… mein Bapa ist im gansen Leibe nur eine Beile, bald blau bald grön; auch sind zwei Benke mit seinem Blute be flegt. Wir sahen uns genetigt, ihn in die Kiche hinunter zu bringen, woer jetzt ligt. Sie werden hieraus selber urteilen, dass er sehr heruntergekommen ist.
Nachdem Ihr Newö, den Sie als einen Leerer recommandirten, meinem Bapa dieß angedan und mit baren Füsen auf seinem Leib herumgesprungen hate und auch schempfte mit was ich die Beschreibung meiner Feder nicht beschmutzen mag, so grif er Mama auf eine firchderliche Weise an, schleuderte sie zu Boden und schlug ihr den Kam einige Zol tief in den Kopf, ein klein wenig weider und es were in den Schedel gegangen. Wir haben ein medizinisches Zerdifikat, das, wenn dieß geschehen wäre, der Schildkrot das Hirn verletzt haben würde.
Und jetzt hört euch den nächsten Absatz an:
Dann wurde ich und mein Bruder die Opfer seiner Wut und wir haben seitdem ser viele schmerzen ausgestanden, was uns zu der peinlichen Vermutung leitet, dass wir irgendwo innerlich Schaden genommen haben, besonders da euserlich keine Spuren der Gewaldsamkeit sichtbar sind. Ich muss die ganse Zeit über, das ich schreibe, immer laud aufschreien …«
Für mich hörte sich das wie ein klassischer Fall von Zyankali-Vergiftung an, aber ich hatte keine Lust, die beiden dummen Ziegen an meiner Erkenntnis teilhaben zu lassen.
»Ich muss die ganse Zeit beim Schreiben laud schreien«, wiederholte Daffy. »Stellt euch das bloß mal vor!«
»Das Gefühl kenn ich.« Ich schob meinen Teller weg und ging, ohne mein Frühstück auch nur angerührt zu haben, langsam die Treppe zu meinem Labor hoch.
Immer wenn ich durcheinander war, zog ich mich in mein Sanctum Sanctorum zurück. Hier, zwischen den Flaschen und Reagenzgläsern, gestattete ich mir den Luxus, in dem zu schwelgen, was ich insgeheim den »Geist der Chemie« zu nennen pflegte. Entweder vollzog ich Schritt für Schritt die Entdeckungen der großen Chemiker nach, oder ich zog andächtig einen Band von Tar de Luces kostbaren Büchern aus dem Regal, etwa die englische Übersetzung von Antoine Lavoisiers Chemische Elemente, erschienen 1790, dessen Blätter aber noch nach hundertsechzig Jahren so fest wie Metzgereipapier waren. Ich erfreute mich an den altmodischen Namen und Bezeichnungen, die nur darauf warteten, von den Seiten gepflückt zu werden: Antimonbutter … Arsenblumen.
»Übel riechende Gifte«, nannte sie Lavoisier, aber ich suhlte mich im Klang ihrer Namen wie ein Schwein im Kurbad.
»Königsgelb!«, sagte ich laut, kostete die Worte aus und labte mich trotz ihrer giftigen Wirkung daran.
»Venuskristalle! Boyles dampfende Flüssigkeiten! Ameisen öl!«
Aber diesmal wollte es nicht klappen. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Ich musste an Vater denken und daran, was ich gesehen und gehört hatte. Wer war dieser Twining - der »olle Teebeutel« -, der Mann, von dem Vater behauptet hatte, er und der Fremde hätten ihn umgebracht? Und
Auch der Auszug aus Dickens, den uns Daphne vorgelesen hatte, ging mir im Kopf herum: die Stelle mit den blauen und grünen Flecken. Hatte sich Vater mit dem Fremden geprügelt und konnte wegen seiner Blessuren nicht bei Tisch erscheinen? Oder hatte er innere Verletzungen davongetragen, wie sie Fanny Squeers beschrieb: Verletzungen, die keinerlei äu ßere Gewalteinwirkung erkennen ließen? Vielleicht war der Rothaarige ja daran gestorben. Das würde erklären, warum ich kein Blut gesehen hatte. War Vater womöglich ein Mörder? Gar ein zweifacher?
Mir schwirrte der Kopf, und um mich wieder zu beruhigen, fiel mir nichts Besseres ein als Das Große Wörterbuch der Englischen Sprache. Ich holte mir den Band mit dem Buchstaben »V«. Was hatte mir der Fremde ins Gesicht geröchelt? Richtig: »Vale«!
Hastig blätterte ich die Seiten um: vakant … Vakuum … Vakzination … da war es - Vale: Gehab dich wohl, Auf Wiedersehen, Adieu. Imperativ des lateinischen Verbs valere: wohl ergehen.
