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Ich ging wieder ins Haus, das mir nun seltsam still vorkam. Vor dem Salon blieb ich stehen und lauschte, aber es war nichts zu hören, weder eine klavierspielende Feely noch eine seitenumblätternde Daffy. Ich machte die Tür auf.

Der Salon war leer. Mir fiel ein, dass meine Schwestern beim Frühstück davon gesprochen hatten, nach Bishop’s Lacey zu spazieren, um ihre Briefe zur Post zu bringen. Abgesehen von Mrs Mullet, die in der Küche werkelte, und Dogger, der sich oben ausruhte, war ich, womöglich zum allerersten Mal, ganz allein auf Buckshaw.

Um Gesellschaft zu haben, stellte ich das Radio an, und als sich die Röhren erwärmt hatten, erfüllten die Klänge einer Operette das Zimmer. Es war Gilbert und Sullivans Der Mikado, eine meiner Lieblingsoperetten. Wäre es nicht herrlich, hatte ich irgendwann einmal gedacht, wenn Feely, Daffy und ich so glücklich und sorglos sein könnten wie Yum-Yum und ihre beiden Schwestern?

Schulmädchen bringen frischen Wind,

Kess wie wir Gören nun mal sind

Schocken wir Eltern, Pauker, Kind -

Drei Mädchen aus der Schul’!

Ich lächelte, als alle drei abwechselnd sangen:

Alles ist für uns nur ein Spaß.

s’ gibt kein Pardon, wenn es heißt: Gib Gas!

Leben heißt Freude im Übermaß!

Drei Mädchen aus der Schul’!

Von Musik umfangen, warf ich mich in einen üppig gepolsterten Sessel und ließ die Beine über die Lehne baumeln, nahm

Ich musste kurz eingeschlafen sein, vielleicht war es auch nur ein Tagtraum gewesen, keine Ahnung, aber als ich hochschreckte, sang der kaiserliche Oberhofscharfrichter gerade:

Er schnuppert Duft

Von Kerkerluft

Sofort musste ich wieder an Vater denken, und Tränen schossen mir in die Augen. Wir waren nicht in einer Operette, dachte ich. Das Leben war kein Spaß, es gab nicht nur Freude im Übermaß, und Feely und Daffy und ich waren keine drei kleinen Schulmädchen, sondern drei Schwestern, deren Vater des Mordes beschuldigt wurde. Ich sprang auf und wollte das Radio abstellen, aber als ich schon den Finger auf dem Knopf hatte, verkündete der Scharfrichter unerbittlich aus dem Lautsprecher:

So wird jeder Kerkergast

Erfahr’n, dass, auch wenn’s verhasst

Die Strafe zum Verbrechen passt

Die Strafe zum Verbrechen passt …

Dass die Strafe zum Verbrechen passt. Aber klar! Flavia, Flavia, Flavia! Wie konntest du das übersehen?

Wie eine Stahlkugel, die in eine Kristallglasvase fällt, machte es Klick! und ich wusste so sicher, wie ich meinen eigenen Namen kannte, dass Horace Bonepenny umgebracht worden war.

Fehlte nur noch eines (na ja, eigentlich zweierlei, höchstens dreierlei), um alles, hübsch verpackt wie eine Pralinenschachtel, Inspektor Hewitt zu präsentieren, mit rotem Schleifchen

»Mrs M«, fragte ich, »darf ich ganz offen mit Ihnen reden?«

Sie drehte sich um und wischte sich die Hände an der Schürze ab.

»Aber gewiss doch, Schatz. Machst du das nicht immer?«

»Es geht um Dogger.«

Ihr gutmütiges Lächeln gerann, und sie wandte sich wieder ab und machte sich an einem Knäuel Küchenfaden zu schaffen, mit dem sie den Vogel zum Braten zusammenbinden wollte.

»Heutzutage ist aber auch alles Schund«, brummte sie. »Sogar die olle Schnur. Erst letzte Woche hab ich zu Alf gesagt: ›Der Faden, wo du aus der Schreibwarenhandlung mitgebracht hast … ‹«

»Bitte, Mrs Mullet«, flehte ich, »ich muss Sie etwas fragen! Es geht um Leben und Tod! Bitte!«

Sie sah mich über ihre Brille an wie eine Kirchenvorsteherin, und zum ersten Mal überhaupt kam ich mir in ihrer Gegenwart wie ein kleines Mädchen vor.

