Zwei staubbedeckte Automobile, die nebeneinander auf dem Vorhof standen, bezeugten den Mangel sowohl an Personal als auch an Besuchern. Ich ließ Gladys neben einer uralten Araukarie ins Gras fallen und ging die bemooste, abgebröckelte Vortreppe hoch.
Auf einem handgemalten Schild stand Bitte klingeln. Ich zog an dem Emaillegriff. Von drinnen ertönte ein hohles Scheppern wie von einem auf Kuhglocken gespielten Angelus-Läuten und kündigte den Bewohnern, wer sie auch sein mochten, meine Ankunft an.
Da nichts geschah, klingelte ich noch einmal. Die beiden alten Damen spielten mittlerweile »Teegesellschaft«, knicksten anmutig und affektiert, hielten unsichtbare Tassen und Untertassen vor sich und spreizten zierlich die kleinen Finger ab.
Ich legte das Ohr an die wuchtige Tür, aber bis auf einen Grundton, bei dem es sich offenbar um die Atemzüge des Gebäudes handelte, war nichts zu vernehmen. Daraufhin schob ich die Tür auf und trat ein.
Das Erste, was mir auffiel, war der Geruch. Es roch nach Kohl, Schaumgummikissen, Abwaschwasser und Tod. Unter dieser Mischung lag wie eine Grundierung der strenge Geruch des Desinfektionsmittels, mit dem die Böden gewischt wurden. Ich tippte auf Dimethyl-Benzyl-Ammoniumchlorid, denn ich nahm einen Hauch von Bittermandelaroma wahr, das genauso unverkennbar roch wie Blausäure - das Gas, mit dem in Amerikas Gaskammern Mörder hingerichtet wurden.
Die weitläufige Diele war in Irrenhaus-Apfelgrün gestrichen: grüne Wände, grüne Wandtäfelung, grüne Decke. Auf dem Boden lag billiges braunes Linoleum, das mit derart brutalen Furchen und Rillen übersät war, dass man vermuten konnte, ein Archäologe habe es aus dem Kolosseum in Rom geborgen und Pffft! von sich. Irgendwann würde ich mich einmal mit der Frage beschäftigen müssen, ob ein Farbton eigentlich Brechreiz verursachen kann.
An der Wand ganz hinten saß in einem chromblitzenden Rollstuhl ein Greis und starrte mit offenem Mund an die Decke, als wartete er darauf, dass dort eine Erscheinung auftauchte.
An einer anderen Wand stand ein Schreibtisch. Er war unbesetzt. Nur eine silberne Glocke und ein abgegriffenes Pappschild mit der Aufschrift Bitte klingeln deutete auf das Vorhandensein irgendwelchen verborgenen Personals hin.
Ich schlug viermal auf den Klingelknopf. Bei jedem Bing zwinkerte der alte Mann heftig, löste den Blick aber nicht von der Decke.
Da erschien mit einem Mal, als wäre sie durch eine Geheimtür in der Holzvertäfelung geschlüpft, ein Hauch von einer Frau. Sie trug eine weiße Uniform und eine blaue Haube, unter die sie emsig lose, fettige, strohblonde Strähnen stopfte.
Sie machte den Eindruck, als hätte sie etwas verbrochen und wäre sich darüber im Klaren, dass ich davon wusste.
»Ja, bitte?«, fragte sie in piepsigem, aber nichtsdestotrotz energischem und somit typischem Krankenschwesternton.
»Ich möchte Dr. Kissing besuchen«, sagte ich. »Ich bin seine Urenkelin.«
»Dr. Isaac Kissing?«
»Eben den. Gibt es denn hier noch einen Dr. Kissing?«
Daraufhin machte das Phantom in Weiß wortlos auf dem Absatz kehrt, und ich folgte ihr durch einen Durchgang in einen schmalen Wintergarten, der sich über die gesamte Länge des Gebäudes erstreckte. Auf halbem Weg blieb sie stehen und deutete wie der dritte Geist in Dickens’ Weihnachtsgeschichte mit dem Finger, dann war sie verschwunden.
Am anderen Ende des mit hohen Fenstern versehenen Wintergartens, im Schein des einzigen Sonnenstrahls, dem es gelungen war, in das düstere Gebäude einzudringen, saß ein alter Mann in einem Korbrollstuhl. Ein Heiligenschein aus blauem Rauch umschwebte sein Haupt. Auf einem Beistelltischchen türmte sich ein unordentlicher Stapel Zeitungen, der jederzeit einstürzen konnte.
