Nein! Nicht, Flavia!
Meine Gedanken waren wie ein Strudel, der sich drehte … immer schneller drehte. Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen, und meine Nasenlöcher nahmen den Geruch von Methan wahr. Aber natürlich!
Das Rohr zum Flussufer musste voll davon sein. Alles, was ich brauchte, war eine Möglichkeit, es zu entzünden; über die nachfolgende Explosion würde man noch in vielen Jahren reden.
Ich musste die Mündung des Rohres finden und dagegentreten. Mit etwas Glück sprangen aus den Nägeln an meinen Schuhsohlen Funken, das Methan explodierte - und das wär’s dann.
Der einzige Nachteil dieses Planes bestand darin, dass ich an der Öffnung des Rohrs stehen würde, wenn das Ding losging. Das wäre dann in etwa so, als würde man vor die Mündung einer Kanone gebunden.
Ach, was kümmerten mich irgendwelche Kanonen! Ich würde jedenfalls nicht kampflos hier unten in dieser stinkenden Grube sterben.
Ich sammelte alle meine verbliebenen Kräfte, stemmte die Fersen gegen den Boden und schob mich an der Wand hinauf, bis ich aufrecht stand. Es dauerte länger, als ich erwartet hatte, aber letztendlich stand ich dann doch einigermaßen gerade da.
Jetzt war keine Zeit mehr zum Nachdenken. Ich würde die Quelle des Methangases finden oder bei dem Versuch draufgehen!
Als ich vorsichtig in die Richtung hopste, in der ich die Röhre vermutete, flüsterte mir eine kalte Stimme ins Ohr:
»Und jetzt zu Flavia.«
26
Es war Pemberton. Als ich seine Stimme hörte, blieb mir fast das Herz stehen. Was meinte er mit: »Und jetzt zu Flavia«? Hatte er Daffy bereits etwas Schreckliches angetan? Oder Feely? Oder … Dogger?
Noch ehe ich mir Einzelheiten ausmalen konnte, packte er meinen Oberarm mit einem lähmenden Griff, wobei er mir wie schon vorher den Daumen grob in den Muskel bohrte. Ich versuchte zu schreien, kriegte aber keinen Ton heraus. Beinahe hätte ich brechen müssen.
Ich schüttelte heftig den Kopf, aber er ließ mich erst nach einer halben Ewigkeit los.
»Aber zuerst müssen Frank und Flavia sich ein bisschen unterhalten«, sagte er in einem so netten, plauderhaften Ton, als spazierten wir gemeinsam durch den Park, und in diesem Augenblick wurde mir erst so richtig klar, dass ich hier ganz allein mit einem Verrückten in meinem persönlichen schwarzen Loch von Kalkutta saß.
»Ich nehme dir jetzt die Jacke vom Kopf, verstanden?«
Ich stand einfach nur wie versteinert da.
»Hör mir gut zu, Flavia. Wenn du nicht genau das tust, was ich dir sage, bringe ich dich um. So einfach ist das. Hast du mich verstanden?«
Ich nickte kurz.
»Gut. Und jetzt keinen Ton mehr.«
Ich spürte, wie er grob an den Knoten herumriss, die er in seine Jacke gemacht hatte, und im nächsten Augenblick
Der Strahl seiner Taschenlampe traf mich wie ein Hammerschlag und blendete mich brutal.
Erschrocken wich ich zurück. Blitzende Sterne und schwarze Flecken durchzuckten abwechselnd mein Gesichtsfeld. Ich war so lange im Dunkeln gewesen, dass sogar das Licht eines einzigen Streichholzes quälend gewesen wäre. Pemberton leuchtete mir aber mit einer kräftigen Taschenlampe direkt und absichtlich in die Augen.
Da ich mir nicht die Hände schützend vors Gesicht halten konnte, blieb mir nur, den Kopf zur Seite zu drehen, die Augenlider zusammenzupressen und zu warten, bis die Übelkeit wieder verging.
»Tu weh, hm?«, fragte er. »Aber das ist gar nichts gegen das, was ich mit dir anstelle, wenn du mich noch einmal anlügst.«
Ich machte die brennenden Augen auf und versuchte, mich auf eine dunkle Ecke der Grube zu konzentrieren.
»Sieh mich an!«, verlangte er.
Ich drehte den Kopf und blinzelte ihn mit einer höchstwahrscheinlich ziemlich grässlichen Grimasse an. Ich sah nichts von dem Mann hinter der runden Linse seiner Taschenlampe, deren grausamer Strahl sich mir immer noch wie eine riesenhafte weiße Wüstensonne ins Gehirn brannte.
