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Eine volle Dreiviertelstunde hatte ich damit verbracht, Dogger zu überreden, ihm einen mit Eiswürfeln gefüllten Waschlappen auf den Nacken legen zu dürfen, aber er hat te sich standhaft geweigert. Ruhe, hatte er mir versichert, sei das Einzige, was er nun brauche. Dann war er in sein Zimmer gegangen.
Von meinem Fenster aus sah ich Feely auf der Südseite des Hauses auf dem Rasen liegen. Sie räkelte sich auf einer Decke und war damit beschäftigt, mithilfe mehrerer Hefte der Bildpost die Sonnenstrahlen einzufangen und auf beide Seiten ihres Gesichts zu lenken. Ich nahm Vaters altes Militärfernglas und inspizierte ihren Teint aus der Nähe. Nachdem ich ihr Gesicht ausgiebig studiert hatte, hielt ich folgende Bemerkungen in meinem Notizbuch fest:
Montag, 5. Juni 1950, 9.15 Uhr. Versuchsperson wirkt äu
ßerlich normal.
54 Stunden seit Verabreichung. Lösung zu schwach? Ver
suchsperson immun? Die Eskimos auf der Baffin-Insel
sind bekanntlich gegen Giftefeu immun. Bestätigt das
etwa meine Vermutung?
Aber ich war nicht recht bei der Sache. Es fiel mir schwer, mich auf Feely zu konzentrieren, wenn ich andauernd an Vater und Dogger denken musste. Ich musste meine Gedanken irgendwie festhalten.
Darum blätterte ich um und schrieb:
Mögliche Verdächtige
VATER: Bestes Motiv von allen. Kannte den Toten schon fast sein ganzes Leben lang; wurde erpresst, hat sich kurz vor dem Mord mit Opfer gestritten. Wo er sich zum Tatzeitpunkt aufgehalten hat, ist unbekannt. Insp. Hewitt hat ihn bereits verhaftet und des Mordes beschuldigt, weshalb wir wissen, auf wen sich der Verdacht der Polizei konzentriert!
DOGGER: Schlecht einzuschätzen. Ich weiß nicht viel über seine Vergangenheit, aber er ist Vater gegenüber bedingungslos loyal. Hat Vaters Streit mit Bonepenny belauscht (ich aber auch) und womöglich beschlossen, die Erpressung aus der Welt zu schaffen. Leidet an »Vorfällen«, die sein Gedächtnis beeinträchtigen. Könnte er Bonepenny während eines solchen Vorfalls umgebracht haben? Womöglich aus Versehen (Unfall)? Aber wer hat ihn dann niedergeschlagen?
MRS MULLET: Kein Motiv, es sei denn, sie wollte sich an demjenigen rächen, der ihr eine tote Schnepfe vor die Küchentür gelegt hat. Zu alt.
DAPHNE de LUCE und OPHELIA de LUCE: Quatsch! Sind viel zu sehr in Bücher und Spiegel vertieft, als dass sie auch nur der Küchenschabe in ihrem Suppenteller ein Härchen krümmen könnten. Haben Opfer nicht gekannt, hatten kein Motiv und lagen schnarchend im Bett, als Bonepenny sein Leben aushauchte. Fall abgeschlossen, was diese beiden Gänse angeht.
MARY STOKER: Motiv: Bonepenny hat sich ihr im
Dreizehn Erpel unsittlich genähert. Ist sie ihm nach Buckshaw gefolgt und hat ihn im Gurkenbeet abgemurkst? Eher unwahrscheinlich.
TULLY STOKER: Bonepenny war Gast im Dreizehn
Erpel. Hat Tully erfahren, was Mary zugestoßen ist? Wollte er seine Tochter rächen? Oder ist ein zahlender Gast wichtiger als die Ehre der eigenen Tochter?
NED CROPPER: Ist scharf auf Mary (und andere). Wusste, was zwischen Mary und Bonepenny vorgefallen war. Wollte ihn womöglich kaltmachen. Gutes Motiv, aber kein Indiz, dass er in jener Nacht auf Buckshaw war. Könnte er Bonepenny irgendwo anders umgebracht und in einer Schubkarre hergebracht haben? Aber Tully könnte das genauso gut gemacht haben. Oder Mary!
MISS MOUNTJOY: Sehr überzeugendes Motiv. Ist davon überzeugt, dass Bonepenny (und Vater) ihren Onkel,
Mr Twining, umgebracht haben. Problem: Alter. Kann mir nicht vorstellen, dass Mountjoy einen großen, starken Kerl wie Bonepenny niederringt. Es sei denn, sie hat Gift benutzt. Frage: Was ist seine offizielle Todesursache? Ob Insp. Hewitt es mir verrät?