»Sie haben mir doch mal erzählt, dass Dogger im Gefängnis war und dass er sich von Rattenfleisch ernähren musste. Und dass er gefoltert wurde.«

»Genauso war’s, Schatz. Mein Alf meint ja, ich hätt’s nicht ausplaudern sollen, und es ist besser, man spricht gar nicht drüber. Der alte Dogger ist eh schon so mit den Nerven runter.«

»Und woher wissen Sie das? Das mit dem Gefängnis, meine ich.«

»Mein Alf war schließlich auch beim Militär. Hat’ne Weile unter dem Colonel gedient, zusammen mit Dogger. Er redet da

»Hat Dogger damals jemanden umgebracht?«, fragte ich ohne Umschweife.

»Würd ich doch meinen, Schatz. Er und alle anderen. Das war doch schließlich ihre Aufgabe, verstehst du?«

»Ich meine von irgendwelchen Feinden abgesehen.«

»Dogger hat deinem Vater das Leben gerettet, und nicht nur einmal. Er war Sanitäter oder so was, und zwar ein tüchtiger. Angeblich hat er deinem Vater eine Kugel aus der Brust geholt, gleich neben dem Herzen. Als er ihn wieder zunähen wollte, ist ein Bursche von der Luftwaffe durchgedreht, Kriegskoller hatte der, und wollte alle im Zelt niederstechen. Das hat Dogger verhindert.«

Mrs Mullet zog den letzten Knoten fest und schnitt den Faden mit der Schere ab.

»Verhindert?«

»Ja, Schatz.«

»Sie meinen, er hat den Mann umgebracht.«

»Dogger konnte sich hinterher an nichts mehr erinnern. Er hatte wohl seine fünf Minuten, weißt du, und …«

»Und Vater glaubt jetzt, dass es wieder passiert ist, dass ihm Dogger noch einmal das Leben gerettet hat, indem er Horace Bonepenny umgebracht hat! Darum beschuldigt er sich selbst!«

»Damit kenn ich mich nicht aus, Schatz, aber ich trau es dem Colonel zu.«

So musste es sein! Es war die einzige Erklärung. Was hatte Vater doch gleich gesagt, als ich ihm erzählt hatte, dass auch

Es war eben doch wie in einer Operette von Gilbert und Sullivan. Ich hatte Vater in Schutz nehmen wollen, Vater wiederum nahm Dogger in Schutz. Fragte sich: Wen nahm Dogger in Schutz?

»Vielen Dank, Mrs M«, sagte ich. »Natürlich behandle ich unsere Unterhaltung streng vertraulich. Kein Wort kommt über meine Lippen.«

»Großes Mädchenehrenwort.« Sie schmunzelte abstoßend vertraulich.

Das ging zu weit! Das war mir entschieden zu kumpelhaft und banal. Ein reichlich unedler Charakterzug brach sich in mir Bahn, und ich verwandelte mich im Handumdrehen in Flavia, die Rächerin mit den Zöpfen, deren Auftrag darin bestand, diese grausame und unerbittliche Kuchenmaschine zum Stillstand zu bringen.

»Einverstanden«, entgegnete ich. »Großes Mädchenehrenwort. Und da wir gerade bei vertraulichen Geständnissen sind, kann ich Ihnen bei der Gelegenheit auch gleich anvertrauen, dass sich keiner von uns etwas aus Ihrem Schmandkuchen macht. Genauer gesagt: Wir können das Zeug nicht ausstehen!«

»Na und? Das weiß ich doch längst«, erwiderte sie.

»Ach ja?«, war alles, was mir dazu einfiel, so verdutzt war ich.

»Aber gewiss doch. Einer Köchin bleibt nix verborgen«, antwortete sie. »Miss Harriet war noch am Leben, da hab ich schon begriffen, dass die de Luces und Schmand nicht zusammenpassen.«

»Aber …«

»Warum ich den Kuchen trotzdem backe? Weil Alf dann und wann Lust auf’n schönen Schmandkuchen hat. Miss Harriet pflegte zu sagen: ›Die de Luces sind allesamt steife Rhabarber

»Dann ist es ja jetzt vielleicht mal gut«, entgegnete ich.

Ich machte, dass ich rauskam, und stürmte in einer Staubwolke davon.