Merkwürdig, dass ein Sterbender so etwas zu jemandem sagt, den er gar nicht kennt.
Ein plötzlicher Lärm in der Eingangshalle ließ mich hochfahren. Jemand drosch auf den Gong ein, und zwar nicht eben zimperlich. Die große Metallscheibe, die aussah wie aus dem Vorspann eines Kinofilms von J. Arthur Rank, war schon seit Menschengedenken von niemandem mehr betätigt worden, was erklären mag, weshalb mich das Geschepper dermaßen zusammenzucken ließ.
Ich stürmte aus dem Labor und die Treppe hinunter. Unten
»Der Leichenbeschauer«, stellte er sich mir kurz und knapp vor. Obwohl er sich nicht die Mühe machte, mir seinen Namen zu nennen, erkannte ich ihn sofort. Es war Dr. Darby, einer der beiden Ärzte aus der einzigen Praxis in Bishop’s Lacey.
Dr. Darby glich John Bull wie ein Ei dem anderen: das puterrote Gesicht, das Dreifachkinn und der Bauch, der sich wie ein geblähtes Segel vorwölbte. Er trug einen braunen Anzug und eine gelb karierte Weste und hatte die typische schwarze Arzttasche dabei. Falls er sich noch an das Mädchen erinnerte, dessen Hand er im Vorjahr nach dem Zwischenfall mit einem widerspenstigen Laborglas genäht hatte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Er stand einfach nur da, erwartungsvoll wie ein Jagdhund, der Witterung aufgenommen hat.
Vater ließ sich immer noch nicht blicken, auch Dogger machte sich rar. Mir war klar, dass Feely und Daffy sich niemals herablassen würden, auf den Ton einer Glocke zu reagieren (»Das ist mir zu pawlowsch«, würde Feely sagen), und Mrs Mullet verließ ihre Küche so gut wie nie.
»Die Beamten sind im Garten«, sagte ich darum. »Ich bringe Sie hin.«
Als wir nach draußen in den Sonnenschein traten, blickte Inspektor Hewitt auf. Er betrachtete gerade die Schnürsenkel eines schwarzen Schuhs, der ziemlich unästhetisch zwischen den Gurken hervorlugte.
»Moin, Fred«, sagte er. »Dachte mir, du schaust dir das hier am besten mal an.«
»Mhm«, brummte Dr. Darby, klappte seine Tasche auf, kramte darin herum und förderte schließlich eine weiße Papiertüte zutage. Er griff hinein, holte ein Gletschereisbonbon heraus, steckte es in den Mund und lutschte laut und genüsslich daran.
Dann stapfte er durch Gras und Blätter und kniete sich schwerfällig neben die Leiche.
»Irgendwer, den wir kennen?«, nuschelte er.
»Glaub nicht«, antwortete Inspektor Hewitt. »Leere Taschen … keine Papiere … Grund genug für die Annahme, dass er erst kürzlich aus Norwegen gekommen ist.«
Kürzlich aus Norwegen gekommen? Wenn diese Schlussfolgerung nicht des großen Holmes würdig war! Und ich hatte sie mit eigenen Ohren vernommen! Beinahe hätte ich dem Inspektor sein voriges unverschämtes Benehmen verziehen. Aber nur beinahe.
»Die Anfragen laufen bereits … Überseehäfen und so weiter.«
»Diese verflixten Norweger!« Dr. Darby griff nach seiner Tasche und machte sie zu. »Versammeln sich bei uns wie die Vögel auf einem Leuchtturm, dann hauchen sie hier ihren Geist aus, und wir dürfen die Sauerei wegmachen. Ich finde das nicht anständig.«
»Was soll ich als Todeszeitpunkt eintragen?«, erkundigte sich Inspektor Hewitt.
»Schwer zu sagen. Ist immer knifflig. Na ja, nicht immer, aber oft.«
»Pi mal Daumen.«
»Lässt sich bei Zyanose schwer feststellen; das dauert immer’ne Weile, bis man mit Sicherheit sagen kann, ob sie kommt oder geht. Acht bis zwölf Stunden, würde ich sagen. Mehr kann ich Ihnen erst sagen, wenn wir unseren Freund auf dem Tisch haben.«
»Soll heißen …?«
Dr. Darby schob die Manschette zurück und sah auf die Uhr.
»Warten Sie mal … jetzt haben wir 8.22 Uhr, demnach … nicht früher als gestern Abend um 20 Uhr und nicht später als um, sagen wir … Mitternacht.«
Um Mitternacht! Ich muss wohl nach Luft geschnappt haben, denn sowohl Inspektor Hewitt als auch Dr. Darby drehten sich zu mir um. Sollte ich ihnen sagen, dass mir der Fremde aus Norwegen erst vor ein paar Stunden seinen letzten Atemzug ins Gesicht gehaucht hatte?