»Es gehört mehr als ein kleiner Schubser eines Mädchens wie Sie dazu, um mich umzustoßen.«
»Er hat Recht, Tussie, Sie sind viel zu mager geworden. Sie arbeiten zu schwer«, meinte Harry.
»Liegt in der Familie. Je älter wir werden, desto dünner werden wir.« »In meiner Familie kommt das bestimmt nicht vor«, rief Miranda von der anderen Seite des Tisches herüber, dann umrundete sie den Salat aus drei verschiedenen Bohnensorten und trat zu ihnen.
»Glauben Sie, daß arme Patienten stehlen?«, fragte Harry Tussie.
»Nein«, sagte sie entschieden.
»Sind Krankenhäuser nicht voll von Medikamenten und Drogen? Ich meine die Drogen, von denen ich immer in der Zeitung lese - Kokain, Morphium.«
»Ja, und die werden hinter Schloß und Riegel gehalten. Jeder Arzt, jede Oberschwester trägt sich ein, notiert die entnommene Dosis und welchem Patienten sie verabreicht wurde, dann schließt der betreffende Arzt den Schrank wieder ab. So läuft das.«
»Aber jemand wie Hank Brevard weiß doch sicher, wie er an die Medikamentenschränke und die Lagerräume kommt.« Harry zog die Augenbrauen hoch.
»Hm, das nehme ich an, aber wenn etwas fehlte, würden wir's merken.« Tussie schob die Unterlippe ein ganz klein wenig vor.
»Vielleicht. Aber wenn er geschickt war, hätte er das Kokain durch etwas ersetzen können, das genauso aussieht, irgendein Pulver, pulverisierte Magnesiummilch zum Beispiel.«
Leicht verärgert schlang Tussie einen Happen sahnigen Karottensalat hinunter. »Wir würden es merken, wenn der Patient, dem das Medikament verordnet wurde, nicht darauf anspricht.«
»Verdammt, Tussie, wenn sie so krank sind, daß man ihnen Kokain oder Morphium verschreiben muß, dann sind sie vermutlich schon auf dem Weg ins Jenseits. Für einen geschickten Menschen, der sich genau auskennt, der über die Chancen der Patienten im Bilde ist, wäre das, wie einem kleinen Kind Süßigkeiten wegzunehmen.« Harry wollte keinen Streit anfangen, in ihrem Kopf drehte sich das Räderwerk, das war alles.
»Sie gucken zu viel fern.« Zorn blitzte für eine Sekunde in Tussies Augen auf. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich muß mit Boom Boom sprechen.«
Harry, Miranda und Herb sahen sich achselzuckend an.
»Sie ist ein bißchen gereizt«, bemerkte Miranda.
»Streß«, stellte Harry unumwunden fest. »Ich würde auch nicht da arbeiten wollen, wo jemand ermordet wurde. Miranda, stellen Sie sich mal einen Mord im Postamt vor - die Leiche in einen Postsack gestopft.« Ihre Stimme nahm den Tonfall einer Radiosprecherin an. »Vorder- und Hintereingang verriegelt, ein Vermögen an Wertpapierzertifikaten in eines der größeren unteren Postfächer geklemmt.«
»Harry, Sie sind unmöglich.« Miranda zwinkerte ihr zu.
»Und denken Sie daran, was ich Ihnen über Ihre Neugierde gesagt habe, junge Dame. Ich kenne Sie, seit Sie auf der Welt sind, und Sie können es nicht ertragen, etwas nicht zu wissen.« Herb legte seinen Arm um sie.
16
Ihre Neugierde wurde Harry zum Verhängnis. Nach der Versammlung fuhr sie am Krankenhaus vorbei statt nach Hause. Die Pfützen des geschmolzenen Eises auf dem Asphaltparkplatz glitzerten wie Glimmer.
Einer Eingebung folgend, bog sie in den Parkplatz ein, fuhr um das Krankenhaus herum und gelangte zum rückwärtigen Lieferanteneingang unweit der Bahngleise. Sie hielt einen Moment an, fuhr dann weiter um die Ecke zur hinteren Tür, die in den Keller führte.
Sie parkte, stieg aus und legte vorsichtig die Hand auf den kalten Türknauf. Langsam drehte sie ihn herum, damit der Schnapper nicht knackte. Sie öffnete die Tür. Trübe Lampen brannten an der Decke des Flurs. Die Düsternis war unheimlich. Das Krankenhaus mußte doch sicher nicht sparen, indem es Glühbirnen mit so geringer Wattleistung verwendete. Sie fragte sich, ob Sam Mahanes wirklich ein guter Krankenhausdirektor war oder ob sie samt und sonders knauserig waren, wo die Öffentlichkeit es nicht sehen konnte.
