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Meine Kenntnisse über den Dampfer habe ich hauptsächlich von Leutnant Regnier, der auf sein Schiff richtig stolz ist. Ansonsten ist er ein unsympathischer Mensch, und ich habe ihn ernsthaft im Verdacht. Er bemüht sich nach Kräften, den Gentleman zu spielen, aber mich führt er nicht hinters Licht, ich kann die minderwertige Rasse riechen. Um sich einzuschmeicheln, hat der Kerl mich in seine Kabine eingeladen. Ich habe hineingeschaut, weniger aus Neugier als aus dem Wunsch, den Grad der Bedrohung abzuschätzen, welche dieser dunkelhäutige Herr darstellen könnte (über sein Äußeres s. meinen Brief vom 20. März). Die Ausstattung seiner Kabine ist kärglich, was noch stärker ins Auge fällt durch geschmacklose Nippes (chinesische Vasen, indische Räuchergefäße, ein minderwertiges Seestück an der Wand usw.). Auf dem Tisch steht inmitten von Karten und Navigationsgeräten ein großes Photo einer Frau in Schwarz mit einer Inschrift auf französisch: »»Allezeit sieben Fuß unterm Kiel, mein Liebling! Frangoise B.« Ich fragte, ob es seine Frau sei. Nein, seine Mutter. Rührend, aber der Verdacht bleibt.

Ich habe auch weiterhin die Absicht, selber alle drei Stunden den Kurs zu überprüfen, obwohl ich dazu zweimal in der Nacht aufstehen muß. Gewiß, einstweilen fahren wir durch den Suezkanal, da ist es vielleicht überflüssig, doch ich will im Umgang mit dem Sextanten nicht aus der Übung kommen.

Zeit haben wir mehr als genug, und ich nutze sie außer zum Briefeschreiben dazu, den Jahrmarkt der Eitelkeiten zu beobachten, der mich von allen Seiten umgibt. In dieser Galerie menschlicher Typen gibt es hochinteressante Gestalten. Von einigen habe ich Ihnen schon geschrieben, doch gestern erschien in unserm Salon ein neues Gesicht. Stellen Sie sich vor - ein Russe. Sein Name ist Erast Fandorin. Emily, Sie wissen, was ich von Rußland halte, diesem häßlichen Auswuchs, der halb Europa und ein Drittel von Asien bedeckt. Rußland trachtet danach, seine das Christentum parodierende Religion und seine barbarischen Sitten auf die ganze Welt auszudehnen, und Albion ist das einzige Hindernis auf dem Weg dieser neuen Hunnen. Ohne die entschlossene Position der Regierung Ihrer Majestät in der gegenwärtigen Orientkrise würde Zar Alexander mit seinen Bärentatzen die Balkanländer eingerafft haben und...

Doch das habe ich Ihnen schon geschrieben, und ich mag mich nicht wiederholen. Im übrigen wirken sich Gedanken über die Politik schlecht auf meine Nerven aus. Jetzt ist es vier Minuten vor acht. Wie ich Ihnen schon mitteilte, gilt auf der »Leviathan« bis Aden die britische Zeit, darum ist um acht hier schon Nacht. Ich gehe jetzt, die Länge und die Breite zu messen, dann werde ich zu Abend speisen und den Brief fortsetzen.

Sechzehn Minuten nach zehn

Ich sehe, ich habe den Bericht über Mister Fandorin noch nicht beendet. Ich glaube, er gefällt mir trotz seiner Nationalität.

Er hat gute Manieren, ist schweigsam, kann zuhören. Wahrscheinlich gehört er dem Stand an, der in Rußland mit dem italienischen Wort intelligenzia bezeichnet wird, das meint wohl die europäische gebildete Klasse. Sie werden zugeben, teure Emily, daß eine Gesellschaft, in der die europäische Klasse als besondere Schicht angesehen und überdies mit einem Fremdwort benannt wird, schwerlich als zivilisiert betrachtet werden kann. Ich stelle mir vor, was für ein Abgrund den menschenähnlichen Mister Fandorin von einem bärtigen Kosaken oder Mushik trennt, welche in diesem tatarisch-byzantinischen Imperium 90% der Bevölkerung ausmachen. Andererseits muß solch eine Distanz einen gebildeten und denkenden Menschen ungewöhnlich erhöhen und veredeln. Darüber wird noch nachzudenken sein.

Mir hat gefallen, wie elegant Mister Fandorin (er ist übrigens Diplomat, was vieles erklärt) den unerträglichen Coche zurechtgewiesen hat, der behauptet, Rentier zu sein, obwohl mit bloßem Auge zu sehen ist, daß er schmutzige Geschäfte betreibt. Es sollte mich nicht wundern, wenn er in den Orient reist, um Opium und exotische Tänzerinnen für Pariser Kaschemmen einzukaufen. (Der letzte Satz ist durchgestrichen.) Ich weiß, liebe Emily, daß Sie eine Lady sind und nicht versuchen werden, das Durchgestrichene zu lesen. Ich habe mich hinreißen lassen und etwas geschrieben, was Ihrer keuschen Augen unwürdig ist.

