»Nicht geklaut. Ich dachte, sie ist jemandem heruntergefallen. Nein, das stimmt nicht ganz. Ich wusste, dass sie Horace Bonepenny heruntergefallen war, und weil er ja tot war, hatte er offensichtlich keine Verwendung mehr dafür. Da fiel mir ein, dass die Marke doch ein prima Geschenk für meinen Vater wäre. Vielleicht wäre er dann nicht mehr sauer auf mich, weil ich die Tiffanyvase zerschmissen habe. So. Jetzt wissen Sie’s.«
Pemberton stieß einen Pfiff aus.
»Eine Tiffanyvase?«
Ich spielte die Zerknirschte. »Es war keine Absicht. Eigentlich darf ich im Haus nicht Tennis spielen.«
»Nun«, sagte Pemberton, »damit wäre das Problem gelöst, nicht wahr? Du gibst mir die Briefmarke, und der Fall hat sich erledigt. Einverstanden?«
Ich nickte eifrig. »Ich laufe sofort nach Hause und hole sie.«
Pemberton brach in ein taktloses Gelächter aus und klatschte sich auf den Oberschenkel. Als er sich wieder eingekriegt hatte, japste er: »Für dein Alter bist du richtig gut, das muss ich schon sagen. Du erinnerst mich an mich selbst. Du läufst nach Hause und holst die Marke! Haha!«
»Na gut. Meinetwegen verrate ich Ihnen, wo ich sie versteckt habe, und Sie holen sie sich selbst. Ich bleibe so lange hier. Großes Pfadfinderinnenehrenwort!«
Ich machte den dreiohrigen Pfadfinder-Hasengruß. Natürlich verriet ich ihm nicht, dass ich dieser Organisation streng genommen gar nicht mehr angehörte, seit man mich damals rausgeworfen hatte, weil ich Eisenhydroxid hergestellt hatte, um mir mein Hauswirtschaftsabzeichen zu verdienen. Es hatte anscheinend niemanden beeindruckt, dass es sich um das Gegenmittel bei Arsenvergiftung handelte.
Pemberton schaute auf seine Armbanduhr.
»Es ist schon spät. Genug geplaudert, würde ich sagen.«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, als hätte jemand einen Vorhang vorgezogen. Mich fröstelte mit einem Mal.
Pemberton machte einen Satz und packte mich am Handgelenk. Ich schrie vor Schreck und Schmerz auf. Weil er mir ohnehin gleich den Arm auf den Rücken drehen würde, sträubte ich mich nicht.
»Ich habe die Marke in Vaters Ankleidezimmer versteckt«, sprudelte ich hervor. »In dem Zimmer gibt es zwei Uhren: eine große auf dem Kaminsims und eine kleinere auf dem Nachttisch neben dem Bett. Die Briefmarke klebt auf der Rückseite des Pendels der Kaminuhr.«
Worauf etwas Furchtbares und, wie sich herausstellen sollte, zugleich Rettendes geschah.
Meine schon fast vergessene Erkältung hatte sich den ganzen Tag über zurückgehalten. Mir war schon früher aufgefallen, dass Erkältungen, genauso, wie sie sich zurückziehen, wenn man schläft, sich oft gerade dann bemerkbar machen, wenn man eigentlich viel zu beschäftigt ist, sich ihnen zu widmen. Meine Erkältung jedenfalls kehrte in diesem Augenblick schlagartig zurück.
Ich vergaß einen Augenblick, dass der Rächer von Ulster noch darinsteckte, und zog mein Taschentuch heraus. Der erschrockene
Wie auch immer, als ich das Taschentuch an die Nase führte, packte er, noch ehe ich das Tuch richtig entfaltet hatte, blitzschnell meine Hand, knüllte das Tuch fest zusammen und stopfte es mir samt Briefmarke in den Mund.
»So!«, sagte er. »Dann werden wir doch mal sehen.«
Er nahm die Jacke von der Schulter, breitete sie wie einen Torreroumhang aus, und das Letzte, was ich sah, als er mir das Ding über den Kopf warf, war Mr Twinings Grabstein mit der Inschrift »Vale!«. Gehabt euch wohl!
Etwas spannte sich um meine Schläfen und ich vermutete, dass Pemberton die Jacke mit den Riemen seiner Zeichenmappe über meinem Kopf festzurrte.
Dann warf er mich über seine Schulter und trug mich mühelos wie ein Metzger ein Stück Rindfleisch wieder auf die andere Flussseite. Mir drehte sich noch alles, da hatte er mich auch schon unsanft wieder auf die Füße gestellt.
Er packte mich mit einer Hand im Nacken, hielt mit der anderen meinen Arm fest und stieß mich den Treidelpfad entlang.
