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«Wo ist Perianders Ring?», fragte ich den Vater. «Hatte er ihn nicht mehr bei sich?»

«Der Ring? Nein. Ich weiß nicht», antwortete er. Es waren die ersten Worte, die er an mich richtete. «Er wurde uns so gebracht, wie er hier liegt. Wir haben ihn nur gewaschen und das Gewand gewechselt. Sonst haben sie uns nichts gegeben.»

«Was war es für ein Ring?», fragte ich. «War er wertvoll?»

«Ja, das war er», antwortete der Vater, «wir haben ihn nach seinem großen Sieg anfertigen lassen, ganz aus Gold. Auf seiner Oberseite ist eine schwarze Perle eingelassen, von einem Lorbeerkranz umfasst. Er trug ihn Tag und Nacht.»

«Kennst du noch den Namen des Goldschmieds, der den Ring gefertigt hat?», wollte ich wissen. Bevor Perianders Vater antworten konnte, fiel mir die Antwort aber selbst ein. Wie hatte ich nicht daran denken können? Hatte sich nicht Raios, mein Onkel und Schwiegervater, wochenlang damit gebrüstet, kein anderer als er habe den Ring für den Olympiasieger schmieden dürfen? Eine große Ehre, die ihn indessen nicht davon abgehalten hatte, Perianders Familie über den Wert des Schmuckstücks zu täuschen und einen viel zu hohen Preis zu verlangen. Er tat das immer. Es war sein größtes Vergnügen.

«Er hieß Raios», antwortete der alte Mann. «Sein Geschäft ist beim Hephaistos-Tempel, gleich im Viertel der Schmiede.»

«Ich kenne ihn», sagte ich, ohne auf die Art meiner Bekanntschaft mit Raios näher einzugehen. «Was hat Periander gestern Abend gemacht?»

«Ich weiß nicht genau. Ich dachte, er wäre vielleicht im Stadion. Das ist in der Nähe des Tores, wo ...» Dem Alten versagte die Stimme. Eine Träne lief ihm dünn über das gegerbte Gesicht. Er rang um Fassung und drehte sich weg.

«Wer waren Perianders Freunde?», fragte ich weiter.

«Er hatte viele», erwiderte der Vater mit einem Anflug stolzer Erinnerung, «oft traf er sich mit Charmides oder mit Aris-tokles und seinem Bruder Glaukon. Das sind Verwandte meines Freundes Kritias, junge Männer. Er war wohl auch viel mit diesem Sokrates unterwegs. Du kennst ihn?»

«Ja, natürlich», entgegnete ich. Wer kannte ihn nicht?

Die Tür ging auf. Ich befürchtet schon, Perianders Mutter würde wieder in das Zimmer stürzen, beruhigte mich aber, als ich stattdessen einen kleinen, wohl dreißig Jahre alten Mann mit strengen Zügen und stechendem Blick eintreten sah, der in seiner Rechten einen ganz besonderen Stock trug: einen Wanderstock, um dessen Ende sich eine kunstfertig geschmiedete Schlange wand, so wie sich um seinen Besitzer die Legenden rankten. «Hippokrates von Kos», stellte er sich vor, obwohl dies nicht nötig war, «man hat mich kommen lassen. Bist du Nikomachos, der Herr der Toxotai?»

Ich bejahte und verneigte mich tief vor diesem Mann, von dem man sagte, er habe sein Handwerk vom Gott der Heilkunst selbst erlernt. Ich zeigte auf den Leichnam. Hippokrates runzelte die Stirn. Tiefe Furchen liefen senkrecht seine Wangen herunter. Er drehte sich zu Perianders Vater.

«Du bist der Vater dieses Jungen?» Der Mann nickte.

«Ich musste deiner Frau ein starkes Mittel zur Beruhigung geben. Sie braucht dich jetzt. Bitte sieh nach ihr.»

Perianders Vater nickte ein zweites Mal stumm und ging hinaus. Und so gelang es Hippokrates, dem alten Mann eine Aufgabe zu geben und zugleich dafür zu sorgen, dass wir ungestört waren.

«Was soll ich tun?», fragte Hippokrates. «Der junge Mann ist tot.»

«Ich weiß», antwortete ich verlegen, «ich möchte wissen -wenn das geht -, wie er gestorben ist.»

«Das ist gut», antwortete Hippokrates unverständlicherweise und hieß mich, Perianders Leiche zu entkleiden, während er einem mitgebrachten Beutel einige Werkzeuge entnahm. Ich wagte nicht, mich zu widersetzen, aber meine Arbeit erwies sich als ungewöhnlich schwer. Perianders Körper war völlig steif und schien viel mehr zu wiegen, als man dies bei diesem kaum zwanzigjährigen Läufer angenommen hätte. Obwohl es in diesem Zimmer angenehm kühl war, geriet ich ins Schwitzen und hätte bei meinen ungeschickten Versuchen, Periander auszuziehen, beinahe sein Leichengewand zerrissen. Ich war völlig außer Atem, als der Olympiasieger schließlich nackt vor mir lag.