Der Mann war in einen mausgrauen Morgenmantel gehüllt, genau wie Sherlock Holmes, nur dass sein Morgenmantel mit lauter Brandlöchern übersät war, wodurch er entfernt an einen Leoparden erinnerte. Darunter trug er einen schwarzen Anzug und ein gestärktes Hemd mit altmodischem Vatermörderkragen. Auf seinem langen, gelockten gelblich-grauen Haar saß ein pflaumenfarbenes Samtkäppchen, und an seiner Unterlippe klebte eine brennende Zigarette, deren graue Asche sich wie eine mumifizierte Nacktschnecke krümmte.
»Tag, Flavia«, begrüßte er mich. »Ich habe schon auf dich gewartet.«
Eine Stunde war vergangen. Eine Stunde, in der mir zum ersten Mal richtig bewusst geworden war, was wir im Krieg alles verloren hatten.
Der Auftakt war nicht sehr vielversprechend gewesen.
»Ich muss dich gleich warnen, dass ich wenig Übung darin habe, mich mit kleinen Mädchen zu unterhalten«, hatte Dr. Kissing verkündet.
Ich biss mir auf die Zunge und hielt die Klappe.
»Bei Jungen hat es sich bewährt, sie mittels Schlägen und anderen Kunstgriffen zu halbwegs zivilisierten Menschen zu erziehen, aber ein Mädchen, dem aufgrund seiner Natur solche Züchtigungen vorenthalten bleiben müssen, bleibt doch immer eine Art terra incognita, nicht wahr?«
Mir war klar, dass es eine rein rhetorische Frage war. Ich zog die Mundwinkel hoch und hoffte, so etwas wie ein Mona-Lisa-Lächeln
»Du bist also Schnäppis Tochter«, fuhr der Alte fort. »Dabei siehst du ihm kein bisschen ähnlich.«
»Angeblich komme ich mehr nach meiner Mutter Harriet.«
»Ach ja, die gute Harriet. Was für eine Tragödie. Wie furchtbar für euch alle.«
Er streckte die Hand aus und tippte auf eine Lupe, die bedenklich wacklig auf dem Zeitungseisberg balancierte. Außerdem öffnete er ein Etui mit Players, aus dem er sich eine neue Zigarette auswählte.
»Ich tue mein Bestes, um mit dem Weltgeschehen Schritt zu halten, jedenfalls mit dem Weltgeschehen, wie es sich in den Augen dieser Schreiberlinge darstellt. Meine eigenen Augen, das gebe ich zu, beobachten diese Parade nun seit fünfundneunzig Jahren und sind des Ganzen ein wenig müde geworden.
Trotzdem gelingt es mir, über die Geburten, Todesfälle, Hochzeiten und Verbrechen, die sich in unserer beschaulichen Grafschaft ereignen, einigermaßen auf dem Laufenden zu bleiben. Und ich habe natürlich weiterhin Punch und Lilliput abonniert.
Soviel ich weiß, hast du zwei Schwestern, Ophelia und Daphne.«
Ich nickte abermals.
»Ja, ja, unser Schnäppi hatte immer eine Vorliebe für alles Ausgefallene. Darum habe ich mich auch nicht gewundert, als ich gelesen habe, dass er seine ersten beiden Nachfahren nach einer Hysterikerin bei Shakespeare und einem griechischen Nadelkissen benannt hat.«
»Wie bitte?«
»Daphne wurde von Eros mit einem liebestötenden Pfeil durchbohrt, ehe sie von ihrem Vater in einen Baum verwandelt wurde.«
»Ich meinte die andere, die wahnsinnige Ophelia.«
»Die ist ja nun völlig übergeschnappt.« Er drückte den Stummel in dem überquellenden Aschenbecher aus und zündete sich die nächste Zigarette an. »Oder bist du anderer Meinung?«
Die Augen, die mich aus dem runzligen Greisengesicht ansahen, blickten so wach und aufmerksam wie die jeden Lehrers, der mit dem Zeigestock in der Hand vor einer Wandtafel steht, und ich spürte, dass meine Rechnung aufgehen würde. Ich war kein »kleines Mädchen« mehr. Im Gegensatz zu Daphne, die lediglich in einen Lorbeerbaum verwandelt worden war, hatte ich mich in einen Schuljungen aus der Unterstufe verwandelt.
»Eigentlich nicht, Sir«, erwiderte ich. »Ich glaube eher, dass Ophelia für Shakespeare eine Art Symbol war … wie die Kräuter und Blumen, die sie pflückt.«