»Setz immer schön einen Fuß vor den anderen, bis ich dir sage, dass du stehen bleiben sollst.«
Ich versuchte, um Hilfe zu rufen, aber mein Mund war voll nassem Taschentuch, sodass ich nur ein quiekendes Grunzen wie von einem Schweinchen zustande brachte. Ich konnte mich nicht mal beschweren, dass er mir weh tat.
Da begriff ich, dass ich noch nie in meinem Leben solche Angst gehabt hatte.
Während ich blindlings vor ihm her stolperte, sprach ich ein Stoßgebet nach dem anderen. Irgendjemand musste uns doch sehen! Dann würde uns der Betreffende bestimmt etwas zurufen, und das würde ich wohl trotz der um den Kopf gebundenen
»Halt!«, befahl er plötzlich unvermittelt, nachdem er mich ungefähr hundert Meter weit vor sich hergeschubst hatte. »Rühr dich nicht vom Fleck.«
Ich gehorchte.
Ich hörte es scheppern, dann knarrte es wie von ungeölten Türangeln. Die Garage!
»Eine Stufe hoch«, sagte er. »So ist’s recht … und jetzt drei Schritte geradeaus. Und wieder stehen bleiben.«
Hinter uns schloss sich die Tür mit hölzernem Ächzen wie ein Sargdeckel.
»Taschen ausleeren!«, kommandierte Pemberton.
Ich hatte nur eine Tasche, nämlich die in meinem Pullover. Und da war nichts drin außer dem Schlüssel zur Küchentür von Buckshaw. Vater bestand darauf, dass wir Schwestern für Notfälle immer einen Schlüssel bei uns trugen, und da er hin und wieder Stichproben machte, ging ich nie ohne Schlüssel aus dem Haus. Als ich die Tasche umkehrte, hörte ich, wie der Schlüssel auf den Holzboden fiel, weghüpfte und über die Dielen schlitterte. Dann verriet mir ein leises Klackern, dass er auf Beton gelandet war.
»Verdammter Mist!«, fluchte Pemberton.
Wunderbar! Der Schlüssel war bestimmt in die Mechanikergrube gefallen. Jetzt musste Pemberton die Bretter abnehmen und hinuntersteigen. Meine Hände waren frei. Ich konnte mir die Jacke vom Kopf reißen, zur Tür rausrennen, mir den Knebel herausziehen und wie am Spieß schreiend zur Hauptstraße laufen. Die war kaum eine Minute entfernt.
Ich behielt Recht. Schon hörte ich das unverwechselbare Geräusch von schweren Bohlen, die über den Boden geschleift
Seit wir hereingekommen waren, hatte ich mich nicht von der Stelle gerührt. Wenn ich mich nicht irrte, war hinter mir die Tür und vor mir die Grube. Demnach musste ich mich um hundertachtzig Grad drehen, und das blind.
Entweder konnte Pemberton Gedanken lesen oder ihm war aufgefallen, dass ich unmerklich den Kopf drehte. Im Handumdrehen war er bei mir und drehte mich ein paarmal im Kreis, als wollten wir Blindekuh spielen. Die blinde Kuh war ich, das stand mal fest. Als er endlich aufhörte, war mir so schwindlig, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
»Das hätten wir«, sagte er zufrieden. »Und jetzt klettern wir runter. Pass auf, wo du hintrittst.«
Ich schüttelte heftig den Kopf und stellte mir dabei vor, wie albern das mit einer Jacke um den Kopf aussehen musste.
»Hör gut zu, Flavia. Wenn du ein braves Mädchen bist, muss ich dir nicht wehtun. Sobald ich die Marke habe, schicke ich jemanden her, der dich hier rausholt. Andernfalls …«
Andernfalls?
»…sehe ich mich zu etwas ausgesprochen Unerfreulichem gezwungen.«
Vor meinen blinden Augen erschien das Bild des sterbenden Horace Bonepenny, und mir wurde klar, dass Pemberton kein Mann der leeren Worte war.
Er zog mich am Ellenbogen ein Stück weiter, bis ich vermutlich am Rand der Grube stand.
»Es sind acht Stufen. Ich zähle mit. Keine Angst, ich halte dich fest.«
Ich trat ins Leere.
»Eins«, sagte Pemberton, als mein Fuß Halt fand. Ich blieb schwankend stehen.
»Schön langsam … zwei … drei … jetzt bist du gleich unten.«
Ich streckte die rechte Hand aus und spürte, dass sich der Rand der Grube auf der Höhe meiner Schulter befand. Als ein kalter Hauch meine bloßen Knie streifte, fing mein Arm zu zittern an wie ein abgestorbener Zweig im Winterwind, und in meinem Hals bildete sich ein Kloß.