Die großen Konfessionen, die in Crozet vollzählig vertreten waren, kooperierten bei schweren Krisen, etwa wenn jemandes Haus abbrannte. Es war nicht nötig, daß diejenigen, denen Beistand geleistet wurde, irgendeiner Kirche angehörten. Hauptsache, sie lebten in Crozet und Umgebung.
Reverend Jones, ein warmherziger, weiser Mensch, brachte sogar die Baptisten- und die Pfingstgemeinde zusammen, die sich in der Vergangenheit oft von den>höheren< Kirchen herabgewürdigt fühlten.
Mrs. Hogendobber, ein frommes Mitglied derKirche zum Heiligen Licht<, erwies sich auf diesem neuen Feld der Zusammenarbeit als unentbehrlich.
Heute Abend ging es bei der Versammlung um die Lieferung von Lebensmitteln und um die medizinische Versorgung für Menschen, die nicht imstande waren, für sich einzukaufen und die keine Angehörigen hatten, die ihnen halfen. Oft waren die Empfänger hochbetagt. Sie hatten sozusagen alle ihre Verwandten und Bekannten überlebt. In anderen Fällen war der Empfänger ein boshafter alter Säufer, der Familie und Freunde vergrault hatte. Die andere Gruppe umfaßte AIDS-Patienten, von denen die meisten ihre Angehörigen verloren hatten, selbstgerechte Angehörige, die sich mißbilligend zurückzogen und ihr eigenes Fleisch und Blut einsam und allein sterben ließen.
Harry fühlte sich dieser Gruppe besonders verbunden, weil viele von ihnen jung waren. Sie hatte erwartet, hier vornehmlich schwule Männer anzutreffen und entdeckte erschüttert, wie viele Frauen an der heimtückischen Krankheit starben, Frauen, die Drogen genommen, Gemeinschaftsspritzen benutzt oder einfach das Pech gehabt hatten, mit dem falschen Mann geschlafen zu haben. Einige waren Prostituierte in Washington, D.C. gewesen, und als sie in der Stadt nicht mehr überleben konnten, hatten sie sich aufs Land zurückgezogen.
Harry, die eine gute Bildung genossen hatte, war nicht unbedarft. Sicher, sie zog das Landleben dem Getümmel und Gewimmel der Großstadt vor, aber sie war kaum eine Landpomeranze zu nennen. Das ließ sich ohnehin nur von wenigen Menschen sagen. Die Pomeranze war eines der Stereotypen, die offenbar den Wunsch der Stadtmenschen stillten, sich denen überlegen zu fühlen, die nicht in der Stadt lebten. Dennoch ließ dieser Liebesdienst Harry erkennen, wie vieles sie über ihr eigenes Land nicht wußte. Es existierte eine ganz eigene Welt, die den Drogen verfallen war. Diese hatte ihre Regeln, ihre Kulturen und letzten Endes ihr Todesurteil.
Sie saß in dem schlichten Pfarrhaus Bruce Buxton gegenüber. So unausstehlich er sein konnte, er steuerte seine Zeit und sein Wissen bei und besuchte diejenigen, die medizinische Hilfe brauchten. Wie Herb es geschafft hatte, ihn zur Teilnahme zu überreden, war ihr ein Rätsel.
»... drei Zähne. Aber der Kiefer ist nicht gebrochen«, las Boom Boom Craycroft von der Liste ihrer Klienten ab, wie die Gruppe ihre Schützlinge nannte.
Herb rieb sich das Kinn, lehnte sich zurück. »Können wir mit ihr zum Zahnarzt? Ich meine, kann sie fort von ihm und wird sie mitgehen, wenn Sie sie holen?«
Boom Boom, die so etwas wie eine Expertin für häusliche Gewalt geworden war, sagte: »Ich kann's versuchen. Er ist pervers genug, um ihr die neuen Zähne auszuschlagen, falls sie welche bekommt.«
Bruce meldete sich zu Wort. Er hatte bis jetzt geschwiegen. »Wie sieht es mit einem Unterlassungsurteil aus?«
»Zu große Angst. Vor ihm und vor dem Verfahren.« Boom Boom hatte gelernt, die Angst und das Mißtrauen der Armen gegenüber den Institutionen der Regierung und dem Gesetzesvollzug zu verstehen. Sie hatte zudem gelernt zu verstehen, daß das Mißtrauen nicht unbegründet war. »Ich sehe zu, daß ich sie da rausholen oder zumindest zum Zahnarzt bringen kann. Wenn's nicht geht, dann nicht.«
»Sie haben eine sehr überzeugende Art.« Herb legte seine Hand auf sein Knie und beugte sich ein wenig vor. Der Rücken tat ihm weh. »Miranda.«
»Die Mädels und ich« - sie meinte den Kirchenchor derKirche zum Heiligen Licht< - »werden das Dach auf Mrs. Weymans Haus erneuern.«
»Machen Sie die Arbeit selbst?«, fragte Little Mim. Obwohl sie nicht der lutheranischen, sondern der episkopalischen Kirche angehörte, war sie aus zwei Gründen anwesend: Erstens mochte sie Herb und zweitens ärgerte es ihre Mutter, die fand, daß alles, was sich zu tun lohnte, durch die episkopalische Kirche zu geschehen hatte.