Er ließ sich sehr viel Zeit dabei, den gleißenden Strahl weg von mir und auf den Boden zu richten. Irgendwo hinter dem Licht war er nicht mehr als eine Stimme in der Dunkelheit.
»Du hast mich angelogen.«
Meine Antwort bestand aus einer Art Achselzucken.
»Du hast mich angelogen«, wiederholte Pemberton jetzt lauter, und dieses Mal nahm ich die Anspannung in seiner Stimme deutlich wahr. »In dieser Uhr war außer der Penny Black nichts versteckt.«
Also war er tatsächlich auf Buckshaw gewesen! Mein Herz flatterte wie ein Vogel im Käfig.
»Mngg«, sagte ich.
Pemberton dachte ein paar Sekunden darüber nach, konnte sich aber keinen Reim darauf machen.
»Ich nehme dir das Taschentuch aus dem Mund, aber zuerst will ich dir etwas zeigen.«
Er hob seine Tweedjacke vom Boden auf, fasste in die Tasche und zog einen glänzenden Gegenstand aus Glas und Metall heraus. Bonepennys Spritze! Er hielt sie vor mich, damit ich sie genau betrachten konnte.
»Die hast du doch gesucht, oder? Im Gasthaus und in eurem Garten! Dabei ist sie die ganze Zeit hier in meiner Jacke gewesen!«
Er lachte schnaubend wie ein Schwein durch die Nase und setzte sich auf die Treppe. Dort klemmte er sich die Taschenlampe zwischen die Knie, hielt die Spritze senkrecht nach oben und kramte wieder in seiner Jacke herum, bis er eine kleine braune Flasche herauszog. Ich hatte kaum Zeit, das Etikett zu lesen, da nahm er schon den Verschluss ab und befüllte rasch die Spritze damit.
»Ich denke mal, du weißt, was das hier ist, Fräulein Schlaumeier?«
Unsere Blicke begegneten sich, aber ich ließ nicht erkennen, ob ich ihn gehört hatte.
»Und denk ja nicht, dass ich nicht genau weiß, wie und wohin man das hier injiziert. Schließlich habe ich nicht umsonst so viele Stunden im Sezierraum in London zugebracht. Nachdem ich den alten Bony bewusstlos geschlagen hatte, war die eigentliche Injektion beinahe lächerlich einfach: ein bisschen schräg halten beim Einstechen, dann durch splenius capitus und semispinalis capitis, das Band zwischen Atlas und Axis punktieren und dann die Nadel über den Wirbelbogen schieben. Und - zack! - schon gehen die Lichter aus! Fast sofort
Genau wie ich gefolgert hatte! Ich wusste genau, wie er es getan hatte! Der Mann war komplett verrückt.
»Jetzt hör zu«, sagte er. »Ich nehme dir das Taschentuch aus dem Mund, und du sagst mir, was du mit den Rächern von Ulster gemacht hast. Ein falsches Wort … eine falsche Bewegung, und …«
Er hielt mir die Spritze fast bis an die Nase und drückte leicht auf den Kolben. Ein paar Tropfen Tetrachlorkohlenstoff zeigten sich einen Moment lang wie Tau auf der Nadelspitze und tropften dann auf den Boden. Meine Nase nahm den vertrauten Duft sofort wahr.
Pemberton legte die Taschenlampe auf die Treppe und richtete ihren Strahl so aus, dass sie mir ins Gesicht leuchtete. Die Spritze legte er daneben.
»Mund auf«, sagte er.
Dabei schoss mir Folgendes durch den Kopf: Er würde mir Daumen und Zeigefinger in den Mund stecken, um das Taschentuch herauszuholen. Ich würde zubeißen, so fest ich konnte, und sie ihm einfach abbeißen!
Aber was dann? Ich war immer noch an Händen und Fü ßen gefesselt, und selbst wenn ich ihn schlimm erwischte, war Pemberton immer noch in der Lage, mich ganz einfach umzubringen.
Ich öffnete meine schmerzenden Kiefer ein bisschen.
»Weiter auf«, sagte er und wartete noch. Dann stießen seine Finger blitzschnell vor und zogen mir das durchtränkte Taschentuch aus dem Mund. Einen Moment befand sich der Schatten seiner Hand vor dem Licht der Taschenlampe, sodass er das, was ich sah, nicht sehen konnte: ein kurzes orangefarbenes Aufblitzen, als das nasse Knäuel in der Dunkelheit auf den Boden fiel.
»Danke«, flüsterte ich heiser und machte meinen ersten Zug in dieser zweiten Partie unseres Spiels.