Also, zum heutigen Abendessen. Der französische Bourgeois Coche, der sich in letzter Zeit eine große Geschwätzigkeit herausnimmt, hat mit selbstzufriedener Miene über die Vorzüge des Alters gegenüber der Jugend schwadroniert. »»Ich bin unter den hier Anwesenden der Älteste«, sagte er herablassend, dieser Sokrates. »Ich habe graue Haare, bin dick und häßlich, aber glauben Sie nicht, daß ich mit Ihnen tauschen würde. Wenn ich die hochmütige Jugend sehe, die sich vor dem Alter mit ihrer Kraft, Schönheit und Gesundheit spreizt, empfinde ich kein bißchen Neid. Na, denke ich dann, das ist nichts weiter, so war ich früher auch. Aber ob du, mein Lieber, überhaupt so alt wirst wie ich mit meinen zweiundsechzig, das ist noch nicht raus. Ich bin schon doppelt so glücklich wie du mit deinen dreißig, denn ich lebe auf dieser Welt doppelt so lange wie du.« Und er trank einen Schluck Wein, stolz auf seinen originellen Gedanken und seine scheinbar unwiderlegliche Logik. Da sagte plötzlich Fan- dorin, der bislang den Mund nicht aufgekriegt hatte, mit sehr ernster Miene: »»Das trifft zweifellos zu, Herr Coche, wenn man das Leben im orientalischen Sinne betrachtet - als das Sich-Be- finden an einem Punkt des Daseins und das ewige >Jetzt<. Aber es gibt noch eine andere Sichtweise, die das Leben eines Menschen als ein Literaturwerk ansieht, das man erst beurteilen kann, wenn die letzte Seite zu Ende gelesen ist. Dieses Werk kann lang sein wie eine Tetralogie oder kurz wie eine Novelle. Aber wer will zu behaupten wagen, daß ein dicker und banaler Roman wertvoller wäre als ein kurzes, schönes Gedicht?« Und das komischste, unser Rentier, der tatsächlich dick und banal ist, hat gar nicht begriffen, daß er gemeint war. Selbst als Miss Stomp (eine nicht dumme, wenngleich sonderbare Person) kicherte und ich ziemlich laut prustete, bekam der Franzose es nicht mit - er blieb bei seiner Überzeugung, und dafür sei er gepriesen.

Freilich bekundete Monsieur Coche im weiteren Gespräch, schon beim Dessert, einen gesunden Menschenverstand, der mich erstaunte. Auch das Fehlen einer regulären Bildung hat seine Vorzüge: Ein nicht von Autoritäten eingeengter Verstand ist zuweilen fähig, interessante und zutreffende Beobachtungen zu machen.

Urteilen Sie selbst. Die amöbenartige Mrs. Truffo, die Frau unseres vertrottelten Doktors, säuselte wieder mal etwas von dem »Kleinchen« und »Engelchen«, mit dem Madame Kleber in Bälde ihren Bankier beglücken wird. Da Mrs. Truffo nicht französisch spricht, mußte ihr unglücklicher Gatte die süßlichen Sentenzen übersetzen - von Familienglück, das ohne das »»Plappern der Kleinen« nicht denkbar sei. Coche paffte und paffte, dann sagte er plötzlich: »»Ich kann Ihnen nicht zustimmen, Madame. Ein wahrhaft glückliches Ehepaar hat keineswegs Kinder nötig, denn Mann und Frau sind einander vollauf genug. Mann und Frau sind wie zwei unebene Oberflächen, jede mit Hebungen und Senkungen. Wenn die Oberflächen nicht dicht einander anliegen, bedarf es Leim, ohne den die Konstruktion, also die Familie, nicht halten würde. Dieser Leim sind die Kinder. Wenn aber die Oberflächen ideal zueinander passen und jede Hebung eine Senkung findet, ist Leim überflüssig. Nehmen Sie mich und meine Blanche. Dreiunddreißig Jahre leben wir wie ein Herz und eine Seele. Wozu brauchen wir Kinder? Auch ohne sie ist es wunderbar.« Sie können sich vorstellen, Emily, was für eine Woge gerechter Entrüstung über den Zerstörer ewiger Werte hereinbrach. Am meisten ereiferte sich Madame Kleber, die in ihrem Schoß einen kleinen Schweizer trägt. Beim Anblick ihres zur Schau gestellten Bäuchleins zucke ich jedesmal zusammen. Ich sehe im Geiste einen zusammengekauerten Mini-Bankier mit gezwirbeltem Schnurrbärtchen und aufgeblasenen Bäckchen. Mit der Zeit werden die Klebers zweifellos ein ganzes Bataillon der Schweizer Garde auf die Welt bringen.