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»Ihnen entgeht offenbar nichts, Mrs Mullet«, lobte Inspektor

»Na ja, Sir, auf dem Schnäbelchen steckte’ne Briefmarke, als hätt das arme Ding sie uns bringen wollen, wie der Storch die kleinen Kinder bringt, wenn Sie verstehen, was ich meine, aber eigentlich natürlich ganz anders.«

»Eine Briefmarke, Mrs Mullet? Was für eine Briefmarke?«

»Eine Briefmarke halt, aber nicht so eine, wie sie heute auf die Briefe geklebt werden, o nein. Die Königin war drauf abgebildet. Nicht unsre jetzige Königin, Gott schütze sie, sondern unsre alte … wie hieß sie doch gleich … Königin Viktoria! Jedenfalls wär sie drauf abgebildet gewesen, wenn der Vogel nicht den Schnabel durch ihr Gesicht gepiekt hätte.«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Hand aufs Herz, Sir! Alf hat als junger Kerl mal Briefmarken gesammelt, und er hebt heute noch ein paar von den Dingern in einer alten Keksdose unter dem Sofa oben in der Diele auf. Er holt sie nicht mehr so oft raus wie früher, als wir beide noch jung waren, weil er dann immer ganz traurig wird, sagt er. Aber trotzdem erkenn ich eine Schwarze Queen Victoria, die sogenannte Penny Black, immer und überall auf den ersten Blick, ob sie nun auf’nem Vogelschnabel steckt oder nicht.«

»Vielen Dank, Mrs Mullet.« Inspektor Hewitt nahm sich ein Stück Kuchen. »Sie haben uns sehr geholfen.«

Mrs Mullet knickste noch einmal und ging zur Tür.

»Ist doch komisch, hab ich zu Alf gesagt, eigentlich lassen sich hier bei uns in England bis September gar keine Zwergschnepfen blicken. Und ich hab weiß Gott schon viele Zwergschnepfen gebraten und auf Toast serviert. Mrs Harriet, Gott sei ihrer Seele gnädig, hat nichts lieber gegessen als einen schönen …«

Hinter mir ächzte jemand, und als ich mich umdrehte, sah ich gerade noch, wie Vater zusammenklappte wie ein Campingstuhl und zu Boden plumpste.

Ich muss sagen, der Inspektor machte das sehr gut. Mit einem Satz war er bei Vater, legte ihm das Ohr auf die Brust, lockerte ihm die Krawatte und prüfte mit dem Finger, ob irgendetwas Vaters Atem behinderte. Allem Anschein nach hatte er im E rste-Hilfe-Kurs nicht geschlafen. Dann riss er das Fenster auf und pfiff so gekonnt und schrill auf den Fingern, dass ich ihm etwas dafür bezahlt hätte, wenn er es mir beigebracht hätte.

»Dr. Darby!«, rief er. »Kommen Sie bitte schnell! Und bringen Sie Ihre Tasche mit!«

Ich stand immer noch mit vor den Mund geschlagener Hand da, als Dr. Darby mit langen Schritten hereinkam und sich neben Vater kniete. Nach einer kurzen, systematischen Untersuchung holte er ein kleines blaues Arzneifläschchen aus seiner Tasche.

»Eine Synkope«, wandte er sich an Inspektor Hewitt, und zu Mrs Mullett und mir sagte er: »Soll heißen, er ist ohnmächtig. Nichts Schlimmes.«

Uff!

Der Doktor entstöpselte das Fläschchen, und ehe er es Vater unter die Nase hielt, erkannte ich den vertrauten Duft: Es war mein guter alter Freund Ammoniumcarbonat beziehungsweise Hirschhornsalz, oder, wie ich es nannte, wenn wir im Labor unter uns waren, Sal Volatile oder manchmal einfach nur Sal. »Ammonium« deswegen, weil die Substanz zuerst unweit vom Schrein des altägyptischen Gottes Ammon entdeckt wurde, und zwar als Inhaltsstoff des Urins von Kamelen. Später hatte in London ein von mir sehr geschätzter Kollege eine Methode entwickelt, mittels der man Riechsalz aus patagonischem Guano extrahieren konnte.

Chemie! Ach, ich liebe Chemie über alles!

Als Dr. Darby ihm das Fläschchen unter die Nase hielt, schnaubte Vater wie ein Bulle auf der Weide, und seine Augenlider schnappten auf wie Jalousien. Aber er sagte kein Wort.

