Abgesehen davon gab es auch eine senkrechte Schichtung. Fünfhundert Jahre ununterbrochener Benutzung hatten dem Friedhof das Aussehen eines Brotlaibs verliehen: ein dickes, frisch gebackenes, grünes Brot, das beträchtlich über das Niveau des Bodens ringsum aufgegangen war. Bei dem Gedanken an die gärenden Überreste unter meinen Füßen überlief mich ein wohliger Schauer.
Eine Zeit lang streifte ich ziellos zwischen den Grabsteinen umher und las die Familiennamen, die man in Bishop’s Lacey heute noch alle naselang hört: Coombs, Nesbit, Barker, Hoare und Carmichael. Hier lag der kleine William mit einem eingemeißelten Lamm auf dem Stein, der kleine Sohn von Tully Stoker, der, wäre er am Leben geblieben, inzwischen ein erwachsener Mann von dreißig und Marys großer Bruder wäre. Der kleine William war im Alter von fünf Monaten und vier Tagen im Frühjahr 1919 an »Krupp« gestorben, wie auf dem Stein zu lesen stand, ein Jahr bevor Mr Twining in Greyminster vom Glockenturm sprang. Demnach standen die Chancen
Schon dachte ich, ich hätte ihn gefunden, denn ein schwarzer Stein mit pyramidenähnlicher Spitze trug die grob gehauene Inschrift »Twining«. Aber dieser Twining erwies sich bei näherer Betrachtung als ein gewisser Adolphus, der 1809 auf See verschollen war. Sein Stein war so gut erhalten, dass ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, über die kühle, geschliffene Oberfläche zu streichen.
»Ruhe sanft, Adolphus«, sagte ich, »wo immer du auch sein magst.«
Mr Twinings Grabstein, so er denn einen hatte - und das konnte eigentlich nicht anders sein -, war gewiss keines der verwitterten Exemplare, die wie schartige braune Zähne aus dem Boden ragten, und auch keines jener gewaltigen, von Säulen eingefassten Denkmäler mit durchhängenden Ketten und schmiedeeisernen Einzäunungen, wie sie die reichsten und vornehmsten Familien von Bishop’s Lacey besaßen (darunter übrigens sämtliche de Luces).
Ich stemmte die Hände in die Hüften und stellte mich mitten in das hohe, von Unkraut durchsetzte Gras. Hinter der Mauer verlief der Treidelpfad und dahinter der Fluss. Irgendwo dort hinten war Miss Mountjoy verschwunden, als sie aus der Kirche geflüchtet war, gleich nachdem uns der Vikar aufgefordert hatte, für Horace Bonepennys Seele zu beten. Wo hatte die Bibliothekarin so eilig hingewollt?
Ich kletterte abermals über das Friedhofstor und sprang auf den Treidelpfad.
Jetzt konnte ich die Trittsteine erkennen, die zwischen den breiten, im Wasser wogenden Bändern des Wassergrases dicht unter der Oberfläche des träge dahinströmenden Flusses lagen. Die Steine führten in einer Schlangenlinie über den sich verbreiternden Teich bis zum gegenüberliegenden, flachen und sandigen Ufer hinüber. Oberhalb des Ufers und parallel zu ihm
Ich zog Schuhe und Strümpfe aus und trat auf den ersten Stein. Das Wasser war eiskalt. Meine Nase lief immer noch ein bisschen, und meine Augen tränten, und mir ging durch den Kopf, dass ich womöglich in ein, zwei Tagen an Lungenentzündung sterben und mich Haste-nicht-gesehen zu den Dauerbewohnern des Friedhofs von St. Tankred gesellen würde.
Mit wie Schranken ausgebreiteten Armen balancierte ich vorsichtig durchs Wasser und watete drüben angekommen unbeholfen durch den Uferschlamm. Dann hangelte ich mich am Gestrüpp die Böschung hinauf, die zugleich einen Deich aus festgestampfter Erde zwischen dem Fluss und der angrenzenden Wiese bildete.
Dort angekommen musste ich mich erst einmal hinsetzen, ein wenig verschnaufen und mir mit einem Grasbüschel vom Heckensaum die Füße sauber wischen. Ganz in der Nähe trällerte eine Goldammer »Wie-wie-wie-hab-ich-dich-liiieeeb« - und verstummte jäh. Ich spitzte die Ohren, konnte aber nur das ferne Gebrumm des Landlebens vernehmen, das dudelsackähnliche Dröhnen irgendwelcher weit entfernter landwirtschaftlicher Maschinen.
Als ich Strümpfe und Schuhe wieder angezogen hatte, klopfte ich mir den Staub von den Kleidern und schlenderte an der Hecke entlang, die wie ein undurchdringliches Dornendickicht aussah. Gerade als ich wieder kehrtmachen wollte, entdeckte ich eine Stelle, an der sich die Ranken ein wenig lichteten. Ich zwängte mich hindurch und kam hinter der Hecke wieder heraus.
