Dogger war es auch gewesen, der mir seinerzeit geduldig beigebracht hatte, wie man Schlösser knackt. Ich hatte ihn eines Tages dabei angetroffen, wie er sich an der Gewächshaustür zu schaffen gemacht hatte. Bei einem seiner »Vorfälle« hatte er den Schlüssel verloren und mühte sich nun mit den verbogenen Zinken einer ausgemusterten Küchengabel ab, die er in einem Blumentopf gefunden hatte.
Seine Hände zitterten heftig. Wenn Dogger in diesem Zustand war, hatte man immer den Eindruck, als bekäme man sofort einen elektrischen Schlag, wenn man ihn nur antippte. Trotzdem hatte ich ihm meine Hilfe angeboten, woraufhin er mir gezeigt hatte, wie man mit einem Dietrich umgeht.
»Eigentlich ist es ganz einfach, Miss Flavia«, verkündete er nach meinem dritten vergeblichen Versuch. »Du musst nur immer an die drei D denken: Drehmoment, Druck und Durchhalten! Stell dir vor, du wohnst in diesem Schloss. Hör auf deine Fingerspitzen.«
»Wo hast du das gelernt?«, fragte ich staunend, als das Schloss aufsprang. Wenn man den Bogen erst einmal raushatte, war es geradezu kinderleicht.
»Irgendwo und irgendwann«, erwiderte Dogger und verschwand im Gewächshaus, wo er sich sofort in irgendeine Arbeit vertiefte, sodass ich mich nicht mehr traute, genauer nachzufragen.
Obwohl die Sonne freundlich durch mein Laborfenster schien, konnte ich einfach keinen klaren Gedanken fassen. Ich war immer noch mit dem beschäftigt, was mir Vater erzählt hatte. Dazu kam das, was ich auf eigene Faust herausgefunden hatte: wie Mr Twining und Horace Bonepenny zu Tode gekommen waren.
Was hatte es mit dem Barett und dem Talar auf sich, die ich auf dem Dach von Anson House gefunden hatte? Wem hatten sie gehört und warum hatte der Betreffende sie dort oben versteckt?
Sowohl Vaters Schilderung als auch der Reporter des Hinley-Kurier hatten bestätigt, dass Mr Twining seinen Talar trug, als er in den Tod stürzte. Dass beide sich geirrt hatten, war ausgesprochen unwahrscheinlich.
Dann war da der Diebstahl des Rächers von Ulster aus dem
Was mochte aus Dr. Kissing geworden sein? Ob Miss Mountjoy das wusste? Sie schien ja auch sonst alles zu wissen. Lebte der alte Herr womöglich noch? Ich zweifelte sehr daran. Seit er seine kostbarste Marke scheinbar in Flammen hatte aufgehen sehen, waren dreißig Jahre vergangen.
Mir schwirrte der Kopf, mein Hirn war wie Watte. Meine Nebenhöhlen waren verstopft, meine Augen tränten, und ich spürte, dass ein ganz fieses Kopfweh im Anmarsch war. Ich musste etwas unternehmen, um auf andere Gedanken zu kommen.
Letztendlich war ich ja selber schuld. Ich hatte mir kalte Füße geholt. Mrs Mullet sagte immer: »Warme Füße, kühler Kopf, dann macht die Nase auch nicht ›tropf‹.« Wenn man sich eine Erkältung eingefangen hatte, gab es nur ein wirkungsvolles Gegenmittel, darum ging ich in die Küche hinunter, wo Mrs Mullet mit Teigausrollen beschäftigt war.
»Du schniefst ja, Schatz«, sagte sie, ohne von ihrem Nudelholz aufzublicken. »Ich mach dir gleich einen schönen Teller Hühnerbrühe.« Konnte sie hellsehen?
Bei »Hühnerbrühe« dämpfte sie die Stimme zu einem Flüstern und warf einen verschwörerischen Blick über die Schulter.
»Heiße Hühnerbrühe!«, raunte sie. »Ein Geheimtipp, den mir Mrs Jacobson beim Teekränzchen der Landfrauen verraten hat. Das Rezept befindet sich schon seit der Flucht aus Ägypten in ihrer Familie. Aber ich habe nichts gesagt, verstanden?«
Mrs Mullets zweite Lieblingsdorfweisheit rankte sich um Eukalyptus. Sie hatte Dogger gezwungen, im Gewächshaus Eukalyptusbäume zu pflanzen, und anschließend die Blätter unverdrossen überall auf Buckshaw als Schutz gegen Erkältung und Grippe versteckt.
