Es musste doch damals Gerüchte gegeben haben … Die Einheimischen in diesem Winkel Englands waren noch nie für ihre Verschwiegenheit bekannt gewesen, ganz im Gegenteil.Hundert Alltagsfragen und Antworten für den anspruchsvollen Haushalt, die Mrs Mullet in der Speisekammer liegen hatte, war mir schon länger aufgefallen, dass man am besten zurechtkommt, wenn man den Nächstbesten anspricht und sich einfach erkundigt. Dann kann man auf derlei Nachschlagewerke verzichten.
Ich konnte Vater schlecht danach fragen, warum er damals als Schuljunge geschwiegen hatte. Selbst wenn ich mich getraut hätte, so saß er doch auf der Polizeiwache in der Arrestzelle und würde vorerst auch dort bleiben. Miss Mountjoy konnte ich auch nicht fragen. Die hatte mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, weil sie in mir die Nachfahrin eines kaltblütigen Mörders sah. Kurz gesagt, ich war ganz auf mich gestellt.
Den ganzen Tag über hatte es in meinem Hinterkopf gedudelt wie ein Grammophon in einem abgelegenen Zimmer. Hätte ich doch bloß die Melodie erkennen können!
Das Gedudel hatte eingesetzt, als ich in der Bücherei die Zeitungsstapel durchgewühlt hatte. Es handelte sich um etwas, das jemand gesagt hatte … Aber was?
Manchmal lässt sich ein flüchtiger Gedanke so schwer fangen wie ein durchs Fenster hereingeflogener Vogel. Man schleicht sich auf Zehenspitzen heran, will zupacken … und der Vogel ist auf und davon, schlägt mit den Flügeln …
Richtig! Flügel!
Er sah wie ein gestürzter Engel aus, hatte der eine Schüler aus Greyminster gesagt. Toby Lonsdale, jetzt fiel mir der Name wieder ein. Ein sonderbarer Vergleich. Beschrieb ein Schuljunge mit solchen Worten, wie sein Lehrer von einem
Ärgerlicherweise hatte ich nicht gründlich genug gewühlt. Der Hinley-Kurier hatte unmissverständlich vermeldet, dass die polizeilichen Ermittlungen sowohl bezüglich Mr Twinings Tod als auch hinsichtlich des Diebstahls von Dr. Kissings Briefmarke noch nicht abgeschlossen seien. Und der Nachruf? Der musste natürlich später erschienen sein. Was hatte darin gestanden?
Ruckzuck schwang ich mich wieder auf Gladys’ Sattel und radelte wie ein geölter Blitz in Richtung Bishop’s Lacey und Cow Lane.
Erst als ich nur noch drei Meter von der Büchereitür entfernt war, sah ich das Schild: »Geschlossen«. Natürlich! Manchmal hast du wirklich Pudding im Hirn, Flavia, da hat Feely ganz Recht. Heute war Montag. Die Bücherei würde erst wieder am Dienstagmorgen um zehn Uhr öffnen.
Als ich Gladys zum Fluss und zur Garage mit dem Archiv schob, musste ich an die albernen Geschichten aus der Kinderstunde im Radio denken: erzieherisch wertvolle Geschichtchen wie die von der kleinen Lok (Ich schaff es schon … ich schaff es schon …), die einen ganzen Güterzug über den Berg ziehen kann, nur weil sie fest daran glaubt, dass sie es schafft. Und weil sie nicht aufgibt. Nie aufgeben, das war der Schlüssel zum Erfolg.
Der Schlüssel? Ich hatte Miss Mountjoy den Schlüssel zum Magazin zurückgegeben, da war ich ganz sicher. Gab es vielleicht einen Zweitschlüssel? Einen Ersatzschlüssel, der unter einem Fensterbrett versteckt lag für den Fall, dass irgendein vergesslicher Mensch nach Blackpool in Urlaub gefahren war und das Original noch in der Tasche hatte? Da Bishop’s Lacey nicht gerade als landesweit berüchtigtes Verbrechernest galt
Ich befühlte den Türsturz, schaute unter die Geranientöpfe, die den Weg zum Eingang säumten, und hob sogar ein paar verdächtige Steine hoch.
Nichts.
Ich stocherte in den Fugen der Mauer, die von der Straße bis zum Eingang führte.
Nichts, aber auch gar nichts.
Ich spähte durchs Fenster zu den alten Zeitungen hinein, die Stapel neben Stapel friedlich auf den Regalen ruhten. So nah und doch so fern.
Ich hätte vor Wut am liebsten ausgespuckt … und das tat ich auch.
