Ich ließ den Löffel fallen, dass es nur so schepperte.
»Das stimmt nicht! Ich bin Harriet wie aus dem Gesicht geschnitten! Das sagen alle.«
»Eben deswegen hat Mama im Heim für ledige Mütter gerade dich ausgesucht.« Ophelia schnitt eine angeekelte Grimasse.
»Wie konnte ich ihr denn ähnlich sehen, wo ich doch ein Neugeborenes war und sie eine Erwachsene?« So leicht ließ ich mich nicht ins Bockshorn jagen.
»Weil du sie an ihre eigenen Babybilder erinnert hast. Herrje, sie hat die Fotos sogar mitgeschleppt und zum Vergleich neben dich gehalten.«
Ich wandte mich an Daphne, die ihre Nase tief in eine ledergebundene Ausgabe von Die Burg von Otranto steckte. »Das ist gelogen, Daffy, stimmt’s?«
»Leider nein.« Daphne schlug behutsam eine zwiebelhautdünne Seite um. »Vater hat immer gesagt, dass es dich aus den Schuhen hauen wird, wenn du es eines Tages erfährst. Wir mussten ihm beide schwören, dass wir es dir nie verraten würden. Jedenfalls nicht vor deinem elften Geburtstag. Wir mussten einen richtigen Eid ablegen.«
»Eine grüne Gladstone-Tasche«, mischte sich Ophelia wieder ein, »hab ich selber gesehen. Ich hab gesehen, wie Mama ihre eigenen Babyfotos in eine grüne Gladstone-Tasche gesteckt hat und in das Heim gefahren ist. Ich war damals zwar erst sechs, fast sieben, aber ich werde ihre vornehm blassen Hände niemals vergessen … wie sie mit ihren schlanken Fingern die Messingschließe zugemacht hat.«
Ich brach in Tränen aus, sprang auf und rannte aus dem Esszimmer. Erst am nächsten Morgen beim Frühstück kam mir das Gift in den Sinn.
Wie alle großartigen Pläne war auch dieser ganz einfach.
Buckshaw war seit undenklichen Zeiten das Zuhause unserer Familie, der de Luces. Das jetzige Gebäude im georgianischen Stil wurde errichtet, nachdem das ursprüngliche elisabethanische Haus von den Dorfbewohnern, die den de Luces unterstellten, mit den Oraniern zu sympathisieren, bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden war. Dass wir vierhundert Jahre lang glühende Katholiken gewesen waren und sich daran auch nichts geändert hatte, konnte die aufgebrachten Bürger von Bishop’s Lacey nicht besänftigen. Das »Alte Haus«, wie es damals hieß, war in Flammen aufgegangen, und inzwischen
Zwei spätere Familienmitglieder, Antony und William de Luce, die über den Krimkrieg in Streit geraten waren, hatten die Anlage verschandelt, indem jeder nachträglich einen Flügel hatte anbauen lassen: William den Ostflügel, Antony den Westflügel.
Jeder hatte sich in sein höchsteigenes Herrschaftsgebiet zurückgezogen, und jeder hatte dem anderen untersagt, auch nur einen Fuß über den schwarzen Strich zu setzen, den sie quer durch die vordere Eingangshalle, das Vestibül und das Wasserklosett des Butlers hinter der Treppe gezogen hatten. Die beiden gelben, pustelhaft viktorianischen Ziegelanbauten, zeigten wie die steinernen Schwingen eines Friedhofsengels nach hinten, was den hohen Fenstern und Fensterläden der georgianischen Fassade in meinen Augen das affektierte, leicht verdutzte Aussehen einer alten Jungfer mit schmerzhaft straffem Haarknoten verlieh.
Ein späterer de Luce - Tarquin, auch »Tar« genannt - hinterließ nach einem spektakulären Nervenzusammenbruch das, was einmal eine brillante Chemikerkarriere zu werden versprach, als Scherbenhaufen. Er wurde in dem Sommer, in dem Königin Viktoria ihr fünfundzwanzigjähriges Thronjubiläum beging, von der Universität Oxford verwiesen.
Tars nachsichtiger Vater, stets besorgt um die schwache Gesundheit seines Sohnes, hatte weder Kosten noch Mühen gescheut, ihm im obersten Stock des Ostflügels ein richtiges Labor einzurichten: komplett mit Glasbehältern, Mikroskopen und einem Spektroskop aus Deutschland, Messingwaagen aus Luzern sowie einer verwirrend geformten, mundgeblasenen deutschen Geißlerröhre, an der Tar elektrische Spulen befestigen konnte, um zu untersuchen, wie verschiedene Gase fluoreszieren.
