Pemberton wirkte verblüfft.
»Jemand muss sie gefunden haben«, krächzte ich. »Die Briefmarken, meine ich. Ich habe sie in der Uhr versteckt, ich schwöre es.«
Ich wusste sofort, dass ich zu weit gegangen war. Aber wenn ich die Wahrheit sagen würde, hätte Pemberton keinen Grund mehr gehabt, mich am Leben zu lassen. Ich war die Einzige, die wusste, dass er der Mörder war.
»Es sei denn …«, fügte ich eilig hinzu.
»Es sei denn was? Was?«
Er stürzte sich auf die Worte wie ein Schakal auf eine verwundete Antilope.
»Meine Füße«, jammerte ich. »Es tut so weh. Ich kann nicht … machen Sie es doch bitte lockerer … wenigstens ein bisschen lockerer.«
»Na schön«, sagte er erstaunlicherweise sofort. »Aber deine Hände bleiben gefesselt. Damit kommst du auch nicht weit.«
Ich nickte eifrig.
Pemberton ging in die Knie und löste seine Gürtelschnalle. Als der Lederriemen von meinen Knöcheln fiel, nahm ich all meine Kraft zusammen und trat ihm in die Zähne.
Sein Kopf flog nach hinten und knallte gegen den Beton, und ich hörte etwas Gläsernes auf den Boden fallen und in die Ecke rollen. Pemberton rutschte langsam an der Wand herunter, bis er saß, während ich auf die Treppe zuhumpelte.
Dann ging ich hinauf … eine Stufe … zwei … meine schwerfälligen Füße traten gegen die Taschenlampe, die kreiselnd auf den Grubenboden fiel, wo sie liegen blieb und einen von Pembertons Schuhen anstrahlte.
Drei … vier … Meine Füße fühlten sich an wie an den Knöcheln abgehackte Stummel.
Fünf …
Jetzt musste mein Kopf eigentlich schon über den Rand der Grube hinausragen. Falls ja, lag der ganze Raum in schwärzester Dunkelheit. Es musste Nacht sein. Demnach hatte ich mehrere Stunden geschlafen.
Während ich versuchte, mich daran zu erinnern, in welcher Richtung die Tür lag, fing es in der Grube an zu scharren. Der Strahl der Taschenlampe fingerte über die Decke und plötzlich war Pemberton auf der Treppe und stand hinter mir.
Er warf die Arme um mich und quetschte mich dermaßen zusammen, dass ich nicht mehr atmen konnte. Ich hörte die Knochen in meinen Schultern und Ellenbogen knacken.
Ich versuchte, gegen seine Schienbeine zu treten, aber er hatte mich rasch überwältigt.
Wie zwei Kreisel taumelten wir in dem Raum von einer Seite zur anderen.
»Nein!«, schrie er auf, verlor das Gleichgewicht, fiel rückwärts wieder in die Grube und riss mich mit sich.
Er schlug mit einem widerlich dumpfen Geräusch auf dem harten Boden auf, und fast im gleichen Moment prallte ich auf ihn. Ich hörte ihn in der Dunkelheit keuchen. Hatte er sich das Rückgrat gebrochen? Oder würde er sich gleich wieder aufrappeln und mich wieder wie eine leblose Puppe schütteln?
Pemberton schleuderte mich mit einer Kraft, die ich ihm nicht zugetraut hätte, von sich, und ich flog, mit dem Gesicht nach unten, in eine Ecke der Grube. Wie eine Raupe wand und schlängelte ich mich verzweifelt wieder auf, aber es war zu spät: Pemberton packte mich grob am Arm und zog mich in Richtung Treppe.
Es war beinahe zu einfach: Er ging in die Hocke, hob die Taschenlampe auf und streckte die Hand nach den Stufen aus. Ich hatte gedacht, die Spritze sei auf den Boden gefallen, aber ich musste wohl die Flasche gehört haben, denn kurz darauf sah ich aus dem Augenwinkel die Spritze in seiner Hand, und dann spürte ich einen Stich im Nacken.
Mein einziger Gedanke war der, Zeit zu gewinnen.
»Sie haben Professor Twining ermordet, stimmt’s?«, keuchte ich. »Sie und Bonepenny.«
Damit schien ich ihn kalt zu erwischt zu haben, denn ich spürte, wie sich sein Griff lockerte.
»Wie kommst du denn darauf?«, keuchte er mir ins Ohr.
»Es war Bonepenny da oben auf dem Dach«, sagte ich. »Bonepenny hat Vale! gerufen. Er hat Mr Twinings Stimme nachgemacht. Und Sie haben Mr Twining durch das Loch hinabgestoßen.«
Pemberton atmete laut schnaufend durch die Nase ein.