Was hätte Marie Anne Lavoisier an meiner Stelle getan?, überlegte ich. Hätte sie sich schäumend und qualmend vor der Tür aufgebaut wie einer dieser Minivulkane, die entstehen, wenn man ein Häufchen Ammoniumdichromat anzündet? Wohl kaum. Marie Anne hätte die Chemie Chemie sein lassen und sich die Tür vorgenommen.
Ich drehte kräftig am Türknauf, warf mich gegen die Tür - und kippte vornüber. Irgendein Blödmann war hier gewesen und hatte nicht wieder abgeschlossen! Hoffentlich hatte mich niemand gesehen. Zum Glück fiel mir das noch ein, denn das bewog mich, Gladys mit hinter die Mauer zu nehmen, wo sie vor neugierigen Blicken sicher war.
Ich ging um die mit Brettern abgedeckte Mechanikergrube herum und an den Regalen mit vergilbten Zeitungen entlang.
Im Handumdrehen entdeckte ich die gesuchte Ausgabe des Hinley-Kurier. Wie vermutet war der Nachruf auf Mr Twining am Freitag nach dem Artikel über seinen Tod erschienen:
Twining, Grenville, M A (Oxfordshire), vergangenen Montag in der Greyminster School bei Hinley im Alter von
Und wo lag der Verstorbene begraben? Hatte man seinen Leichnam in seine Heimatstadt Winchester überführt und an der Seite seiner Eltern beigesetzt? Oder war er in Greyminster beerdigt worden? Eher nicht. Mir kam es wahrscheinlicher vor, dass ich sein Grab auf dem Friedhof von St. Tankred finden würde, keine zwei Minuten vom Magazin entfernt.
Ich ließ Gladys hinter der Garage stehen, denn ich wollte keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Wenn ich mich duckte und mich immer an der Hecke hielt, die den Treidelpfad säumte, konnte ich ungesehen auf den Friedhof gelangen.
Als ich die Tür nach draußen aufmachte, vernahm ich Hundegebell. Vorne an der Gasse stand Mrs Fairweather, Vorsitzende des kirchlichen Frauenkreises, der für den Blumenschmuck auf dem Altar zuständig war, mit ihrem Corgi. Ich zog die Tür leise wieder zu, ehe sie oder der Hund mich erblickte, und beobachtete verstohlen durchs Fenster, wie der Hund eine Eiche beschnüffelte, während Mrs Fairweather unverwandt in die Ferne sah und tat, als wüsste sie nicht, was am anderen Ende der Leine vor sich ging.
Verflixt! Jetzt musste ich warten, bis der Köter sein Geschäft erledigt hatte. Ich sah mich um.
Zu beiden Seiten standen behelfsmäßige Regale, deren grob gesägte, durchhängende Bretter den Eindruck machten, als hätte sie ein williger, aber unfähiger Amateurschreiner angebracht.
Rechts standen die verstaubten Jahrgänge längst veralteter Nachschlagewerke wie Crockfords Kirchenlexikon, Hazells’ Jahrbuch, Whitakers Almanach, Kellys Branchenverzeichnis und Brasseys Marinejahrbuch, und alle waren sie dicht an dicht auf die unbehandelten Fächer gestapelt, die einst edlen roten, blauen und schwarzen Einbände von der Zeit und dem gelegentlich einfallenden Tageslicht braun geworden, und allesamt rochen sie nach Mäusen.
Die Regale linkerhand waren reihenweise mit gleich aussehenden Bänden bestückt, auf deren Rücken mit verschnörkelten gotischen Buchstaben Der Greyminsterianer eingeprägt war. Das mussten die Jahrbücher von Vaters alter Schule sein, denn solche Wälzer standen auch auf Buckshaw. Ich zog einen Band heraus, sah aber gleich, dass er aus dem Jahr 1942 stammte.
Ich schob ihn wieder zurück und fuhr mit dem Zeigefinger die Bücherrücken entlang: 1930 … 1925 … 1920! Mit bebenden Händen nahm ich den Band heraus und blätterte ihn hastig von hinten nach vorn durch. Lauter Artikel über Kricket-spiele, Ruderwettkämpfe, Leichtathletik, Stipendien, Rugby, über Fotografie und Naturkunde. Über den Magischen Zirkel oder den Briefmarkenclub konnte ich nichts finden, dafür hier und da Fotos, auf denen in Reihen aufgestellte Jungen in die Kamera grinsten und manchmal auch Grimassen schnitten.
Gegenüber der Titelseite war ein schwarz gerahmtes Porträtfoto abgedruckt. Ein ehrwürdiger Herr mit Barett und Talar saß ungezwungen auf der Kante eines Lehrerpults, hielt ein Lateinbuch in der Hand und blickte den Fotografen mit verhaltener Belustigung an. Unter dem Foto stand: »Grenville Twining 1848-1920«.