»Gut so … vier … fünf … jetzt sind’s nur noch zwei.«
Er kam hinter mir die Stufen heruntergestapft, immer eine nach der anderen. Sollte ich ihn am Arm packen und umreißen? Vielleicht schlug er sich ja auf dem Betonboden den Schädel ein, und ich konnte über ihn drübersteigen und wieder hinausklettern.
Da blieb er wie angewurzelt stehen und grub mir die Finger in den Oberarm. Ich stieß einen erstickten Schrei aus, und er lockerte seinen Griff.
»Schnauze!«, knurrte er. Mit ihm war eindeutig nicht zu spaßen.
Draußen in der Cow Lane stieß ein Lastwagen zurück. Der Rückwärtsgang jaulte und jammerte immer lauter. Da kam jemand!
Pemberton stand reglos da. Nur sein Keuchen war in der kalten Grube zu hören.
Wegen der Jacke konnte ich die Stimmen draußen nur gedämpft hören. Eine Ladeklappe polterte.
Aus irgendeinem Grund musste ich in diesem Augenblick an Feely denken. Warum, würde sie fragen, schreist du nicht? Warum reißt du dir nicht die Jacke runter und schlägst diesem Pemberton die Zähne in den Arm? Sie würde sich alles haarklein erzählen lassen, und was ich auch sagte, sie würde alles widerlegen, als wäre sie der Oberste Richter persönlich.
In Wirklichkeit hatte ich schon Schwierigkeiten, überhaupt genug Luft zu kriegen. Mein Taschentuch aus derbem praktischem
Wenn ich würgen musste, war ich geliefert. Bei der kleinsten Anstrengung wurde mir schauderhaft schwindlig. Abgesehen davon standen die Männer dort draußen neben einem Lastwagen mit laufendem Motor, dessen Geratter und Gerumpel mich ohnehin übertönen würde. Da hätte ich schon einen wahrhaft ohrenbetäubenden Lärm veranstalten müssen. Darum war es das Beste, wenn ich mich vorerst still verhielt und meine Kräfte schonte.
Die Ladeklappe schlug zu, zwei Türen klappten, dann fuhr der Lastwagen im ersten Gang gemächlich davon. Wir waren wieder allein.
»Und jetzt«, sagte Pemberton, »gehst du brav weiter. Noch zwei Stufen.«
Er zwickte mich fest in den Arm, und ich schob den Fuß nach vorn.
»Sieben«, zählte er.
Ich blieb stehen. Es widerstrebte mir, den letzten Schritt in meinen Kerker zu tun.
»Noch eine. Langsam.«
Als würde er einer alten Dame über die Straße helfen.
Mit dem letzten Schritt stand ich knöcheltief in Unrat. Ich hörte Pemberton mit dem Fuß darin herumscharren. Er hielt mich immer noch mit eisernem Griff am Arm fest und ließ nur einmal kurz locker, als er sich bückte, um etwas aufzuheben. Den Schlüssel. Wenn er den sehen konnte, dachte ich, fiel offenbar ein Schimmer Tageslicht auf den Boden der Grube.
Der Boden der Grube … Aus unerfindlichen Gründen fielen mir Inspektor Hewitts rätselhafte Worte ein, als er mich von der Polizeiwache nach Hause gefahren hatte. Die Streusel schmecken süß, jedoch, viel süßer schmeckt der Boden noch!
Was zum Kuckuck sollte das bedeuten? Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
»Tut mir leid, Flavia«, unterbrach Pemberton meine Grübeleien, »ich muss dich leider fesseln.«
Ich hatte noch gar nicht begriffen, was er gesagt hatte, da drehte er mir auch schon die Arme auf den Rücken und band mir die Handgelenke zusammen. Mit seiner Krawatte vielleicht?
Aber ich legte geistesgegenwärtig wieder die Fingerspitzen zusammen und drückte die Hände auseinander, wie neulich, als mich Feely und Daffy in den Wandschrank gesperrt hatten. Wann war das gewesen? Letzten Mittwoch? Es hätte auch vor tausend Jahren sein können.
Bedauerlicherweise war Pemberton nicht blöd. Er durchschaute sofort, was ich vorhatte, zwickte mich schmerzhaft in die Handrücken, und mein Dächlein stürzte ein. Anschlie ßend zurrte er die Fesseln ordentlich fest und verknotete sie doppelt und dreifach, wobei er bei jedem Knoten sicherheitshalber noch einmal kräftig zog.
Als ich mit dem Daumen über den Knoten fuhr, fühlte er sich glatt und weich an. Seidenweich. Er hatte tatsächlich seine Krawatte benutzt. Ein niederschmetternder Befund!