Auf einem Schreibtisch vor dem Fenster stand ein Leitz-Mikroskop,
Es gab sogar ein Skelett auf einem Rollständer, das Tar im zarten Alter von zwölf Jahren von dem berühmten Naturforscher Frank Buckland geschenkt bekommen hatte, dessen Vater einst das mumifizierte Herz von König Ludwig XIV. verzehrt hatte.
Drei Wände waren mit deckenhohen Schränken und Vitrinen versehen, von denen wiederum zwei mit Chemikalien in gläsernen Apothekengefäßen vollgestellt waren, ein jedes mit Tar de Luces akribischer Handschrift beschriftet, denn Tar hatte dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen und sie alle überlebt. Er war 1928 im Alter von sechzig Jahren inmitten seines chemischen Königreichs gestorben, wo er eines Morgens von seinem Verwalter gefunden wurde, am Schreibtisch sitzend und mit dem gebrochenen Auge durch sein geliebtes Leitz-Mikroskop spähend. Man munkelte, er habe sich mit dem Zerfall erster Ordnung von Stickstoffpentoxid beschäftigt. Wenn das stimmt, handelt es sich um die erste belegte Forschung zu einer Reaktion, die letztendlich zur Entwicklung der Atombombe führte.
Onkel Tars Schatzkammer wurde verschlossen und verharrte in staubiger ungestörter Stille, bis das, was Vater meine »skurrile Begabung« nannte, zutage trat und ich so weit war, das Labor für mich zu beanspruchen.
Mich überläuft immer noch jedes Mal ein freudiger Schauer, wenn ich an den regnerischen Herbsttag denke, an dem die Chemie in mein Leben trat.
Ich war beim Bergsteigerspielen in der Bibliothek an den Regalen hochgeklettert, als ich mit dem Fuß abrutschte und ein dickes Buch zu Boden polterte. Als ich es aufhob und die zerknitterten Seiten glatt streichen wollte, sah ich, dass es nicht nur Worte, sondern auch lauter Abbildungen enthielt. Zum Beispiel gossen körperlose Hände Flüssigkeiten in eigenartig geformte Glasbehälter, die außerirdischen Musikinstrumenten glichen.
Der Titel des Buches lautete Grundzüge der Chemie, und ich entnahm dem Werk im Handumdrehen, dass das Wort Jod von »violett« und das Wort »Brom« vom griechischen Wort für »Gestank« abgeleitet ist. Hochspannend! Ich schob den dicken roten Wälzer unter meinen Pullover und nahm ihn mit nach oben in mein Zimmer, und erst viel später entdeckte ich, dass jemand H. de Luce auf das Vorsatzblatt geschrieben hatte. Das Buch hatte Harriet gehört.
Schon bald vertiefte ich mich in jeder freien Minute in meine neue Errungenschaft. Abends konnte ich es manchmal kaum erwarten, endlich ins Bett gehen zu dürfen. Harriets Buch war inzwischen mein heimlicher Freund.
Es führte sämtliche Alkalimetalle eingehend auf: Metalle mit wunderlichen Namen wie Lithium und Rubidium, außerdem Erdalkalien wie Strontium, Barium und Radium. Als ich las, dass eine Frau, nämlich Madame Curie, das Radium entdeckt hatte, stieß ich einen Freudenschrei aus.
Und dann die Giftgase: Phosphin, Arsin (von dem eine einzige Blase tödlich sein kann), Stickstoffpentoxid, Schwefelwasserstoff … die Liste war schier endlos. Als ich entdeckte, dass mein Buch auch noch ausführliche Anleitungen für die Herstellung dieser Stoffe enthielt, war ich im siebten Himmel.
Sobald ich mir beigebracht hatte, wie man chemische Gleichungen liest (etwa K4FeC6N6 + 2K = 6KC N + Fe, womit die Reaktion beschrieben wird, die auftritt, wenn man das gelbe Prussiat Pottasche oder auch Kalziumkarbonat erhitzt, um Kaliumzyanid
Am spannendsten fand ich aber, dass alles (die ganze Schöpfung - ohne Ausnahme!) von unsichtbaren chemischen Verbindungen zusammengehalten wurde. Und ich fand es aus unerfindlichen Gründen ausgesprochen tröstlich, dass es irgendwo - selbst wenn es unsereiner nicht sehen kann - etwas unerschütterlich Dauerhaftes gibt.