Ich war immer noch völlig benommen, als die Erscheinung wie aus dem Nichts vor mir auftauchte. Sie war ganz weiß, schob sich ohne Mühe durch den schmalen Spalt zwischen Chrom und Beton und stieg dann flatternd in die Grube herab.
Als das Wesen seine Arme um mich warf und an meiner Schulter zu schluchzen anfing, spürte ich, dass sein dünner Körper wie ein Blatt zitterte.
»Dummes kleines Ding! Du dummes kleines Ding!«, weinte es wieder und wieder und drückte seine rauen roten Lippen gegen meinen Hals.
»Feely!« Ich war völlig erstaunt. »Du machst dir ja dein bestes Kleid ganz dreckig!«
Außerhalb der Garage, in der Cow Lane, ging es zu wie in einem Wachtraum: Feely kniete heulend vor mir und hatte die Arme fest um mich geschlungen. Einen Augenblick lang
Und dann schienen sämtliche Bewohner von Bishop’s Lacey plötzlich wie von Zauberhand aufzutauchen, kamen langsam aus der Dunkelheit auf uns zu, gluckten wie bei einer Dorfversammlung in der von Taschenlampen beschienenen Szene rings um das Loch zusammen, das dort klaffte, wo sich einmal die Tür zur Garage befunden hatte. Sie erzählten einander, was sie gerade getan hatten, als das entsetzlich laute Krachen das ganze Dorf aufgeschreckt hatte. Es war wie eine Szene aus dem Musical Brigadoon, wenn das Dorf alle hundert Jahre für jeweils nur einen Tag zum Leben erwacht.
Harriets Phantom, dessen herrlicher Kühlergrill, nachdem er als Rammbock missbraucht worden war, ziemlich perforiert aussah, stand jetzt still vor sich hindampfend vor der Garage und ließ Wasser durch ein Leck auf den staubigen Boden rinnen. Einige der kräftigeren Dorfbewohner, darunter auch Tully Stoker, wie mir auffiel, hatten den schweren Wagen rückwärts herausgeschoben, damit Feely und ich aus der Grube stiegen und in das Licht seiner unbarmherzig grellen großen runden Scheinwerfer treten konnten.
Feely war jetzt wieder auf den Beinen, klammerte sich aber immer noch an mir fest wie eine Napfschnecke an einem Kriegsschiff und plapperte aufgeregt vor sich hin.
»Wir sind ihm gefolgt, weißt du, Dogger wusste, dass du noch nicht nach Hause gekommen warst, und als er jemanden ums Haus herumschleichen sah …«
In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so viele aufeinanderfolgende Worte an mich gerichtet, und ich kostete jedes einzelne davon aus.
»Er hat natürlich die Polizei angerufen, dann hat er gesagt, wenn wir diesen Mann verfolgen … wenn wir die Scheinwerfer
Der gute alte leise Roller, dachte ich. Trotzdem würde Vater wohl sehr wütend werden, wenn er den Schaden sah.
Miss Mountjoy stand ein wenig abseits, zog sich den Wollschal fest um die Schultern und starrte missbilligend auf den zersplitterten Höhleneingang, der einmal das Tor zur Garage gewesen war. Ihre Miene erweckte den Eindruck, als sei eine derartig rücksichtslose Entweihung von Bibliothekseigentum mehr als nur ein Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich suchte ihren Blick, aber sie schaute ängstlich in Richtung ihres Häuschens, als hätte sie für einen Abend schon genug Aufregung gehabt und wollte sich deshalb allmählich wieder auf den Heimweg machen.
Auch Mrs Mullet war da, mit einem kleinen dicken Rollmops von einem Mann, der sie sichtlich im Zaum hielt. Das musste Alf, ihr Mann, sein, und er war ganz und gar nicht der Spargeltarzan, als den ich ihn mir immer vorgestellt hatte. Wäre sie allein da gewesen, hätte sich Mrs M garantiert nach vorne gedrängelt, die Arme um mich geworfen und laut geweint, aber Alf schien ein instinktsicheres Gefühl dafür zu haben, dass öffentliche Zurschaustellungen von Vertrautheit in dieser Situation nicht angebracht waren. Als ich sie kurz anlächelte, tupfte sie mit der Fingerspitze an einem Auge herum.
In diesem Moment erschien Dr. Darby am Ort des Geschehens, und zwar wie immer so, als wäre er gerade bei einem kleinen Abendspaziergang. Trotz seines lässigen Auftretens fiel mir sofort auf, dass er seine schwarze Arzttasche dabeihatte. Seine Praxis mit angeschlossenem Wohnhaus lag gleich um die Ecke auf der Hauptstraße, weshalb auch er das splitternde Holz und das berstende Glas gehört haben musste. Jetzt betrachtete er mich aufmerksam von Kopf bis Fuß.