»Ah, nein. Wir dachten, wir geben eine Reihe Konzerte, um Geld für das Dach zu sammeln, und finden dann vielleicht ein paar Männer, die ihre Arbeit spenden. Das Geld für das Material bringen wir bestimmt zusammen.«
»Ich hatte schon Visionen von Ihnen auf dem Dach, Miranda«, sagte Herb lachend zu ihr, dann ging er, an Bruce gewandt, zum nächsten Punkt der Tagesordnung über. »Glück gehabt?«
Bevor Bruce Bericht erstatten konnte, hörten sie die Tür zum Pfarrhaus auf- und zugehen. Larry Johnson, der auf dem Weg von der Diele zu dem freundlichen Versammlungszimmer seinen Mantel auszog, nickte ihnen zu.
»Entschuldigen Sie die Verspätung.«
»Setzen Sie sich, Larry. Schön, daß Sie kommen konnten. Bruce wollte uns gerade Bericht erstatten über die Zusammenarbeit des Krankenhauses mit uns bezüglich unserer Leute, die eine medizinische Versorgung nicht bezahlen können.«
Larry nahm neben Miranda Platz. Er faltete die Hände und sah Bruce an.
Bruces angenehme Stimme beherrschte den Raum. »Wie Sie sich denken können, sieht die Verwaltung nur Probleme. Sam und Jordan behaupten beide, es könnten Gerichtsverfahren auf uns zukommen. Was, wenn wir einen bedürftigen Patienten behandeln, der uns verklagt und dergleichen. Ihre zweite Sorge betrifft Platz. Beide sagen, das Crozet Hospital hat so schon nicht genug Räume für die Pflege von zahlenden Patienten. Für nichtzahlende Patienten sei im Krankenhaus kein Platz.«
Little Mim hob die Hand. Bruce erteilte ihr das Wort.
»Ich will das Krankenhaus nicht verteidigen, aber es stimmt. Eines meiner Ziele als Vorstandsmitglied und Ihre zukünftige Bürgermeisterin« - sie hielt inne und lächelte verhalten - »wird es sein,privat das Geld für den Bau eines neuen Flügels aufzubringen.«
»Danke.« Herbs rauhe Stimme klang warm. Marilyns Kandidatur amüsierte ihn.
»Sicher, es gibt zu wenig Platz«, pflichtete Bruce bei, »aber wenn wir die Leute außerhalb der Sprechzeiten bringen könnten, vor acht Uhr morgens oder nach drei Uhr nachmittags, könnten wir wenigstens die Apparate für Untersuchungen benutzen. Ich weiß, daß wir keine Krankenhausbetten bekommen können. Das bringt mich zum dritten Punkt der von der Verwaltung geäußerten Bedenken, der Benutzung der Krankenhausapparate. Der zunehmende Verschleiß der Geräte, seien es Infusionspumpen, Röntgenapparate, was auch immer, wird eine Erhöhung der Betriebskosten des Krankenhauses zur Folge haben. Das Budget kann dies nicht verkraften.« Er holte Atem. »Das ist der augenblickliche Stand der Dinge. Offenbar wollen Sam und Jordan uns keine glatte Absage erteilen. Dafür sind sie politisch zu klug. Aber ich hege keinen Zweifel an ihrem absoluten Mangel an Begeisterung für unser Vorhaben.«
Es wurde still im Zimmer, eine Stille, die durch abermaliges Öffnen und Schließen der Pfarrhaustür unterbrochen wurde. Man hörte, daß jemand einen Mantel auszog und an den Garderobenständer hängte.
Tussie Logan trat mit abgespanntem Gesicht ins Zimmer. »Entschuldigung.«
»Kommen Sie rein. Wir wissen, daß Sie nicht immer frei über Ihre Zeit verfügen können.« Herb winkte sie freundlich heran. »Bruce hat uns gerade seinen Zwischenbericht über die Fortschritte geliefert.«
»Oder ihr Nichtvorhandensein«, sagte Bruce freimütig. »Tussie, Sie sehen müde aus.«