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1 600 Kamele brachten jeden Tag Trinkwasser für die Arbeiter, die den Großen Kanal gruben, aber die Ärmsten starben gleichwohl zu Tausenden an Durst, Hitze und ansteckenden Krankheiten. Unsere »Leviathan« schwimmt sozusagen über Leichen, und ich sehe im Sand zähnebleckende Schädel mit leeren Augenhöhlen. Es dauerte zehn Jahre und kostete fünfzehn Millionen Pfund Sterling, dieses grandiose Bauwerk zu vollenden. Dafür legt ein Schiff die Strecke von England nach Indien jetzt in der halben Zeit zurück. Fünfundzwanzig Tage, und man ist in Bombay. Unglaublich! Die Kanaltiefe beträgt mehr als 100 Fuß, so daß selbst unsere Riesenarche nicht befürchten muß, auf eine Sandbank aufzulaufen.

Heute beim Mittagessen mußte ich so lachen, daß ich mich an einer Brotkruste verschluckte, ich hustete und konnte das Lachen dennoch nicht bezwingen. Unser kläglicher Fant Reg- nier (ich schrieb Ihnen von dem Ersten Offizier der »Leviathan«) fragte mich mit geheuchelter Teilnahme nach dem Grund meiner Heiterkeit, da mußte ich noch mehr lachen. Ich konnte ihm ja nicht gut sagen, welcher Gedanke mich so belustigt hatte. Den Kanal haben die Franzosen gebaut, aber die Früchte ernten wir Engländer. Vor drei Jahren hat die Regierung Ihrer Majestät dem ägyptischen Khedive die Aktienmehrheit abgekauft, und jetzt verwalten wir Briten den Kanal. Die Aktie, die anfangs für 15 Pfund verkauft wurde, ist heute 3 000 wert! Ist das nicht toll? Wie sollte ich da ernst bleiben?

Im übrigen langweile ich Sie gewiß mit diesen trockenen Details. Seien Sie mir nicht gram, meine teure Emily, ich habe keinen anderen Zeitvertreib, als lange Briefe zu schreiben. Wenn meine Feder über das Velinpapier kratzt, ist mir, als säßen Sie neben mir, und wir führten eine erquickliche Unterhaltung. Sie müssen wissen, in dem heißen Klima fühle ich mich bedeutend besser. Ich kann mich morgens nicht mehr an die Alpträume erinnern, die mich nächtlicherweile quälen, aber sie sind noch da, denn wenn ich in der Frühe aufwache, ist das Kopfkissen naß von Tränen, manchmal auch von meinen Zähnen zerbissen.

Aber das sind Lappalien. Jeder neue Tag, jede zurückgelegte Meile bringt mich dem neuen Leben näher. Dort, unter der freundlichen Äquatorsonne, wird diese entsetzliche Trennung, die mir die Seele zerrissen hat, endlich vorbei sein. Wenn es nur

Schneller ginge! Ich fiebere dem Moment entgegen, da Ihr strahlender, zärtlicher Blick wieder auf mir ruht, meine liebe Freundin.

Womit könnte ich Sie noch zerstreuen? Vielleicht mit der Beschreibung unserer »»Leviathan«, ein mehr als würdiges Thema. In den vorhergehenden Briefen habe ich zu viel von meinen Gefühlen und Träumen geschrieben und Ihnen nicht diesen Triumph der britischen Ingenieurkunst in den schönsten Farben ausgemalt.

Die » Leviathan« ist das größte Passagierschiff der Weltgeschichte, mit Ausnahme der kolossalen »Great Eastern«, die schon seit zwanzig Jahren die Wasser des Atlantik furcht. Jules Verne, der die »Great Eastern« in dem Buch »Die schwimmende Stadt« beschrieb, hat unsere » Leviathan« nie gesehen, sonst würde er die alte »G. E.« in »Das schwimmende Dorf« umbenannt haben. Sie verlegt ja nur Telegraphenkabel auf dem Grunde des Ozeans. Die »»Leviathan« hingegen kann tausend Personen und zusätzlich 10000 Tonnen Fracht transportieren. Die Länge unseres feuerspeienden Monsters übersteigt 600, die Breite erreicht 80 Fuß. Ist Ihnen bekannt, wie ein Schiff gebaut wird, liebe Emily? Zunächst wird der Linienriß des zu bauenden Schiffes auf dem Schnürboden (einem überdachten Raum) in einen besonders geglätteten Holzbelag eingeritzt. Der Linienriß der »Leviathan« war so gewaltig, daß extra ein Gebäude von der Größe des Buckingham-Palastes errichtet werden mußte!

