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Fortan saßen sie recht oft selbzweit an Deck, blickten auf das sanft abfallende Kanalufer, rauchten (Coche seine Pfeife, der Russe Zigarre) und plauderten über interessante Themen. Zum Beispiel über moderne Methoden zur Identifizierung und Entlarvung von Verbrechern.

»Die Pariser Polizei arbeitet nach dem letzten Stand der Wissenschaft«, prahlte Coche einmal. »Die Präfektur hat einen speziellen >service d’identification<, den ein junges Genie leitet - Alphonse Bertillon. Er hat ein ganzes System der Registrierung verbrecherischer Elemente entwickelt.«

»Ich habe Doktor Bertillon während meines letzten Aufenthalts in P-paris mehrmals getroffen«, sagte Fandorin überraschend. »Er hat mir von seiner anthropometrischen Methode erzählt. Die Bertillonage ist eine sehr scharfsinnige Theorie. Haben Sie sie schon in der Praxis a-angewendet? Mit welchen Resultaten?«

»Einstweilen gibt es keine.« Der Kommissar zuckte die Achseln. »Zunächst müssen sämtliche Rückfalltäter der Ber- tillonage unterzogen werden, und das dauert Jahre. In Ber- tillons Abteilung herrscht ein richtiges Chaos: Die Arrestanten werden in Ketten hereingeführt, dann werden sie von allen Seiten gemessen wie Pferde auf dem Jahrmarkt, und ihre Maße werden auf Karteikarten festgehalten. Dafür wird die Polizei bald viel besser arbeiten können. Mal angenommen, man findet am Ort eines Einbruchs einen Abdruck der linken Hand. Man mißt ihn und guckt in die Kartothek. Aha, Mittelfinger 89 Millimeter lang, zu suchen in Gruppe Nr. 3. Dort sind siebzehn Einbrecher mit entsprechender Fingerlänge registriert. Das Weitere ist ein

Kinderspieclass="underline" überprüfen, wer zur Tatzeit wo war. Wer kein Alibi hat, wird geschnappt.«

»Die Verbrecher sind also nach der Länge des Mittelfingers registriert?« fragte der Russe mit lebhaftem Interesse.

Coche schmunzelte nachsichtig in seinen Schnauzbart.

»Dort haben sie ein ganzes System, mein junger Freund. Bertillon teilt alle Menschen in drei Abteilungen - nach der Länge des Schädels. Jede der drei Abteilungen teilt sich in drei Unterabteilungen - nach der Breite des Schädels. Also gibt es neun Unterabteilungen. Die Unterabteilung teilt sich ihrerseits in drei Gruppen - nach der Länge des linken Mittelfingers. Siebenundzwanzig Gruppen. Aber das ist noch nicht alles. Jede Gruppe hat drei Sektionen - nach der Länge des rechten Ohrs. Wieviel Sektionen? Richtig, einundachtzig. Die weitere Klassifizierung erfaßt die Körpergröße, die Handlänge, die Sitzhöhe, die Fußgröße, die Länge des Ellbogengelenks. Insgesamt 19683 Kategorien! Ein vollständig bertillonierter Verbrecher, der in unsere Kartei geraten ist, kann der Justiz nicht mehr entrinnen. Davor hatten sie’s besser, sie gaben bei der Verhaftung einen falschen Namen an und brauchten nicht zu verantworten, was sie früher einmal angerichtet hatten.«

»Hervorragend«, sagte der Diplomat nachdenklich, »aber die Bertillonage wird bei der Aufklärung eines konkreten Verbrechens kaum helfen, vornehmlich wenn der Mann noch nie verhaftet war.«

Coche breitete die Arme aus.

»Nun, das ist ein Problem, das die Wissenschaft nicht lösen kann. Solange es Verbrecher gibt, wird es ohne uns Berufsermittler nicht gehen.«

»Haben Sie von F-fingerabdrücken gehört?« fragte Fan- dorin und präsentierte dem Kommissar seine schmale, doch sehr kräftige Hand mit polierten Fingernägeln und einem Brillantring.

Mit einem mißgünstigen Blick auf den Ring (mindestens ein Jahresgehalt des Kommissars) sagte Coche auflachend: »Handlesen wie bei den Zigeunern?«

»Keineswegs. Schon in alten Z-zeiten hat man gewußt, daß das Relief der Papillarlinien auf den Fingerkuppen bei jedem Menschen anders ist. In China bestätigt ein Kuli einen Arbeitsvertrag mit dem Abdruck seines in Tusche getauchten Daumens.«

»Nun, wenn jeder Mörder so liebenswürdig wäre, seinen Daumen in Tusche zu tunken und den Abdruck am Tatort zurückzulassen .« Der Kommissar lachte gutmütig.

Aber der Diplomat war nicht zum Scherzen aufgelegt.

