»Da kommt er.« Mim lachte. »Aufgeblasen wie immer, aber er sieht gut aus, das muß ich ihm lassen.«
Dr. Bruce Buxton stampfte mit den Füßen auf den Stufen, dann stieß er die Tür auf.
Noch ehe er etwas sagen konnte, bemerkte Mim trocken: »Ich gebe Ihnen eine 9,4.« Damit huschte sie an ihm vorbei und winkte Harry und Miranda zum Abschied.
»Eingebildete Ziege«, sagte er, aber erst, als die Tür zu war, denn es war nicht ratsam, Mim öffentlich in die Quere zu kommen. Selbst Bruce Buxton, als Kniespezialist am Crozet Hospital eine Koryphäe, hütete sich,>die Diva<, wie er sie nannte, zu beleidigen.
»Also, Dr. Buxton, von mir haben Sie Punkte für die Strecke bekommen, von Mim für den künstlerischen Ausdruck.« Harry lachte lauthals.
Bruce, Ende dreißig und allein lebend, konnte einer hübschen Frau nie widerstehen, deshalb lachte er gleichfalls über sich. »Ich bin ganz gut vorangekommen. Wenn's schlimmer wird, ziehe ich meine Golfschuhe an.«
»Gute Idee.« Harry lächelte, als er sein Postfach öffnete.
»Rechnungen über Rechnungen.« Er öffnete einen weißen Umschlag, dann warf er ihn weg. »Mist.«
»Doch nicht etwa ein Brief von Schwester Sophonisba?«, fragte Harry.
»Schwester Soundso. Kettenbrief.«
»Mim hat auch einen bekommen. Ich nicht.« Harry lachte über sich. »An mir gehn die guten Sachen immer vorbei. Sagen Sie, wie geht's Isabelle Otey?«
Harry erkundigte sich nach der begabten Stürmerin der Basketballmannschaft der Virginia University. Sie hatte sich bei einem harten Spiel gegen Old Dominion einen Kreuzbandriß zugezogen. Die Virginia University hatte das Spiel gewonnen, aber Isabelle für die Saison verloren.
»Gut. Ein arthroskopischer Eingriff wird ambulant vorgenommen. In sechs Wochen ist sie so gut wie neu, vorausgesetzt, sie hält sich in diesen sechs Wochen an die Anweisungen. Das Knie des Menschen ist ein faszinierendes Gebilde.« Als er sich in sein Thema hineinfand - er war einer der führenden Kniechirurgen im Lande -, hörte Harry aufmerksam zu. Miranda ebenfalls.
»Meine Knie sind besser.« Mrs. Murphy kehrte Bruce, den sie für einen eingebildeten Esel hielt, den Rücken zu.»Alles an mir ist besser. Wenn die Menschen auf vier statt auf zwei Beinen gingen, würden sich ihre meisten Probleme in Luft auflösen.« »Deswegen wäre ihr Verstand auch nicht besser«, kam die Stimme, die jetzt leicht hallte, aus dem Postkarren.
»Dagegen ist kein Kraut gewachsen.« Tucker seufzte, denn sie liebte Harry; doch selbst diese Liebe konnte der Langsamkeit der menschlichen Denkweise nicht beikommen.
»Pewter, wie wär's, wenn du deinen Hintern mal aus dem Postkarren hieven würdest? Du bist seit heute Morgen acht Uhr da drin, und jetzt ist es halb zwölf. Wir könnten rausgehen und Mäuse aufspüren.«
»Du willst genauso wenig raus in die Kälte wie ich. Du willst bloß, daß ich blöd dastehe.« Es lag ein Fünkchen Wahrheit in Pewters Anschuldigung.
Bruce ging hinaus und trat bedächtig, geradezu respektvoll auf das Eis.
Zehn Minuten später kamen Hank Brevard, der technische Leiter vom Crozet Hospital, und Tussie Logan, die Oberschwester der pädiatrischen Abteilung, in Tussies kleinen silbernen Tracker vorgefahren.
»Guten Morgen.« Tussie lächelte. »Ist schon fast Mittag. Wie geht's, wie steht's im Postamt?«
»Kompostamt«, sagte Hank wehleidig.
Er hatte dauernd was zu meckern.
»Ich muß doch sehr bitten«, empörte sich Mrs. Miranda Hogendobber.
»Katzendreck.« Hank schnüffelte.
»Hank, wir haben kein Katzenklo hier drin. Die Tiere gehen nach draußen.«
»Ja, vielleicht bist du's selber«, zog Tussie ihn auf.
Er grunzte, achtete nicht auf die Frauen und öffnete sein Postfach. »Alles nur Rechnungen. Mist.«
Obwohl er über seine Post nörgelte, machte er die Umschläge auf und stapelte sie sorgfältig auf dem Tisch. Er war ein akribischer Mensch, dem nie ein Fehler entging.
