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Das war alles. Kein Wort zu den näheren Umständen seines Todes, kein Nachruf, kein liebevolles Gedenken. Hatte es eine allumfassende Verschwörung des Schweigens gegeben?

An dem Mann war mehr dran, als man auf den ersten Blick vermuten mochte.

Ich blätterte langsamer, diesmal in umgekehrter Richtung, überflog die Artikel und las die gelegentlichen Bildunterschriften.

Als ich zu zwei Dritteln durch war, stach mir der Name »de Luce« ins Auge. Das zugehörige Foto zeigte drei Jungen in kurzärmligen Hemden und mit Schülermützen auf den Köpfen. Vor ihnen, auf einer auf der Wiese ausgebreiteten Decke, stand ein Picknickkorb. Auf der Decke lagen alle möglichen Lebensmittel. Offenbar veranstalteten die drei ein zünftiges Picknick. Es gab einen Laib Brot, ein Glas Marmelade, einen Obstkuchen, Äpfel und etliche Flaschen mit Ingwerbier.

Die Unterschrift lautete: »Wie weiland bei Omar Khayyam - üppig bewirtet aus Greyminsters Küche. Von links nach rechts: Haviland de Luce, Horace Bonepenny und Bob Stanley posieren für ein lebendes Bild nach dem Werk des persischen Dichters.«

Der Junge ganz links, der im Schneidersitz auf der Decke saß, war unverkennbar Vater. Er sah glücklicher und fröhlicher und sorgloser aus, als ich ihn je gekannt hatte. Der lange, knochige Bursche in der Mitte, der tat, als wollte er gerade in ein belegtes Brot beißen, war Horace Bonepenny. Ihn hätte ich sogar ohne Beschriftung erkannt. Seine feuerroten Locken erschienen auf dem Foto als geisterhaft weiße Aura um seinen Kopf.

Ich erschauerte, denn ich musste daran denken, wie er im Tode ausgesehen hatte.

Etwas abseits seiner beiden Kameraden schien der dritte Junge großen Wert darauf zu legen, im Profil aufgenommen zu werden, denn er legte den Kopf unnatürlich schief. Er war ein dunkler Typ, gut aussehend und älter als die beiden anderen, und hatte etwas Verführerisches an sich, wie ein Stummfilmstar.

Ich konnte es nicht erklären, aber sein Gesicht kam mir seltsam bekannt vor.

Dann zuckte ich zusammen, als hätte mir jemand eine Eidechse in den Kragen gesteckt. Ich hatte ihn tatsächlich schon einmal gesehen, und das erst kürzlich! Der dritte Junge auf dem Foto war zu ebenjenem Mann herangewachsen, der sich mir erst gestern als Frank Pemberton vorgestellt hatte, Frank Pemberton, der im Tempelchen neben mir im Regen gestanden hatte, Frank Pemberton, der mir heute Morgen erzählt hatte, er wolle in Nether Eaton ein Grabmal besichtigen.

Mit einem Mal fügte sich eins zum anderen, und ich sah die Lösung so deutlich vor mir, als wären mir, wie einst Saulus, Schuppen von den Augen gefallen.

Frank Pemberton war Bob Stanley, und Bob Stanley war sozusagen »Der Dritte Mann«. Er war es, der Horace Bonepenny in unserem Gurkenbeet umgebracht hatte, dafür hätte ich jederzeit mein Leben verwettet.

Als mit einem Mal alle Puzzleteilchen zusammenpassten, hämmerte mein Herz zum Zerspringen.

Von Anfang an war etwas an Pemberton nicht ganz koscher gewesen, und auch daran hatte ich seit unserer gestrigen Begegnung im Tempelchen nicht mehr gedacht. Was hatte er da doch gleich gesagt?

Wir hatten übers Wetter gesprochen, wir hatten uns einander vorgestellt. Er hatte zugegeben, dass er bereits wusste, wer ich war, weil er meine Familie im Who’s Who nachgeschlagen hatte. Wozu, wenn er doch Vater seit Urzeiten kannte? Hatte diese Lüge meine unsichtbaren Antennen zum Zucken gebracht?

Er hatte einen leichten Akzent gehabt, fiel mir ein. Nicht sehr auffällig, aber dennoch …

Er hatte mir erzählt, dass er an einem Buch arbeitete: Pembertons Herrensitze - Ein Bummel durch die Zeitläufte. Das mochte stimmen.

Was hatte er sonst noch gesagt? Nichts von Bedeutung, ein paar belanglose Bemerkungen darüber, dass wir beide Schiffbrüchige

Da loderte das Stückchen Holzkohle, das die ganze Zeit in meinem Hinterkopf geglüht hatte, mit einem Mal hell auf!

