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21

Im Flur machte ich Halt und lauschte reglos. Dank der Par kettböden und getäfelten Wände hatte Buckshaw eine mindestens so gute Akustik wie die Royal Albert Hall. Auch wenn alles still war, herrschte auf Buckshaw eine ganz besondere Stille, die ich überall wiedererkannt hätte.

Behutsam nahm ich den Telefonhörer ab und drückte ein paarmal auf die Gabel.

»Ein Ferngespräch nach Doddingsley bitte. Tut mir leid, die Nummer habe ich gerade nicht parat, aber ich möchte mit dem dortigen Gasthaus verbunden werden … wie heißt es doch gleich? Zum roten Fuchs oder Zum reichen Fährmann … jedenfalls irgendwas mit R und F.«

»Augenblick bitte«, erwiderte die gelangweilte, aber kompetent klingende Stimme am anderen Ende der knackenden Leitung.

Das konnte ja wohl nicht so schwer sein, dachte ich. Das R F lag gleich am Bahnhof, gegenüber vom Bahnsteig, und Doddingsley war schließlich keine Weltstadt.

»Ich habe hier nur Einträge für die Traubenstube und Zum fröhlichen Kutscher.«

»Das ist es! Zum fröhlichen Kutscher!«

Der unanständige Laut, den ich zu hören glaubte, stammte gewiss aus dem Gebrodel ganz tief unten in meinen Gedanken.

»Die gewünschte Nummer lautet Doddingsley zwo-drei. Falls Sie später noch einmal anrufen wollen.«

»Danke schön«, sagte ich, da hörte ich auch schon das Freizeichen in der Leitung, und gleich darauf hob jemand ab.

»Doddingsley zwo-drei, Zum fröhlichen Kutscher, Cleaver am Apparat.«

Cleaver war bestimmt der Wirt.

»Ich möchte bitte Mister Pemberton sprechen. Es ist dringend.«

Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass man ein Hindernis, sogar ein nur angenommenes, am besten überwindet, indem man Dringlichkeit vortäuscht.

»Der ist nicht da«, erwiderte Cleaver.

»Ach, du lieber Himmel!« Ich trug richtig dick auf. »Da habe ich ihn wohl gerade verpasst. Könnten Sie mir sagen, wann er weggegangen ist? Dann weiß ich in etwa, wann ich ihn zu erwarten habe.«

Mensch, Flave, dachte ich, du solltest dich um einen Sitz im Parlament bemühen.

»Er ist am Samstagmorgen abgereist. Vorgestern.«

»Verbindlichsten Dank«, säuselte ich in einem Ton, mit dem ich auch den Papst irregeführt hätte. »Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«

Ich legte den Hörer so vorsichtig wieder auf die Gabel wie ein frisch geschlüpftes Küken.

»Was treibst du da?«, fragte eine dumpfe Stimme.

Ich fuhr herum. Hinter mir stand Feely. Ihr Mund und das Kinn waren mit einem dicken Wollschal verhüllt.

»Was treibst du da?«, wiederholte sie. »Du weißt genau, dass wir das Instrument nicht benutzen dürfen.«

»Und was treibst du selber?«, konterte ich. »Willst du rodeln gehen?«

Als Feely sich auf mich stürzen wollte, verrutschte der Schal und enthüllte zwei rote geschwollene Lippen von derselben Farbe wie der Südpol eines Pavians.

Ich war zu erschrocken, um zu lachen. Der Giftefeu, mit

Leider hatte ich gerade keine Zeit, meinen Triumph schriftlich zu dokumentieren. Mein Notizbuch würde noch ein Weilchen warten müssen.

Maximilian saß in senffarben kariertem Tweed gewandet auf dem Rand der gemauerten Pferdetränke im Schatten des Marktkreuzes und baumelte wie Humpty Dumpty mit den winzigen Füßen in der Luft. Er war so klein, dass ich ihn beinahe übersehen hätte.

»Haruh, mon vieux, Flavia!«, rief er, und ich brachte Gladys kurz vor den Spitzen seiner Lacklederschuhe zum Stehen. Schon wieder in die Falle getappt! Jetzt musste ich das Beste draus machen.