Tussie dagegen mischte ihre Umschläge wie Karten und warf Werbung, Ankündigungen und Formbriefe in den Papierkorb.
Miranda öffnete die Trennklappe, ging nach vorne, nahm den Papierkorb und wollte zurück in den Postsackraum, wie sie den Arbeitsbereich des Postgebäudes getauft hatte.
»Warten Sie.« Tussie warf noch zwei Briefe hinein. »Wer Formbriefe nicht öffnet, verlängert sein Arbeitsleben um drei Jahre.«
»Tatsache?« Miranda lächelte.
»Im Ernst«, neckte Tussie sie.
Miranda trug den Metallkorb um den Tisch herum zu Hank. »Noch
was?«
»Ah, nein.« Er blätterte in seinem ordentlich gestapelten Haufen.
»Kannst du nie was spontan tun?« Tussie zog ihre Fäustlinge aus der Manteltasche.
»Eile mit Weile. Du müßtest bloß mal die beschädigten Geräte sehen, die ich sehe, und alles nur, weil sich irgendein Trottel keine Zeit nehmen kann. Gestern kam eine Trage mit zwei blockierten Rädern runter. Das passiert nur, wenn ein Sanitäter sich nicht die Zeit nimmt, auf die kleine Fußbremse zu tippen. Er drückt, nichts passiert und dann tritt er mit aller Macht drauf.« Hank fuhr fort, erfüllt von der Bedeutung seiner Aufgabe. »Gerade hab ich in der Kantine eine Sicherung angeguckt, die dauernd rausgeflogen ist. Hängen einfach zu viele Geräte an dem Stromkreis.« Er holte Atem, bereit, von weiteren Problemen zu berichten.
Tussie unterbrach ihn. »Dem Krankenhaus fehlt so manches.«
Er nahm den Faden wieder auf. »Eine komplette Überholung der elektrischen Anlagen. Ein neuer Heizkessel für den Altbau, aber auf mich hört ja keiner. Ich halte den Laden bloß am Laufen. Quäkt aber ein Doktor nach was, ja, dann hört die Erde auf sich zu drehen.«
»Das ist nicht wahr. Bruce Buxton schreit regelrecht nach einem neuen MRT und.«
»Was ist das?«, fragte Harry.
»Magnetresonanztomograph. Tomographie ist eine Methode, um in den Körper zu gucken, ohne ihn aufzuschneiden«, erklärte Tussie. »Die Technik auf unserem Gebiet explodiert geradezu. Die neuen MRT schaffen es in der Hälfte der Zeit. Aber ich will mich jetzt nicht über die Technik auslassen.« Sie hielt einen Moment inne. »Wir alle werden noch ein Heilmittel für Krebs erleben, für Kinder-Diabetes, für viele Krankheiten, die uns plagen.«
»Ich verstehe nicht, wie du mit kranken Kindern arbeiten kannst. Ich kann ihnen nicht in die Augen sehen.« Hank runzelte die Stirn.
»Sie brauchen mich.«
»Hört, hört«, sagte Miranda und Harry nickte beifällig.
»Wir brauchen eine Menge Zeug«, bemerkte Hank. »Trotzdem glaube ich, die im OP kriegen, was sie wollen, bevor ich kriege, was ich will.« Er holte Luft. »Ich hasse die Ärzte.« Hank steckte die Umschläge in die große Innentasche seines schweren Overalls.
»Deswegen verbringst du dein Leben im Keller.« Tussie zwinkerte. »Er sucht noch immer nach Spuren der Underground Railroad.«
»So 'n Krampf.« Hank schüttelte den Kopf. Wäre er draußen gewesen, hätte er ausgespuckt.
»Ich hab die Geschichte seit meiner Kindheit gehört.« Miranda beugte sich über die Trennklappe. »Daß der alte Steinbau des Krankenhauses der Underground Railroad diente, um Sklaven in die Freiheit zu schleusen.«
»Jedes Haus und jeder Strauch in Crozet ist von historischer Bedeutung. Kommt man an eine Straßenecke, erklärt einem ein Schild, >Hier hat Jefferson sich die Nase geputzt.< Komm, Tussie. Ich muß wieder an die Arbeit.«
»Was machen Sie hier mit dem Trübsalbläser?« Harry zwinkerte Tussie zu.
Hank unterdrückte ein Lächeln. Er war gerne Mr. Negativ. Man fiel auf bei den Leuten. Meinte er jedenfalls.
»Chuckles Auto ist in der Werkstatt.«
»Nenn mich nicht so«, wies Hank sie zurecht. »Was, wenn meine Frau das hört? Dann nennt sie mich auch so.«