Das Wunderschiff besitzt zwei Dampfmaschinen, zwei mächtige Seitenräder und eine gigantische Schraube am Heck. Sechs Masten ragen bis hinauf in den Himmel, sie sind voll betakelt, und bei achterem Wind und großer Maschinenfahrt entwickelt das Schiff eine Geschwindigkeit von 16 Knoten! Hier haben die neuesten Errungenschaften der Schiffbauindustrie Anwendung gefunden. Dazu gehören: die doppelte metallene Außenhaut, die das Schiff selbst bei einem Aufprall auf einen Felsen rettet, spezielle Seitenkiele, die das Schlingern dämpfen, elektrische Beleuchtung, wasserdichte Räume, gewaltige Kühlanlagen für den produzierten Dampf - alles läßt sich nicht aufzählen. Die gesamte Erfahrung jahrhundertelanger Arbeit des erfinderischen und unermüdlichen menschlichen Verstandes ist in diesem stolzen Schiff gebündelt, das furchtlos die Meereswellen teilt. Gestern habe ich nach alter Gewohnheit die Heilige Schrift an der erstbesten Stelle aufgeschlagen und war erschüttert - ins Auge fielen mir die Zeilen über Leviathan, das gefährliche Seeungeheuer aus dem Buche Hiob. Ich erbebte, als ich plötzlich begriff, daß dort keineswegs von einer Seeschlange die Rede war, wie die Alten glaubten, und nicht von einem Pottwal, wie die heutigen Rationalisten behaupten - nein, in der Bibel wird eindeutig von der »Leviathan« gesprochen, die mich aus Finsternis und Entsetzen hinführen wird zu Glück und Licht. Urteilen Sie selbst: »»Die Tiefe läßt er wie den Kessel sieden und macht das Meer zu einem Salbentopf. Aufleuchtet hinter ihm der Pfad; man hält das Meer für Greisenhaar. Es gibt nicht seinesgleichen auf der Erde, dazu geschaffen, ohne Furcht zu sein. Verächtlich schaut er alles Hohe an, und König ist er aller stolzen Tiere.« Der Salbentopf - das ist das Schmieröl, der aufleuchtende Pfad hinter ihm - das ist die Hecksee. Das ist doch offensichtlich!

Und da überkam mich Angst, liebe Emily. Diese Zeilen bergen eine gefährliche Warnung - für mich persönlich, für die Passagiere der »Leviathan« oder für die ganze Menschheit. Vom Standpunkt der Bibel ist doch Stolz etwas Schlechtes, oder? Und wenn der Mensch verächtlich alles Hohe anschaut, drohen da nicht irgendwelche katastrophalen Folgen? Sind wir nicht gar zu stolz auf unseren flinken Verstand und unsere geschickten

Hände? Wohin führt uns der König aller stolzen Tiere? Was steht uns bevor?

Ich schlug das Buch auf um zu beten, zum erstenmal seit langer Zeit. Und plötzlich las ich: »Das ist ihr Herz, daß ihre Häuser währen immerdar, ihre Wohnungen bleiben für und für; und haben große Ehre auf Erden. Dennoch kann ein Mensch nicht bleiben in solchem Ansehen, sondern muß davon wie das Vieh. Dies ihr Tun ist eitel Torheit; doch loben’s ihre Nachkommen mit ihrem Munde.«

Als ich aber, von einem mystischen Gefühl ergriffen, mit zitternder Hand das Buch zum drittenmal aufschlug, fiel mein entzündeter Blick auf die langweilige Stelle aus dem vierten Buch Mose, wo mit buchhalterischer Genauigkeit die Opferdarbringungen der Geschlechter Israels aufgezählt werden. Da beruhigte ich mich, läutete mit dem silbernen Glöckchen und bestellte mir beim Steward eine heiße Schokolade.

Der Komfort in dem Teil des Schiffes, der dem honorigen Publikum vorbehalten ist, übersteigt jede Phantasie. In dieser Beziehung sucht die »Leviathan« in der Tat ihresgleichen. Dahin sind die Zeiten, als Reisende nach Indien oder China in enge dunkle Kämmerchen gezwängt, übereinander gestapelt wurden. Sie wissen, geliebte Gattin, wie sehr ich an Klaustrophobie leide, aber auf der »Leviathan« fühle ich mich wie am weitläufigen Ufer der Themse. Hier gibt es alles Notwendige, um der Langeweile zu entfliehen: einen Tanzsaal, einen Musiksalon für klassische Konzerte und eine ganz passable Bibliothek. Die Erste-Klasse-Kabine steht, was die Ausstattung angeht, dem besten Londoner Hotelzimmer nicht nach. Von solchen Kabinen hat das Schiff hundert. Überdies hat es 250 Kabinen zweiter Klasse mit 600 Betten (ich habe nicht hineingeschaut, denn ich kann Armseligkeit nicht ertragen), außerdem soll es noch umfängliche Frachträume geben. Allein an Bedienungspersonal hat die »Leviathan«, die Matrosen und Offiziere nicht gerechnet, mehr als 200 Leute - Stewards, Köche, Diener, Musiker, Kabinenstewardessen. Denken Sie nur, ich bedaure überhaupt nicht, Jeremy nicht mitgenommen zu haben. Der Tagedieb hat dauernd seine Nase in Dinge gesteckt, die ihn nichts angingen, und hier kommt um elf das Mädchen, räumt auf und führt meine Aufträge aus. Das ist bequem und vernünftig. Wenn man will, ruft man mit dem Glöckchen den Diener herbei, damit er beim Ankleiden hilft, aber das halte ich für überflüssig, ich ziehe mich selber an und aus. In meiner Abwesenheit ist es dem Personal strengstens untersagt, die Kabine zu betreten, und wenn ich hinausgehe, klemme ich ein Haar in die Tür. Ich habe Angst vor Spionen. Glauben Sie mir, liebste Emily, dieses Schiff ist eine richtige Stadt, und es gibt alles mögliche Gesindel.