»Tag, Max. Ich muss Sie was fragen.«

»Hoho!«, machte er. »Einfach so! Du willst mich etwas fragen! Ohne irgendeine Einleitung? Ohne irgendwelche Neuigkeiten von deinen lieben Schwestern? Ohne irgendwelchen Klatsch und Tratsch aus den Konzerthallen der Welt?«

»Na ja«, erwiderte ich ein bisschen verlegen, »im Radio kam Der Mikado.«

»Und wie war’s? Vom Ausdruck her? Die meisten Sänger pflegen bei Gilbert und Sullivan schrecklich zu brüllen.«

»Aufschlussreich.«

»Aha! Aber in welcher Hinsicht? Der gute Arthur hat ein paar der großartigsten Stücke komponiert, die je in unserem Inselkönigreich geschrieben wurden, zum Beispiel Der verklungene Ton. Ich finde G. und S. immer wieder hochspannend. Weißt du eigentlich, dass ihre unverbrüchliche Freundschaft an einer Meinungsverschiedenheit über den Preis eines Teppichs zerbrach?«

Ich musterte ihn forschend. Wollte er mich auf den Arm nehmen? Aber er schien es ganz ernst zu meinen.

»Ich platze verständlicherweise vor Neugier darauf, was sich kürzlich Unerfreuliches bei euch auf Buckshaw zugetragen hat, meine liebe Flavia, aber ich weiß, dass deine Lippen schon aus Schamgefühl, Familiensinn und Verpflichtung gegenüber der Obrigkeit dreifach versiegelt sind. Wenn auch nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge, hab ich Recht?«

Ich nickte.

»Dann darfst du nunmehr deine Frage an das Orakel richten.«

»Sind Sie in Greyminster zur Schule gegangen?«

Max kicherte zwitschernd wie ein kleiner gelber Vogel.

»Wo denkst du hin! Das wäre dann doch eine Nummer zu edel für mich gewesen. Nein, ich bin auf dem Kontinent zur Schule gegangen, besser gesagt in Paris, und dort fand meine Ausbildung eher draußen als drinnen statt. Aber mein Vetter Lombard ist ein alter Greyminsterianer. Er lobt die Schule in den höchsten Tönen, wenn er nicht gerade beim Pferderennen ist oder bei Montfort Karten spielt.«

»Hat Ihr Vetter irgendwann einmal den Rektor Dr. Kissing erwähnt?«

»Den Briefmarken-Guru? Mein liebes Mädchen, er spricht kaum von jemand anderem. Er verehrt den alten Herrn richtiggehend. Behauptet steif und fest, nur dem alten Kissing hätte er das zu verdanken, was aus ihm geworden ist, was zwar nichts Besonderes ist, aber immerhin …«

»Lebt er denn noch? Dr. Kissing, meine ich? Er muss doch schon steinalt sein, oder? Ich würde alle meine Besitztümer drauf verwetten, dass er längst tot ist.«

»Dann wärst du dein Geld aber schnell los«, erwiderte Max amüsiert. »Und zwar bis auf den letzten Penny!«

Haus Krähenwinkel schmiegte sich in die Kissen des gemütlichen Bettes, das von den Junkerbergen und dem sogenannten Kürbiskopf gebildet wurde. Letzteres war eine eigenartige Erhebung, die von weitem wie ein Hügelgrab aus der Eisenzeit aussah, aus der Nähe betrachtet jedoch deutlich größer und wie ein Totenschädel geformt war.

Ich lenkte Gladys in die Pooker’s Lane, die am Unterkiefer des Schädels, beziehungsweise an seinem östlichen Rand entlangführte. Am Ende der Straße säumten dichte Hecken die Zufahrt zum Haus Krähenwinkel.

War man an diesen struppigen Überlebenden längst vergangener Zeiten vorbeigefahren, erstreckten sich nach Osten, Westen und Süden ungepflegte, stachlige Rasenflächen. Trotz des sonnigen Tages lagen an mehreren schattigen Stellen noch letzte Nebelschwaden über dem ungemähten Gras. Hier und da ragte eine riesige Rotbuche auf. Die dicken Stämme und die herabhängenden Zweige dieser Bäume ließen mich immer an eine bedrückte Elefantenfamilie denken, die allein durch die kahle afrikanische Savanne zieht.

Hinter den Rotbuchen spazierten zwei uralte Damen in lebhaftem Zwiegespräch daher, als konkurrierten sie um die Rolle der Lady Macbeth. Die eine war in ein durchsichtiges Musselin-Nachthemd gewandet und hatte eine Morgenhaube auf dem Kopf, die dem 18. Jahrhundert zu entstammen schien, während ihre Gefährtin, die in ein zyanblaues Zeltkleid gehüllt war, Messingohrringe groß wie Suppenteller trug.

Das Haus selbst war das, was man oft schwärmerisch als »altehrwürdiges Gemäuer« bezeichnet. Der ehemalige Stammsitz der Familie de Lacey, von der die Ortschaft Bishop’s Lacey ihren Namen hat (angeblich waren es entfernte Verwandte der de Luces), war im Lauf der Zeit immer mehr heruntergekommen, vom Landhaus eines geschäftstüchtigen, erfolgreichen hugenottischen Leinenhändlers zu dem, was es heute war, nämlich einem privaten Altersheim, das Daffy und ich sofort