Der Körper sah aus wie in Stein gemeißelt. Rippen, Muskeln und Sehnen zeichneten sich unter seiner gelblich-blauen Haut ab, das Becken bildete einen vollkommenen Bogen unter dem muskulösen Bauch, Arme und Beine waren schlank und kraftvoll.

«Die Leichenstarre ist noch vollständig», erklärte Hippokrates, während er auf den Körper zutrat und ein Bein Perianders anzuheben versuchte. «Bei einem Sportler wie ihm kann sie bis zu drei Tage anhalten, aber nur, wenn es nicht so heiß ist, wie es heute war. Bei der Hitze, meine ich, ist er frühestens gestern Nacht zu Tode gekommen, sonst müssten seine Muskeln schon wieder erschlaffen.»

Mit unbewegtem Gesicht betrachtete und befühlte er Perianders Haut. Dann bat er mich, ihm zu helfen. Gemeinsam drehten wir den leblosen Körper um. An Perianders Hinterkopf klaffte eine Wunde. Obwohl man ihn gewaschen hatte, war das Haar noch blutverklebt. Der Arzt untersuchte die Verletzung ausgiebig und mit einem eigentümlichen Funkeln in den Augen. Er versuchte sogar, mit einer Art Bronzenagel in den Schädel einzudringen, aber es gelang ihm nicht.

«Der Schädel ist intakt», stellte er lapidar fest und legte den Stift zur Seite, um sich dem Nacken zuzuwenden.

«Das Genick ist intakt», war sein nächster Kommentar. Dann hielt er inne und überlegte. Es war, als spräche er mehr mit sich selbst und nicht mit mir, als er sagte: «Er ist nicht an einem Schlag auf den Kopf gestorben. Die Wunde am Hinterkopf ist nicht tödlich.»

«Woran ist er dann gestorben?», fragte ich, während sich Hippokrates schon wieder der Leiche widmete und meine Frage unbeantwortet ließ. Er untersuchte Perianders Rücken und zuletzt die Haut hinter seinen Ohren. Sein Gesicht hellte sich auf.

«Komm her und sieh dir das an», befahl er. Ich gehorchte, trat näher und sah hinter den Ohren Perianders einige kleine, rote Punkte durch die Haut schimmern. Sie waren kaum größer als die Samen der Brotbaumfrucht.

«Das sind Einblutungen», erklärte mir Hippokrates mit einer Begeisterung, die mich im Angesicht des Toten unangenehm berührte. «Ich bin sicher, wenn wir seine Augen öffnen könnten, dann würden wir die gleichen Einblutungen auch auf seinen Augäpfeln finden.»

«Könnten?», fragte ich besorgt nach, denn ich wollte die toten Augen Perianders keinesfalls öffnen, geschweige denn sehen. «Wir können es also nicht?»

«Nein», erwiderte er, was mich beruhigte. «Dazu ist er noch viel zu steif - in ein paar Tagen vielleicht. Andererseits, ich könnte die Lider natürlich auch aufschneiden. Wenn du es ganz genau wissen musst.»

«Nein, das wird nicht nötig sein», beeilte ich mich zu versichern, und einige Tropfen kalten Schweißes rannen mir Schläfen und Wangen hinunter.

«Gut. Dann hilf mir, ihn wieder auf den Rücken zu legen», kommandierte Hippokrates. «Ich glaube, er ist erstickt.»

Wieder bat er mich um Hilfe, und gemeinsam wuchteten wir Perianders Körper herum. Während Hippokrates ihn weiter abtastete, versuchte ich mich abzulenken, indem ich konzentriert auf die Wand hinter dem Arzt blickte, an der es rein gar nichts zu sehen gab. Jetzt hatte er eine Art kurzer Eisenstange in der Hand und schob sie Periander zwischen die Lippen. Ich fragte mich noch, was er damit vorhaben konnte, als - ich wage es kaum, mich zu erinnern - ein Krachen ertönte wie von einem Blitz. Nie werde ich das Geräusch vergessen, das ich hören musste, als Hippokrates Perianders leichenstarren Kiefer aufwuchtete. Es war, als ob der Schaft eines Speeres im Kampfe bräche. Die Stange war eine Art Brechstange gewesen. Mir schauderte und das Blut wich mir aus dem Gesicht, aber Hippokrates sah mich nur verständnislos an und meinte, die Leichenstarre sei bei Sportlern eben immer besonders stark. Das liege an den kräftigen Muskeln. Dann erforschte er völlig ungerührt Perianders Rachen und seinen Mund, wobei er ihm die Finger so tief in den Hals steckte, wie er nur konnte. Das genügte aber offenbar nicht, denn er ging noch einmal zu dem Beutel mit seinen Instrumenten, suchte und kam mit etwas zurück, das aussah wie eine lange, feine Zange.