Meine Handgelenke schwitzten schon, und Feuchtigkeit lässt Seidenfasern einlaufen. Besser gesagt: Seidenfasern bestehen wie Haare aus Eiweiß und schrumpfen zwar selbst nicht, können sich aber bei entsprechender Webtechnik und unter der Einwirkung von Feuchtigkeit erbarmungslos zusammenziehen. Bald würden meine Hände nicht mehr richtig durchblutet werden, und nach einer Weile …
»Hinsetzen!« Pemberton drückte mich an der Schulter zu Boden, und ich setzte mich.
Seine Gürtelschnalle klirrte, dann schlang er mir den Gürtel um die Knöchel und zog ihn fest.
Anschließend sagte er nichts mehr. Seine Schritte knirschten
Kurz darauf war alles still. Er war weg.
Ich war allein in der Grube, und außer Pemberton wusste kein Mensch, wo ich war.
Einsam und verlassen würde ich hier unten sterben müssen, und wenn irgendwann jemand meine Leiche entdeckte, würde man meine sterblichen Überreste in einen blitzblanken schwarzen Leichenwagen verfrachten und in ein muffiges Leichenschauhaus überführen und dort auf einen Edelstahltisch legen.
Als Erstes würde man mir die Kiefer öffnen und den durchweichten Knebel herausziehen, und wenn man das Taschentuch neben meinen gebleichten Knochen ausbreitete, würde eine orangefarbene Briefmarke heraus- und zu Boden flattern - eine Briefmarke aus dem Besitz des Königs höchstpersönlich. Das hörte sich an wie aus einem Krimi von Agatha Christie, und bestimmt würde jemand, wenn auch vielleicht nicht Miss Christie selbst, einen Roman darüber verfassen.
Ich wäre dann zwar tot, aber meine Geschichte würde auf der Titelseite der News of the World prangen. Wäre ich nicht so zerschlagen und verängstigt gewesen, hätte mich diese Vorstellung womöglich belustigt.
24
Entführt zu werden ist irgendwie anders, als man es sich gemeinhin vorstellt. Zunächst einmal hatte ich meinen Entführer weder gebissen noch gekratzt. Ich hatte auch nicht geschrien. Ich war still und gehorsam neben ihm hergetrabt wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird.
Die einzige Entschuldigung, die mir dafür einfällt, ist die, dass ich ganz und gar mit fieberhaftem Nachdenken beschäftigt war, und keine Kraft mehr für meine Gliedmaßen übrig blieb. Es war ein erstaunlicher Haufen Unsinn, der mir jetzt durch den Kopf ging.
Zum Beispiel fiel mir ein, dass Maximilian behauptet hatte, auf den Kanalinseln brauche man als Opfer eines Verbrechens nur zu rufen: Haruh! Haruh, mon Prince! On me fait tort!
Leicht gesagt, aber schwer getan, wenn man den Mund voll Taschentuch hat und der Kopf in ein fremdes Tweedjackett gewickelt ist, das betäubend nach Schweiß und Pomade riecht.
Abgesehen davon ist England heutzutage mit Prinzen nicht mehr allzu gut bestückt. Die einzigen, die mir in diesem Moment einfielen, waren Prinzessin Elisabeths Gatte Prinz Philip und deren kleiner Sohn, Prinz Charles.
Unterm Strich kam heraus, dass ich allein zurechtkommen musste.
Was hätte wohl Marie Anne Paulze Lavoisier an meiner Stelle getan?, fragte ich mich abermals. Oder ihr Mann Antoine?
Meine gegenwärtige missliche Lage erinnerte mich entschieden
Nein, es war zu entmutigend, über Marie Anne und ihre todgeweihte Familie nachzudenken. Ich musste mich von anderen bedeutenden Chemikern anregen lassen.
Was hätten beispielsweise Robert Bunsen oder Henry Cavendish gemacht, wenn sie gefesselt und geknebelt in einer Mechanikergrube gesessen hätten?
Ich staunte selbst, wie schnell mir die Antwort einfieclass="underline" Die beiden hätten eine Bestandsaufnahme vorgenommen.
Jawohl - und genau das machte ich auch.
Ich befand mich in einer ein Meter achtzig tiefen Grube, deren Ausmaße auf beklemmende Weise an die eines Grabes erinnerten. Ich war an Händen und Füßen gefesselt und konnte kaum umhertasten. Pemberton hatte mir seine Jacke um den Kopf gewickelt und vermutlich obendrein mit den Ärmeln festgebunden, damit ich nichts sehen konnte. Der schwere Stoff beeinträchtigte auch mein Gehör, und mein Geschmackssinn war von dem Taschentuchknebel lahmgelegt.