»Alles klar, Flavia?«, fragte er und beugte sich kurz vor, um sich meine Augen genauer anzusehen.
»Alles bestens, Dr. Darby, danke der Nachfrage«, sagte ich freundlich. »Und bei Ihnen?«
Er griff nach seinen Gletschereisbonbons. Noch ehe die Papiertüte halb aus seiner Tasche heraus war, lief mir der Speichel im Mund zusammen wie bei einem Hund: Nach der stundenlangen Gefangenschaft mit Knebel hatte ich einen absolut widerlichen Geschmack im Mund.
Dr. Darby kramte kurz in seinen Bonbons herum, wählte sorgfältig das seiner Meinung nach verlockendste aus und warf es sich in den Mund. Kurz darauf befand er sich schon wieder auf dem Heimweg.
Der kleine Menschenauflauf bildete eine Gasse für ein Automobil, das aus der Hauptstraße in die Cow Lane einbog. Als es neben der Steinmauer abrupt zum Stehen kam, strahlten seine Scheinwerfer zwei Gestalten an, die gemeinsam unter einer Eiche standen: Mary und Ned. Sie kamen nicht näher, sondern grinsten mich nur verlegen an.
Ob Feely sie schon gesehen hatte? Wahrscheinlich nicht, denn sie plapperte immer noch tränenreich auf mich ein und erzählte mir von der Rettungsaktion. Falls sie die beiden entdeckte, würde ich womöglich schon bald die Schiedsrichterin bei einem Faustkampf sein und bis zu den Knien in ausgerissenen Haaren stehen. Daffy hatte mir einmal gesagt, dass immer dann, wenn es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung kommt, normalerweise die Tochter des Gutsbesitzers den ersten Schlag anbringt, und niemand weiß besser als ich, dass Feely durchaus das Zeug dazu hat. Trotzdem sage ich nicht ohne Stolz, dass ich trotz der Umstände die Geistesgegenwart und den Mut aufbrachte, Ned heimlich mit erhobenem Daumen meinen Glückwunsch zu signalisieren.
Eine Tür im Fond des Vauxhall ging auf, und Inspektor Hewitt kletterte heraus. Zur gleichen Zeit entfalteten sich die
Sergeant Woolmer ging mit raschen Schritten auf Dogger zu, der Pemberton mit einem komplizierten und schmerzhaft aussehenden Griff festhielt, bei dem Pemberton aussah wie ein nach vorne gebeugter Atlas, der das Gewicht der Welt auf seinen Schultern trägt.
»Ich übernehme ihn, Sir«, sagte Sergeant Woolmer, und kurz darauf glaubte ich das Klicken vernickelter Handschellen zu hören.
Dogger sah zu, wie Pemberton auf das Polizeiauto zuschlurfte, dann drehte er sich um und kam langsam auf mich zu. Bevor er mich erreicht hatte, flüsterte mir Feely noch aufgeregt ins Ohr: »Dogger ist auf die Idee gekommen, den Royce mit der Traktorbatterie anzulassen. Vergiss nicht, dich bei ihm dafür zu bedanken.«
Dann gab sie meine Hand frei und ließ von mir ab.
Dogger stand vor mir und ließ die Hände ein wenig hilflos herunterhängen. Hätte er einen Hut gehabt, er hätte ihn bestimmt in den Händen gedreht. Da standen wir also und sahen einander an.
Ich wollte nicht damit anfangen, ihm wegen der Batterie zu danken. Ich wollte lieber gleich die richtigen Worte finden: denkwürdige Worte, über die man noch einige Jahre in ganz Bishop’s Lacey sprechen würde.
Eine dunkle Silhouette, die sich vor die Scheinwerfer des Vauxhall schob, lenkte meine Aufmerksamkeit jedoch ab, denn sie warf ihren Schatten über mich und Dogger. Dort stand eine vertraute Gestalt wie ein Scherenschnitt im grellen Licht: Vater.
Langsam, beinahe schüchtern setzte er sich in Bewegung, kam auf mich zu. Als er erkannte, dass Dogger neben mir stand, blieb er stehen, als wäre ihm gerade etwas absolut Lebenswichtiges
Miss Cool, die Postmeisterin, nickte mir freundlich zu, hielt sich aber zurück, als sei ich irgendwie eine andere Flavia als diejenige, die - war das erst vor zwei Tagen gewesen? - in ihrem Laden für einen Shilling Sixpence Süßigkeiten gekauft hatte.
»Feely«, sagte ich und drehte mich zu ihr um. »Würdest du mir einen Gefallen tun? Geh doch mal rasch in die Grube und bring mir mein Taschentuch. Pass aber auf, dass du auch das mitbringst, was darin eingewickelt ist. Dein Kleid ist sowieso schon schmutzig. Sei doch bitte so gut.«