nicht untätig, sie unternahm den Versuch, den Neuling in die Zahl der ihr dienstbaren Männer einzureihen, die sie gnadenlos scheuchte, ihr mal den Schirm, mal den Schal, mal ein Glas Wasser zu holen. Schon fünf Minuten nach Beginn des Abendessens weihte sie den Russen in alle Peripetien ihres delikaten Zustands ein, klagte über Migräne und bat Fandorin, Doktor Truffo zu holen, der sich heute verspätete. Aber der Diplomat schien sogleich erkannt zu haben, mit wem er es zu tun hatte, denn er wandte höflich ein, daß er den Doktor nicht von Angesicht kenne. Den Auftrag auszuführen beeilte sich

Leutnant Regnier, die ergebenste Kinderfrau der schwangeren Bankiersgattin.

Der erste Eindruck von Erast Fandorin sah so aus: wortkarg, zurückhaltend, höflich. Für Coches Geschmack war er gar zu geschniegelt. Der gestärkte Kragen stand wie aus Alabaster, in dem seidenen Halstuch steckte eine Perlnadel, und im Knopfloch des Revers prangte (ach du Donner) eine blutrote Nelke. Das Haar war sorgfältig gescheitelt und gekämmt, die Fingernägel waren gepflegt, und der schmale schwarze Schnurrbart sah aus wie mit Kohlestift gezeichnet.

Aus dem Schnurrbart eines Mannes lassen sich viele Schlüsse ziehen. Wenn er so aussieht wie bei Coche - walroßartig, an den Mundwinkeln herabhängend -, ist der Mann gescheit, kennt seinen Wert, ist kein Leichtfuß, mit Talmi nicht zu ködern. Ist er aufwärts gezwirbelt, noch dazu spitz auslaufend, dann ist sein Träger ein Schürzenjäger und Bonvivant. Geht er in den Backenbart über, so ist sein Besitzer ehrgeizig und träumt davon, General, Senator oder Bankier zu werden. Nun, und ein Schnurrbart wie der Fandorins deutet auf eine romantische Vorstellung von der eigenen Person.

Was ließ sich noch sagen über den Russen? Sein Französisch war ganz ordentlich. Ein charakteristisches Detail - er stotterte leicht. Das Abzeichen trug er wieder nicht. Am meisten interessierte er sich für den Japaner, dem er lauter langweilige Fragen über Japan stellte, aber der Samurai antwortete vorsichtig, als argwöhne er eine Falle. Der Neuling hatte nämlich der Gesellschaft nicht erklärt, wohin er reiste und weswegen, er hatte einfach seinen Namen genannt und gesagt, daß er Russe sei. Der Kommissar hatte Verständnis für die Wißbegier Fandorins, der ja auf dem Weg nach Japan war. Coche stellte sich vor, daß dort alle so aussahen wie

Monsieur Aono, alle in Puppenhäuschen mit geschwungenen Dächern wohnten und sich aus kleinstem Anlaß den Bauch aufschlitzten. Tja, zu beneiden war der Russe nicht.

Nach dem Abendessen setzte sich Fandorin abseits, um eine Zigarre zu rauchen. Der Kommissar nahm im Nebensessel Platz und paffte seine Pfeife. Er hatte sich zuvor dem Russen als Pariser Rentier vorgestellt, der aus Neugier den Orient bereise (diese Legende hatte er sich zurechtgelegt). Jetzt tastete er sich an die eigentliche Sache heran, aber von weit her, sehr behutsam. Er spielte mit dem goldenen Wal an seinem Revers (den er aus der Rue de Grenelle hatte) und sagte wie beiläufig, um eine Unterhaltung anzuknüpfen: »Hübsches Ding, finden Sie nicht?«

Fandorin warf einen Blick auf das Revers und sagte nichts.

»Reines Gold. Schick!« lobte Coche.

Wieder erwartungsvolles Schweigen, doch durchaus höflich. Der Mann wartete einfach, was folgen würde. Die hellblauen Augen blickten aufmerksam. Der Diplomat hatte eine schöne Pfirsichhaut, rosa überhaucht wie bei einem jungen Mädchen. Aber ein Muttersöhnchen war er nicht, das war gleich zu erkennen.

Der Kommissar wechselte die Taktik.

»Sie sind viel auf Reisen?«

Indifferentes Achselzucken.

»Sie sind doch wohl im diplomatischen Dienst?«

Fandorin neigte höflich das Haupt, zog eine lange Zigarre aus der Tasche und schnitt mit einer kleinen silbernen Schere die Spitze ab.

»Waren Sie schon in Frankreich?«

Wieder ein bejahendes Neigen des Hauptes. Ein spannender Gesprächspartner ist der Russe nicht, dachte Coche, aber er gab nicht auf.

»Ich liebe Paris ganz besonders im Frühjahr, im März«, sagte er träumerisch. »Das ist die schönste Jahreszeit.«

Er sah sein Visavis scharf an - was würde der Mann sagen?

Fandorin nickte zweimal. Es war ungewiß, ob er nur zur Kenntnis nahm oder beipflichtete. Coche spürte Gereiztheit und runzelte feindselig die Stirn.

»Sie mögen das Abzeichen also nicht?«

Die Pfeife zischte und erlosch.

Der Russe holte kurz Luft, griff mit zwei Fingern in die Westentasche, holte den goldenen Wal heraus und geruhte nun endlich den Mund aufzumachen.

»Ich sehe, mein Herr, Sie interessieren sich für mein A-abzeichen. Hier ist es, bittesehr. Ich trage es nicht, weil ich nicht wie ein Hausmeister mit Blechmarke aussehen möchte, auch wenn sie aus Gold ist. Erstens. Wie ein Rentier wirken Sie nicht, Monsieur Coche, Ihr Blick flitzt zu sehr herum. Und warum sollte ein Pariser Rentier ständig eine amtliche Mappe mit sich herumtragen? Zweitens. Wenn Sie über die Art meiner Beschäftigung Bescheid wissen, müssen Sie Z-zugang zu den Reedereiunterlagen haben. Ich vermute, Sie sind ein Detektiv. Drittens. Und jetzt viertens: Wenn Sie etwas von mir wissen wollen, reden Sie nicht um den heißen Brei herum, sondern kommen Sie zur Sache.«

Mit solch einem sollte man nun reden!

Coche mußte sich herauswinden. Vertraulich raunte er dem überaus scharfsinnigen Diplomaten zu, er sei Schiffsdetektiv und habe über die Sicherheit der Passagiere zu wachen - doch diskret und möglichst taktvoll, um die Gefühle des erlesenen Publikums nicht zu verletzen. Ob Fandorin ihm glaubte, stand dahin, doch der fragte nicht weiter.

Jedes Schlechte hat auch sein Gutes. Der Kommissar hatte wenn nicht einen Gleichgesinnten, so doch einen Gesprächspartner gewonnen, der überdies eine erstaunliche Beobachtungsgabe besaß und in der Kriminologie bestens Bescheid wußte.