»Herr Schiffsdetektiv, Sie sollten w-wissen, daß die moderne Wissenschaft zuverlässig festgestellt hat: Auf jeder trockenen festen Oberfläche bleibt bei Berührung ein Fingerabdruck zurück. Wenn der Täter auch nur flüchtig eine Tür, ein Tatwerkzeug, eine Fensterscheibe angefaßt hat, hinterläßt er eine Spur, mit deren H-hilfe er überführt werden kann.«

Coche wollte ironisch entgegnen, in Frankreich gebe es zwanzigtausend Verbrecher mit zweihunderttausend Fingern, und wenn man die alle mit der Lupe untersuchen wolle, werde man erblinden, aber er ließ es. Er mußte an die zertrümmerte Vitrine in der Rue de Grenelle denken. Auf dem zerschlagenen Glas waren viele Fingerabdrücke gewesen. Aber niemandem war eingefallen, sie zu kopieren, und die Scherben waren im Müll gelandet.

Sieh an, wie weit es der Fortschritt gebracht hat! Denn was ergibt sich? Alle Verbrechen werden doch mit den

Händen verübt, oder? Nun stellt sich heraus, daß Hände nicht schlechter Informationen liefern können als bezahlte Spitzel! Und wenn man erst bei allen Dieben und Banditen die Fingerchen kopiert hat, werden sie es nicht mehr wagen, mit ihren dreckigen Pfoten ein krummes Ding zu drehen! Dann hat die Kriminalität ein Ende.

Bei solchen Aussichten konnte einem der Kopf schwirren.

REGINALD MILFORD-STOKES

2. April 1878

18 Uhr 34,5 Minuten Greenwicber Zeit

Meine kostbare Emily,

heute sind wir in den Suezkanal eingelaufen. In meinem gestrigen Brief habe ich Ihnen eingehend die Geschichte und Topographie von Port Said geschildert, und jetzt kann ich es mir nicht versagen, Ihnen etliche interessante und erbauliche Auskünfte über den Großen Kanal mitzuteilen, dieses grandiose Bauwerk menschlicher Hände, das im kommenden Jahr sein zehnjähriges Bestehen feiert. Ist Ihnen bekannt, meine liebe und vergötterte Gattin, daß der jetzige Kanal der vierte ist und der erste schon im vierzehnten Jahrhundert vor Christi Geburt unter dem großen Pharao Ramses gegraben wurde? Zur Zeit des Niedergangs des ägyptischen Reiches wehten die Wüstenwinde das Kanalbett mit Sand zu, aber unter dem Perserkönig Da- rius, 500 vor Christus, schaufelten Sklaven einen neuen Kanal, der 120 000 Menschenleben forderte. Herodot schreibt, daß die Fahrt durch den Kanal vier Tage dauerte und daß zwei entgegenkommende Galeeren aneinander vorbeikamen, ohne daß die Ruderreihen sich berührten. Mehrere Schiffe der zerschlagenen Flotte Kleopatras konnten sich durch den Kanal ins Rote Meer retten und sich dem Zorn des grimmen Octavian entziehen.

Nach dem Zerfall des römischen Imperiums trennte wieder eine hundert Meilen lange Wand aus Treibsand den Atlantik vom Indischen Ozean, doch kaum hatten die Nachfolger des Propheten Mohammed in dieser unfruchtbaren Gegend einen starken Staat geschaffen, griffen die Menschen erneut zu Hacken und Spaten. Ich fahre hier vorbei an toten Salzböden und endlosen Wanderdünen und werde nicht müde, mich an der sturen Tapferkeit und der emsenhaften Mühsal des menschlichen Stammes zu begeistern, der einen unendlichen, unweigerlich zum Scheitern verurteilten Kampf gegen den allmächtigen Chronos führt. Zweihundert Jahre lang befuhren Getreideschiffe den Kanal, dann wischte die Erde die jämmerliche Falte von ihrer Stirn, und die Wüste sank in tausendjährigen Schlaf.

Der Vater des neuen Suezkanals war leider kein Brite, sondern der Franzose Lesseps, liebe Emily, ein Vertreter der Nation, für die ich eine tiefe und vollauf gerechtfertigte Verachtung empfinde. Dieser umtriebige Diplomat überredete den ägyptischen Vizekönig, einen Ferman über die Gründung der Suezkanal-Gesellschaft auszufertigen. Diese erhielt das Recht, die neue Wasserstraße auf 99 Jahre zu pachten, während der ägyptischen Regierung nur 15% der Einkünfte zugebilligt wurden! Und diese schäbigen Franzosen wagen es noch, uns Briten als Plünderer der rückständigen Völker zu bezeichnen! Zumindest haben wir unsere Privilegien mit dem Degen erkämpft, nicht aber schmutzige Geschäfte mit habgierigen einheimischen Beamtenseelen gemacht.