»Hat man Eukalyptus hier, bleibt die Grippe vor der Tür!«, hatte sie triumphierend verkündet und tatsächlich Recht behalten. Seit sie die wächsernen dunkelgrünen Blätter an unverdächtigen Orten im ganzen Haus versteckt hatte, hatte keiner von uns auch nur einen Schnupfen gehabt.
Bis jetzt. Anscheinend war etwas schiefgegangen.
»Nein danke, Mrs Mullet«, lehnte ich ab, »ich habe mir grade die Zähne geputzt.«
Das war zwar gelogen, aber etwas Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Abgesehen davon, dass meiner Ausrede etwas Märtyrerhaftes anhaftete, hatte sie den zusätzlichen Vorteil, meinen angeschlagenen Ruf in punkto Körperpflege aufzupolieren. Auf dem Weg nach draußen mopste ich aus der Speisekammer eine Flasche mit gelbem Granulat, die mit dem Etikett Partingtons Geflügelfond versehen war, und von einem Wandkerzenhalter im Flur bediente ich mich mit einer Handvoll Eukalyptusblätter.
Oben im Labor holte ich eine Flasche Natriumkarbonat aus dem Regal, die Onkel Tar in seiner spinnenhaften, gestochen scharfen Handschrift mit der Aufschrift Sal aeratus versehen hatte, und obendrein, akribisch wie immer, mit Sod. Bicarb., um es von Kaliumbikarbonat zu unterscheiden, das manchmal auch als Sal aeratus bezeichnet wird. Pot. Bicarb. war eher in Feuerlöschern als in menschlichen Mägen zu finden.
Ich kannte das Zeug als NaHCO3, vom einfachen Volk auch kurz »Natron« beziehungsweise »Backpulver« genannt. Irgendwo hatte ich auch gehört, dass diese Leute einer tüchtigen Dosis Natron sogar zutrauen, noch die hartnäckigste Erkältung aus dem Körper zu schwemmen.
Chemisch gesehen ist das durchaus folgerichtig, überlegte ich, denn wenn Natron ein Heilmittel ist und Hühnerbrühe auch, dann müsste doch ein Glas sprudelnder Hühnerbrühe wahre Wunder wirken! Mir wurde ganz schwindlig. Vielleicht De Luce’s Grippelösung - Flavias Famose Formel!
Ich summte sogar vergleichsweise vergnügt vor mich hin, während ich einen Viertelliter Trinkwasser in ein Becherglas gab und das Gefäß auf den Bunsenbrenner stellte. Inzwischen kochte ich die klein gerissenen Eukalyptusblätter in einem verschlossenen Glaskolben auf und sah zu, wie sich strohgelbe Öltropfen am Ende der Destillationsschlange absetzten.
Als das Wasser aufsprudelte, nahm ich es von der Flamme und ließ es ein paar Minuten abkühlen, dann gab ich zwei gehäufte Teelöffel Partingtons Geflügelfond und einen Esslöffel gutes altes NaHCO3 hinein.
Anschließend rührte ich kräftig um, bis das Gebräu wie der Vesuv über den Rand des Becherglases brodelte, hielt mir die Nase zu und kippte mir die Hälfte in den Schlund. Ein Schluck, und es war unten.
Hühnersekt! O Herr, schütze uns alle, die wir uns im Weinberg der Experimentalchemie abrackern!
Ich nahm den Stopfen vom Kolben und kippte das Eukalyptuswasser samt den Blättern in die Reste der gelben Suppe. Dann zog ich den Pullover aus, drapierte ihn mir als Inhalierhaube um den Kopf und atmete die kampferhaltigen Dämpfe von Geflügeleukalyptus ein. Schon spürte ich, wie irgendwo in den verschleimten Abgründen meines Schädels meine Nebenhöhlen die Waffen streckten. Ich fühlte mich schon beträchtlich besser.
Da klopfte es so laut, dass mir beinahe das Herz stehen blieb. In diesen Teil des Hauses verirrte sich so selten jemand, dass ein Klopfen so unerwartet kam wie die unvermittelten Orgelakkorde in einem Horrorfilm, wenn die Tür aufgeht, hinter der lauter Leichen liegen. Ich schob den Riegel zurück. Im Flur stand Dogger und wrang seine Mütze in den Händen wie eine
Als ich seine Hände nahm, hörten sie sofort zu zittern auf. Auch wenn ich diese Erkenntnis nicht oft in die Tat umsetzte, so hatte ich doch die Erfahrung gemacht, dass eine Berührung manchmal mehr sagen kann als hundert Worte.
»Wie lautet die Losung?«, fragte ich, verschränkte die Finger und legte die Hände auf den Kopf.
Dogger sah mich ungefähr fünf Sekunden verdattert an, dann wurden seine angespannten Züge milder und er hätte beinahe gelacht. Wie ein Automat verschränkte er die Finger und ahmte mich nach.