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»Hä? Wie kommst du denn darauf?«

»Na ja, Ophelia ist das unschuldige Opfer einer mörderischen Familie, deren Mitglieder allesamt in höchstem Maße selbstsüchtig sind. So sehe ich das zumindest.«

»Soso. Ist ja ausgesprochen interessant.«

»Trotzdem«, setzte er nach einer kurzen Pause hinzu, »war es mir eine Genugtuung, dass dein Vater vom Lateinunterricht immerhin so viel behalten hat, um dich Flavia zu nennen, die Goldhaarige.«

»Mein Haar ist aber eher mausbraun.«

»Ach so.«

Wir schienen in einer der Sackgassen angelangt zu sein, wie es sie im Gespräch mit alten Menschen öfter gibt. Ich dachte schon, der alte Mann sei mit offenen Augen eingedöst.

Aber da sagte er unvermittelt: »Na schön, dann zeig mal her.«

»Sir?«

»Meinen Rächer von Ulster. Ich würde gern einen Blick drauf werfen. Du hast ihn doch dabei, nicht wahr?«

»Ich … schon, Sir, aber woher …?«

»Dann wollen wir mal kombinieren«, sagte er seelenruhig, als hätte er verkündet: Lasset uns beten.

»Horace Bonepenny, seinerzeit Zauberkünstler sowie langjähriger Schwindler und Betrüger, liegt auf einmal tot im Garten seines alten Schulfreundes Schnäppi de Luce. Wieso? Höchstwahrscheinlich ist Erpressung im Spiel. Darum wollen wir von Erpressung ausgehen. Nur ein paar Stunden sind vergangen, da stöbert Schnäppis Tochter im Zeitungsarchiv von Bishop’s Lacey nach Artikeln über das Ableben meines lieben alten Kollegen Mr Twining, er ruhe in Frieden. Woher ich das weiß? Das liegt doch auf der Hand.«

»Miss Mountjoy.«

»Sehr gut, Kleine. Tilda Mountjoy, ganz recht. Seit einem Vierteljahrhundert meine Augen und Ohren im Dorf und der Umgebung.«

Ich hätte es wissen müssen! Miss Mountjoy war ein Spitzel!

»Weiter im Text. Am letzten Tag seines Lebens kam es dem Dieb Bonepenny in den Sinn, sich im Dreizehn Erpel einzuquartieren. Anschließend gelingt es dem dummen Grünschnabel - nun ja, ein Grünschnabel ist er nicht mehr, aber dumm allemal -, sich von irgendwem abmurksen zu lassen. Ich habe schon seinerzeit zu Mr Twining gesagt, dass es mit dem Burschen kein gutes Ende nehmen würde. Meine Vorhersage war zutreffend, wie ich in aller Bescheidenheit anmerken möchte. Dieser Bonepenny hatte schon immer etwas Teuflisches an sich.

Aber ich schweife ab. Kurz nach seinem Ableben wird sein Zimmer im Gasthaus von einer holden Maid durchsucht, deren Namen ich nicht zu nennen wage, die mir aber gerade eben sittsam gegenübersitzt und in ihrer Tasche herumspielt. Was mag wohl darinnen sein? Ich tippe auf ein gewisses Fitzelchen orangenmarmeladenfarbenes Papier mit dem Porträt unserer Quod erat demonstrandum - Q. E. D.«

»Q. E. D.«, bestätigte ich, holte den Pergamin-Umschlag heraus und hielt ihn dem Greis hin. Mit zitternden Händen - ob vor Alter oder vor Aufregung, hätte ich nicht zu sagen gewusst - und indem er das hauchdünne Papier wie eine Pinzette benutzte, schälte er die Seiten des Umschlags mit nikotinfleckigen Fingern nach unten. Als die orangefarbenen Ecken der beiden Rächer frei lagen, fiel mir auf, dass seine fleckigen Fingerkuppen und die Briefmarken fast dieselbe Farbe hatten.

»Alle Wetter!«, schnaufte er sichtlich erschüttert. »Du hastAAwiedergefunden! Diese Marke gehört Seiner Ma jestät, weißt du das? Sie wurde erst vor wenigen Wochen bei einer Ausstellung in London gestohlen, das stand in allen Zeitungen.«

Er blickte mich vorwurfsvoll über den Rand seiner Brille an, musste aber sofort wieder den Schatz betrachten, den er in Händen hielt. Er schien mich ganz zu vergessen.

»Seid mir gegrüßt, meine Freunde«, flüsterte er. »Wir haben uns ja so lange nicht gesehen!«

Er griff zur Lupe und studierte beide Marken gründlich.