»Na, bitte! Jetzt weilen Sie wieder unter den Lebenden«, verkündete der Doktor, als mein ganz verwirrter Vater versuchte, sich auf den Ellenbogen zu stützen und sich im Zimmer umzusehen. Trotz seines jovialen Tons hielt Dr. Darby ihn im Arm wie ein Neugeborenes. »Warten Sie noch einen Augenblick, bis Sie wieder ganz da sind. Bleiben Sie noch ein bisschen auf dem guten alten Axminster-Teppich.«

Inspektor Hewitt stand mit ernster Miene daneben, bis der Doktor es für angeraten hielt, Vater aufzuhelfen.

Schwer auf Dogger gestützt (den man inzwischen gerufen hatte), wankte Vater die Treppe zu seinem Zimmer empor. Auch Daphne und Feely ließen sich kurz blicken, aber von denen sah man eigentlich nicht mehr als zwei bleiche Gesichter hinter dem Treppengeländer.

Mrs Mullet blieb auf dem Weg in die Küche neben mir stehen und legte mir mitfühlend die Hand auf den Arm.

»Hat dir der Kuchen denn geschmeckt, mein Schatz?«, erkundigte sie sich.

Der Kuchen! Den hatte ich ganz vergessen. Ich nahm mir ein Beispiel an Dr. Darby und brummelte nur ein unbestimmtes »Mhm« vor mich hin.

Inspektor Hewitt und Dr. Darby waren wieder in den Garten gegangen, als ich die Treppe zu meinem Labor hochstieg. Durchs Fenster beobachtete ich ein bisschen traurig und fast von einem Gefühl des Verlustes begleitet, wie zwei Sanitäter ums Haus herumkamen und die sterblichen Überreste des Unbekannten auf eine Segeltuchtrage hievten. Ein Stück weiter hinten umrundete Dogger den Balaklawa-Brunnen, wo er eifrig damit beschäftigt war, weitere Lady Hillingdons zu enthaupten.

Alle hatten zu tun. Mit ein wenig Glück konnte ich ungestört

Ich schlich die Treppe hinab und zur Haustür hinaus, holte Gladys, mein braves altes BSA-Fahrrad, an der Steinurne ab, an die ich »sie« gelehnt hatte, und kurz darauf fuhr ich wild strampelnd in Bishop’s Lacey ein.

Welchen Namen hatte Vater da erwähnt?

Twining. Richtig: ›der olle Teebeutel‹. Und ich wusste genau, wo ich ihn finden würde. 

5

Die Leihbücherei von Bishop’s Lacey befand sich in der Cow Lane, einer schmalen, schattigen, von Bäumen gesäumten Gasse, die von der Hauptstraße zum Fluss hinunterführte. Das ursprüngliche Gebäude war ein bescheidener, schwarzer georgianischer Ziegelbau, dessen Farbfoto einmal sogar auf der Titelseite von Country Life erschienen war. Ein gewisser Lord Margate hatte es der Gemeinde vermacht, ein Spross des Dorfes, der in die Welt hinausgezogen war, um sein Glück zu machen, und zu Wohlstand gekommen war, indem er während des Burenkrieges als Königlicher Hoflieferant mit Exklusivvertrag Beef-Chips an die Regierung Ihrer Majestät liefern durfte - ein Corned Beef in Dosen, das er selbst erfunden hatte.

Seit 1939 schon war die Bücherei eine Oase der Stille. Einmal, als sie wegen Renovierungsarbeiten geschlossen gewesen war, hatte es darin gebrannt. Ein Haufen Malerlumpen hatte sich von selbst entzündet, gerade als Mr Chamberlain dem britischen Volk seine berühmte Rede »Solange der Krieg noch nicht begonnen hat, besteht die Hoffnung, dass er noch verhindert werden kann« hielt. Da sich alle erwachsenen Einwohner von Bishop’s Lacey um die Rundfunkempfänger versammelt hatten, war der Brand von niemandem, nicht einmal von der sechsköpfigen Freiwilligen Feuerwehr, rechtzeitig entdeckt worden. Als die Feuerwehrleute schließlich mit ihrer handbetriebenen Pumpe anrückten, war das Haus nur noch ein glimmendes Aschehäuflein. Den Büchern war zum Glück

Kurz darauf brach der Krieg aus, und weil auch nach Kriegsende überall die Mittel knapp waren, wurde das Haus nicht wieder aufgebaut. An der Stelle, wo es gestanden hatte, in der Cater Street, befand sich jetzt lediglich eine unkrautüberwucherte Brache, gleich um die Ecke vom Dreizehn Erpel. Da das Grundstück den Dorfbewohnern auf unbegrenzte Zeit vermacht worden war, durfte es nicht verkauft werden, und die eigentlich nur übergangsweise eingerichteten Räumlichkeiten in der Cow Lane, in denen die Buchbestände lagerten, boten der Bücherei inzwischen eine dauerhafte Heimat.