Auf Zehenspitzen schlich sie durch den Hauptkorridor, der zum Zentrum des Gebäudes führte, dem ältesten Trakt des Komplexes, der lange vor dem Bürgerkrieg errichtet worden war. Sie zählte die Flure, die von dem Hauptkorridor abzweigten und wünschte sich, sie hätte Brotkrumen ausgestreut wie Hänsel und Gretel, denn wenn sie in den einen oder anderen Nebengang einböge, würde sie nicht leicht wieder heraus finden. Deswegen hielt sie sich an den Hauptkorridor.
Wenn sie es recht bedachte, hätte sie mit dieser nächtlichen Expedition warten sollen, bis sie Mrs. Murphy, Pewter und Tucker mitbringen könnte. Deren Augen waren viel besser als ihre, zudem war Tuckers Geruchssinn ein Geschenk des Himmels. Aber sie hatte sie nach der Arbeit nach Hause gebracht, in aller Eile die Stallarbeit erledigt und war zu der Versammlung ins Pfarrhaus gesaust.
Sie meinte irgendwo zu ihrer Rechten Stimmen zu hören. Instinktiv drückte sie sich flach an die Wand. Sie wollte den Heizungskeller finden. Die Stimmen verklangen, Männerstimmen. Rechts neben ihr war eine geschlossene Tür.
Sie schlich weiter. Ein flackerndes Licht zu ihrer Rechten sagte ihr, daß da vorne ein Raum war. Die Stimmen hörten sich jetzt weiter entfernt an und dann - Stille.
Die Tür hinter ihr ließ sich öffnen. Sie schlüpfte in den Heizungskeller. Sie hatte ihr Ziel gefunden. Wieder drückte sie sich flach an die Wand, lauschte auf Schritte, aber der gluckernde Heizkessel übertönte leisere Geräusche.
Sie bemerkte sofort, daß unmittelbar vor ihr, auf der anderen Seite des Raumes, ein weiterer Ausgang aus dem Heizungskeller lag.
Sie blickte sich um, atmete tief durch, ging zum Heizkessel. Der Kreideumriß von Hanks Leichnam war fast verblaßt. Sie kniete sich hin, blickte dann auf die Wand. Obwohl sie abgeschrubbt worden war, war noch ein schwacher Blutfleck zu sehen. Schaudernd stellte sie sich vor, wie das Blut aus Hanks Hals geschossen und durch den Raum gespritzt war. Sie wollte aufstehen.
Harry kam nicht auf die Füße. Ein dumpfes metallisches Geräusch war das Letzte, was sie hörte.
17
Sheriff Rick Shaw und Cynthia Cooper stießen die Schwingtür zur Notaufnahme so heftig auf, daß sie fast aus den Angeln sprang.
»Wo ist sie?«, fragte Rick eine erschrockene Krankenschwester.
Die junge Frau deutete wortlos auf eine andere Tür und Rick und Cynthia fegten hindurch.
Benommen lag Harry, mit einer Decke zugedeckt, in einem Bett im Aufwachraum. Es war eine ruhige Nacht im Krankenhaus und Harry war die einzige Patientin in diesem Zimmer.
Jordan Ivanic begrüßte die Beamten mit einem matten Lächeln. »Warum passiert immer alles, wenn ich Dienst habe?«
»Einfach Glück gehabt, vermutlich«, knurrte Dr. Bruce Buxton ihn an. Für Bruce war Jordan ein Brechmittel. Er hatte für alle Verwaltungstypen wenig übrig, aber Jordans ewiges Gejammer stieß ihm sauer auf.
»Nun?« Rick sah Bruce an.
Er zeigte auf die rechte Seite von Harrys Kopf. »Ein Schlag. Stumpfer Gegenstand. Wir haben das Blut abgewaschen und die Wunde gesäubert und rasiert. Ich habe eine Röntgenaufnahme gemacht. Ihr fehlt weiter nichts. Sie ist genäht worden. Schlimmstenfalls eine leichte Gehirnerschütterung.«
Cynthia beugte sich herab, sprach leise. »Harry, kannst du mich hören?«
»Ja.«
»Hast du gesehen, wer dich geschlagen hat?«
»Nein, dieser Saukerl.«
Ihre Antwort brachte Cooper zum Lachen. »Du bist unverbesserlich.«
»Wer hat sie gefunden?«, wollte Rick von Jordan wissen.
»Booty Wyman. Er ist neu auf diesem Posten, und ich nehme an, er hat zufällig gerade den Heizungskeller überprüft. Wir wissen nicht, wie lange sie dort war. Wir wissen auch nicht genau, was passiert ist.«
»Ich kann Ihnen sagen, was passiert ist«, blaffte Rick. »Jemand hat sie auf den Kopf geschlagen, das ist passiert.« »Vielleicht ist sie hingefallen und hat sich den Kopf gestoßen.« Jordan war bemüht, eine andere Lösung zu finden.