»Und du, meine heißgeliebte kleine TL- was du wohl alles zu erzählen hast!«

»Horace Bonepenny trug alle beide bei sich«, warf ich ein. »Ich habe sie im Gasthaus in seinem Gepäck entdeckt.«

»Du hast sein Gepäck durchwühlt?« Dr. Kissing blickte nicht auf. »Uff! Die Polizei wird nicht gerade Purzelbäume über den Dorfanger schlagen, wenn sie das hört … und du dann wohl auch nicht mehr.«

»Ich habe sein Gepäck nicht durchwühlt. Er hatte die Marken unter einem Aufkleber auf seinem Koffer versteckt.«

»Unter dem sie einfach hervorgepurzelt kamen, als du zufällig draufgetippt hast.«

»Genauso war’s.«

»Sag mal«, er hob jäh den Kopf und sah mich an, »weiß dein Vater eigentlich, dass du hier bist?«

»Nein. Vater ist wegen Mordes angeklagt. Er sitzt in Hinley im Arrest.«

»Großer Gott! Ist er’s denn gewesen?«

»Keine Ahnung. Manchmal denke ich ja, dann wieder nein. Das Ganze ist ein einziges Kuddelmuddel.«

»Am Anfang ist alles immer ein einziges Kuddelmuddel. Sag mir eins, Flavia: Wofür interessierst du dich von allen Wissensgebieten dieser Welt am meisten? Was ist deine allergrößte Leidenschaft?«

»Die Chemie«, antwortete ich, ohne zu überlegen.

»Bravo!«, sagte Dr. Kissing. »Diese Frage habe ich zu meiner Zeit ganzen Heerscharen von Hottentotten gestellt, und alle haben irgendeinen Blödsinn geantwortet. Große Töne spucken und hirnverbrannte Träumereien. Du dagegen hast es fertiggebracht, dich auf ein einziges Wort zu beschränken.«

Das Korbgeflecht ächzte grässlich, als er sich mir zuwandte. Ich bekam schon einen Schreck, weil es sich anhörte, als hätte er sich die morsche Wirbelsäule gebrochen.

»Natriumnitrit«, sagte er. »Das ist dir ja sicherlich ein Begriff.«

Ein Begriff? Natriumnitrit war ein bewährtes Gegenmittel bei Zyankalivergiftung. Ich kannte mich mit allen seinen Verbindungen aus. Wie aber kam er ausgerechnet auf dieses Beispiel? Konnte er Gedanken lesen?

»Schließ die Augen«, fuhr er fort. »Stell dir vor, du hältst ein Reagenzglas in der Hand, das zur Hälfte mit einer drei ßigprozentigen Salzsäurelösung gefüllt ist. Dazu gibst du ein paar Kristalle Natriumnitrit. Was geschieht?«

»Dazu brauche ich nicht die Augen zuzumachen. Die Lösung wird orange … orange und trüb.«

»Ausgezeichnet! Orange wie diese beiden eigensinnigen Briefmarken, nicht wahr? Und dann?«

»Nach einer Weile, nach zwanzig, dreißig Minuten vielleicht, wird die Lösung wieder klar.«

»Klar. Damit wäre meine Herleitung abgeschlossen.«

Ich grinste befreit und ein bisschen dümmlich, als wäre mir eine große Last von den Schultern genommen.

»Als Lehrer müssen Sie ein wahrer Zauberer gewesen sein, Sir.«

»Ja, das war ich wohl … zu meiner Zeit. Und jetzt hast du mir meinen kleinen Schatz wiedergebracht.« Er heftete den Blick wieder auf die Briefmarken.

Damit hatte ich nicht gerechnet, ja, ich war gar nicht auf die Idee gekommen. Ich hatte nur herausfinden wollen, ob der Besitzer des Rächers noch am Leben war. Anschließend hätte ich Vater die Marke ausgehändigt, der sie der Polizei übergeben hätte, die wiederum dafür sorgen würde, dass sie ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückerstattet würde. Dr. Kissing merkte sofort, dass ich verunsichert war.

»Andere Frage«, sagte er. »Was hättest du getan, wenn du hergekommen wärst und man dir mitgeteilt hätte, dass ich bereits in den ewigen Jagdgründen weile?«

»Sie meinen … dass Sie gestorben wären, Sir?«

»Ach, richtig, so heißt das ja, ›gestorben‹.«

»Dann hätte ich die Marke wahrscheinlich meinem Vater gegeben.«

»Damit er sie behält?«

»Er weiß bestimmt, was damit zu tun ist.«

»Das dürfte der Besitzer der Marke wohl am allerbesten wissen, oder?«

Ich wusste schon, dass die richtige Antwort »Ja« lautete, aber es wollte mir nicht über die Lippen. Ich wollte die Marke unbedingt Vater geben, auch wenn mir das eigentlich nicht zustand. Genauso dringend wollte ich beide Marken Inspektor Hewitt übergeben. Warum bloß?