Ein paar Meter in Richtung Kirche ragte etwas aus dem Gras. Ich näherte mich vorsichtig, wobei mir ein noch von den Neandertalern stammender Urinstinkt eine Gänsehaut am ganzen Leib verpasste.
Es war ein Grabstein. Mit kunstlosen Lettern stand darauf geschrieben: »Grenville Twining«.
Auf dem schiefen Sockel war nur ein einziges Wort eingemeißelt: Vale.
Vale … das hatte Mr Twining auf dem Turm ausgerufen, ehe er sprang! Das hatte der sterbende Horace Bonepenny mir ins Gesicht geröchelt!
Jetzt endlich schlug die Erkenntnis wie eine Welle über mir zusammen: Den sterbenden Bonepenny hatte das Gewissen gedrückt, aber der Tod hatte ihm nur noch ein Wort gewährt, um den Mord an Mr Twining zu gestehen. Da ich der einzige Mensch war, der seine Beichte gehört hatte, war ich auch die einzige noch lebende Person, die einen Zusammenhang zwischen den beiden Todesfällen herstellen konnte. Ich und vielleicht noch Bob Stanley. Mein Mr Pemberton.
Bei dieser Vorstellung lief es mir eiskalt den Rücken herunter.
Auf Mr Twinings Grabstein waren keine Daten vermerkt, als hätte derjenige, der ihn hier bestattet hat, jede Erinnerung an sein Leben tilgen wollen. Daffy hatte uns Geschichten vorgelesen, in denen Selbstmörder außerhalb der Friedhofsmauer oder an Kreuzwegen begraben wurden, aber ich hatte das bis dahin für frömmlerische Ammenmärchen gehalten. Trotzdem überlegte ich unwillkürlich, ob ich wohl gerade über Mr Twinings Leichnam stand, der wie Graf Dracula in seinem Umhang in seinen Lehrertalar gehüllt dalag.
Aber der Talar, den ich auf dem Turm von Anson House gefunden hatte und der nun bei der Polizei verwahrt wurde, hatte nicht Mr Twining gehört. Vater hatte mehrmals erwähnt, dass Mr Twining mit wehendem Talar vom Dach gestürzt war, und so hatte es auch Toby Lonsdale dem Hinley-Kurier erzählt.
Konnten sie sich beide geirrt haben? Vater hatte schließlich auch eingeräumt, dass die Sonne ihn geblendet haben mochte. Was hatte er noch erzählt?
Ich rief mir noch einmal ins Gedächtnis, wie er Mr Twinings Erscheinung oben auf dem Dach beschrieben hatte.
»Sein Kopf schien zu glühen, sein Haar glich einer Scheibe aus Kupferblech, wie die Heiligenscheine in einer bebilderten mittelalterlichen Handschrift.«
Die Lösung des Rätsels traf mich so plötzlich, dass mir fast schlecht wurde: Derjenige, der auf dem Dach an der Brüstung gestanden hatte, war nicht Mr Twining, sondern Horace Bonepenny gewesen! Horace Bonepenny mit dem feuerroten Schopf, Horace Bonepenny der Schauspieler, Horace Bonepenny der Zauberkünstler.
Das Ganze war eine gründlich geplante Täuschung gewesen!
Miss Mountjoy hatte tatsächlich Recht gehabt: Bonepenny hatte ihren Onkel auf dem Gewissen.
Er und sein Komplize Bob Stanley mussten Mr Twining aufs Turmdach gelockt haben, höchst wahrscheinlich unter dem Vorwand, ihm die gestohlene Briefmarke zurückgeben zu wollen, die sie angeblich dort versteckt hatten.
Vater hatte mir von Bonepennys ausgefallenen mathematischen Berechnungen erzählt. Seine architektonischen Streifzüge dürften ihn mit den Turmziegeln so vertraut gemacht haben wie mit seiner Westentasche.
Als Mr Twining dann drohte, die beiden auffliegen zu lassen, hatten sie ihn umgebracht. Vermutlich hatten sie ihn mit einem Ziegelstein erschlagen. Nach dem schrecklichen Sturz vom Dach waren davon keine Spuren mehr nachzuweisen gewesen. Anschließend hatten die beiden den Selbstmord wie eine Theatervorstellung aufgeführt, nachdem sie ihn in allen Einzelheiten kaltblütig geplant, in Gedanken durchgespielt, ja, womöglich sogar geprobt hatten.
Mr Twining war tatsächlich vom Dach gestürzt, aber es war Bonepenny gewesen, der mit Talar und Barett im Schein der Morgensonne an der Brüstung gestanden und »Vale!« gerufen