INSPEKTOR HEWITT: Polizist. Nur der Vollständigkeit halber hier aufgeführt. War zur Tatzeit nicht auf Buckshaw und hat kein (mir bekanntes) Motiv. (Ist er ebenfalls Schüler in Greyminster gewesen?)
DETECTIVE SERGEANTS WOOLMER & GRAVES: dito.
FRANK PEMBERTON: Kam erst nach dem Mord in Bishop’s Lacey an.
MAXIMILIAN BROCK: Gaga, zu alt, kein Motiv.
Ich las die Liste dreimal durch und hoffte, dass ich niemanden vergessen hatte. Dann kam mir blitzartig ein Gedanke: War Horace Bonepenny nicht Diabetiker gewesen? Im Dreizehn Erpel hatte ich seine Insulinspritzen gefunden, und eine Spritze hatte gefehlt. Hatte er sie irgendwo verloren? Oder hatte jemand die Spritze geklaut?
Bonepenny hatte höchstwahrscheinlich die Fähre von Stavanger
Soweit mir bekannt war, hatte er die ganze Zeit über nichts gegessen! Die Pastetenkruste in seinem Zimmer (belegt durch die Feder) stammte von der Pastete, in der er die tote Zwergschnepfe ins Land geschmuggelt hatte. Hatte Tully Stoker dem Inspektor nicht erzählt, sein Gast habe in der Schankstube etwas getrunken? Von Essen war nicht die Rede gewesen!
Wenn Bonepenny nun, nachdem er zu Fuß nach Buckshaw gegangen war und Vater erpresst hatte, durch die Küche wieder nach draußen gegangen war - was sehr wahrscheinlich war - und den Schmandkuchen auf dem Fensterbrett erblickt hatte? Wenn er sich nun ein Stück abgeschnitten und es heruntergeschlungen hatte, danach in den Garten gegangen war und einen Zuckerschock erlitten hatte? Mrs Mullets Schmandkuchen hauten uns Bewohner von Buckshaw schließlich auch um, und wir waren keine Diabetiker!
Wenn nun tatsächlich Mrs Mullets Kuchen die Todesursache, wenn das Ganze bloß ein dummer Zufall gewesen war? Wenn alle auf meiner Liste aufgeführten Verdachtspersonen unschuldig waren? Wenn Bonepenny überhaupt nicht umgebracht worden war?
Wenn dem so wäre, Flavia, meldete sich meine innere Stimme bekümmert zu Wort, warum hatte Inspektor Hewitt dann Vater festgenommen und Anklage gegen ihn erhoben?
Mir lief zwar immer noch die Nase, und die Augen tränten, aber ich hatte den Eindruck, als zeigte mein Hühnertrank allmählich Wirkung. Ich las mir die Liste der Verdächtigen noch einmal durch und grübelte, bis ich Kopfschmerzen bekam.
Ich kam zu keinem Schluss. Daraufhin hielt ich es für das 2O oder auch Lachgas genannt, etwas, das Buckshaw und seine Bewohner dringend nötig hatten.
Lachgas und ein Mordfall - eine komische Kombination. Oder doch nicht?
Ich dachte an meine Heldin Marie Anne Paulze Lavoisier, eine der Koryphäen der Chemie, deren Porträt, neben anderen Unsterblichen, in meinem Zimmer am Spiegel hing. Sie hatte das Haar wie einen Heißluftballon aufgetürmt, und neben ihr stand ihr Gatte Antoine, schaute sie bewundernd an und störte sich offenkundig kein bisschen an der albernen Frisur. Das Porträt stammte aus der Zeit der Französischen Revolution und zeigte die beiden in Antoines Labor, wo sie sämtliche Körperöffnungen ihres Gehilfen mit Pech und Bienenwachs verschlossen und ihn in einen Schlauch aus gefirnisster Seide gesteckt hatten, von wo aus er durch einen Strohhalm in Lavoisiers Messinstrumente atmete, worauf, als Marie Anne Paulze Lavoisier eben eine Darstellung des Experiments zeichnete, die Revolutionäre die Tür eintraten und ihren Mann zur Guillotine schleiften.
Ich hatte Feely diese grausig amüsante Anekdote erzählt.
»Eigentlich hätte ich es eher einer Person niederen Standes zugetraut, dass sie unbedingt eine Heldin nötig hat«, hatte sie arrogant genäselt.
Aber alle diese Überlegungen führten zu nichts. Ich schweifte immer wieder ab, meine Gedanken waren so wirr wie die Strohhalme in einem Heuhaufen. Ich musste irgendeinen Katalysator finden, wie es beispielsweise Kirchhoff gelungen war. Er hatte entdeckt, dass in Wasser gekochte Stärke immer noch Stärke blieb; wenn man aber ein paar Tropfen Schwefelsäure hinzugab, wurde die Stärke in Glukose umgewandelt. Ich hatte das Experiment einmal wiederholt, um mich zu vergewissern,