»Bestimmt werden wir irgendwann noch richtig gute Freunde.«

Wortwörtlich. Und wo hatte ich das schon einmal gehört?

Wie ein Ball an einer Gummischnur flogen meine Gedanken zu einem Wintertag zurück. Obwohl es noch früher Morgen war, hatten sich die Bäume vor dem Salonfenster von gelb über orange nach grau verfärbt, und der Farbton des Himmels war von Kobaltblau zu Tiefschwarz umgeschlagen.

Mrs Mullet hatte ein Tablett mit Hefebrötchen hereingebracht und die Vorhänge zugezogen. Feely saß auf der Couch und begaffte sich in der Rückseite eines Teelöffels, Daffy fläzte sich in Vaters altem Polstersessel am Kamin. Sie las uns laut aus Penrod vor, einem Buch, das sie aus dem Regal mit Harriets Lieblingskinderbüchern in ihrem Ankleidezimmer requiriert hatte.

Penrod Schofield war zwölf, ein Jahr und ein paar Monate älter als ich, aber altersmäßig doch nahe genug an mir dran, um mein flüchtiges Interesse zu wecken. Er kam mir vor wie eine Art Huckleberry Finn, aber in die Zeit des Ersten Weltkriegs versetzt, irgendwo in einer ungenannten Kleinstadt im amerikanischen Mittelwesten. Obwohl in dem Buch lauter Ställe, Gässchen, hohe Bretterzäune und Lieferwagen vorkamen, die damals noch von Pferden gezogen wurden, erschien mir die ganze Szenerie so fremd, als spielte die Geschichte auf dem Planeten Pluto. Feely und ich hatten uns gebannt von Daffy Scaramouche, Die Schatzinsel und Die Geschichte zweier Städte vorlesen lassen, aber Penrod und seine Welt waren uns aus unerfindlichen Gründen so fern wie die letzte Eiszeit. Feely, die jedem Buch eine Tonart zuzuordnen pflegte, meinte, es sei in c-Moll geschrieben.

Trotzdem hatten wir hin und wieder lachen müssen, wenn Penrod gegen seine Eltern und die Obrigkeit rebellierte, aber ich hatte mich schon damals gewundert, was die junge Harriet de Luce an diesem aufsässigen Jungen spannend und womöglich liebenswert gefunden hatte. Vielleicht kam ich der Antwort jetzt näher.

Die amüsanteste Szene schilderte meiner Erinnerung nach, wie Penrod dem scheinheiligen Reverend Mr Kinosling vorgestellt wird, der ihm den Kopf tätschelt und im breitesten Mittelwesten-Dialekt sagt: »Bestimmt werden wir irgendwann noch richtig gute Freunde.« Genau mit dieser Art von Herablassung hatte auch ich es immer wieder zu tun, und wahrscheinl ich habe ich mich totgelacht.

Das Entscheidende war jedoch, dass Penrod ein amerikanisches Buch war, verfasst von einem Amerikaner. Es dürfte in England längst nicht so bekannt sein wie auf der anderen Seite des Ozeans.

Ob Bob Stanley alias Frank Pemberton hier in England auf das Buch beziehungsweise den Satz gestoßen war? Das war natürlich möglich, trotzdem hielt ich es für unwahrscheinlich. Und hatte mir Vater nicht erzählt, Bob Stanley, ebenjener Bob Stanley, der Horace Bonepennys Komplize gewesen war, sei nach Amerika ausgewandert, wo er einen zwielichtigen Briefmarkenhandel betrieben hatte?

Pemberton sprach mit amerikanischem Akzent! Ein ehemaliger Greyminsterianer mit einem Anflug von Neuer Welt.

Wie beschränkt ich doch gewesen war!

Der nächste Blick aus dem Fenster offenbarte mir, dass Mrs Fairweather verschwunden und die Cow Lane wieder menschenleer war. Ich ließ das Buch offen auf dem Tisch liegen, schlüpfte ins Freie und ging von der Rückseite der Garage aus zum Fluss.

Vor hundert Jahren war der Fluss Efon einmal Teil eines Kanalsystems gewesen, von dem heutzutage bis auf den Treidelpfad

Ich kletterte über das morsche Friedhofstor und stand auf dem alten Kirchhof, wo die alten Grabsteine wie kreuz und quer treibende Bojen aus einem Grasmeer aufragten. Das Gras war so hoch, dass ich hindurchwaten musste wie ein Badegast, der bis zur Hüfte im Meer steht.

Die ältesten Gräber und diejenigen der wohlhabendsten verblichenen Gemeindemitglieder standen nah bei der Kirche, während hier hinten an der Feldsteinmauer jene der erst kürzlich Verstorbenen zu finden waren.