»Hat dir das Bonepenny erzählt?«
»Ich habe die Robe und das Barett gefunden«, erwiderte ich. »Unter den Ziegeln. Da bin ich ganz von allein draufgekommen.«
»Du bist ein sehr kluges Mädchen«, sagte er, fast bedauernd.
»Und jetzt, nachdem Sie Bonepenny ermordet haben, gehören die Briefmarken Ihnen. Jedenfalls dann, wenn Sie wüssten, wo sie sind.«
Das schien ihn wütend zu machen. Er drückte meinen Arm fester zusammen und bohrte mir wieder den Daumen in den Oberarmmuskel. Ich schrie vor Schmerz laut auf.
»Fünf Worte, Flavia«, zischte er: »Wo sind meine verdammten Briefmarken?«
In der langen Stille, die darauf folgte, und unter einem beinahe betäubenden Schmerz, suchte mein Verstand sein Heil in der Flucht.
Wird das Flavias Ende sein?, fragte ich mich.
Wenn ja, wachte Harriet über mich? Vielleicht saß sie in diesem Augenblick auf einer Wolke, ließ die Füße über den Rand baumeln und sagte: »Aber nein, Flavia! Tu das nicht! Sag das nicht! Vorsicht, Flavia! Gefahr!«
Falls es so sein sollte, konnte ich sie leider nicht hören. Vielleicht war ich ja doch viel weiter von Harriet entfernt als Feely
Es war schon sehr traurig, dass ich von Harriets drei Kindern das einzige war, das keine richtige Erinnerung an sie hatte. Feely hatte wie ein Geizkragen acht Jahre Mutterliebe erfahren und gehortet. Und Daffy behauptete steif und fest, sie könne sich, obwohl sie bei Harriets Verschwinden noch nicht einmal drei Jahre alt gewesen war, noch sehr genau an eine schlanke, lachende junge Frau erinnern, die ihr ein gestärktes Kleid angezogen, ein Hütchen aufgesetzt und sie dann auf eine Decke auf der sonnenüberfluteten Wiese gesetzt habe, woraufhin sie mit einer Klappkamera ein Foto von ihr gemacht und ihr anschließend eine saure Gurke gegeben habe.
Der nächste Stich holte mich in die Wirklichkeit zurück. Die Nadel hatte fast meinen Hirnstamm erreicht.
»Die Rächer von Ulster. Wo sind sie?«
Ich zeigte mit dem Finger in die Ecke der Grube, wo das Taschentuch zusammengeknüllt im Dunkeln lag. Als der Strahl von Pembertons Taschenlampe in die besagte Richtung tanzte, schaute ich weg, und dann richtete ich den Blick nach oben, so wie es angeblich die Heiligen von früher getan haben, wenn sie auf himmlische Errettung hofften.
Ich hörte es, bevor ich es sah. Es war eine dumpfes, wirbelndes Geräusch, als flatterte draußen vor dem Schuppen ein riesenhafter mechanischer Pterodaktylus herum. Kurz darauf krachte es fürchterlich, und ein Regen aus Glassplittern prasselte auf uns herab.
Der Raum über uns, oberhalb des Grubenrandes, explodierte in grell gleißendem, gelbem Licht, durch das Dampfwolken hindurchwehten wie kleine, schnaufende Seelen der Verstorbenen.
Ich stand da wie angewurzelt und starrte die eigenartig vertraute Erscheinung an, die bebend und ratternd über der Grube hockte.
Ich bin übergeschnappt, dachte ich. Ich bin völlig verrückt geworden.
Direkt über meinem Kopf befand sich, zitternd wie ein lebendiges Wesen, der Unterboden von Harriets Rolls-Royce.
Ehe ich auch nur blinzeln konnte, hörte ich, wie seine Türen aufgingen und Füße über mir auf den Garagenboden traten.
Pemberton machte einen Satz zur Treppe und kroch wie eine in die Enge getriebene Ratte hinauf. Oben angekommen, versuchte er verzweifelt, sich zwischen Grubenrand und vorderem Stoßdämpfer des Phantom durchzuquetschen.
Eine körperlose Hand erschien, packte ihn am Kragen und zog ihn aus der Grube heraus wie einen Fisch aus einem Teich. Seine Schuhe verschwanden im Licht über mir, und ich hörte eine Stimme - Doggers Stimme! - sagen: »Entschuldigen Sie, das war mein Ellenbogen.«
Ein widerlich knirschendes Geräusch ertönte, dann plumpste etwas über mir auf den Boden wie ein Sack Steckrüben.