Auf diese Frage gab es nur eine Antwort. Ich nahm die Beine in die Hand.
Ich traf Dogger beim Beschneiden der Rosen unter dem Bibliotheksfenster an. Ihr intensiver Duft lag schwer in der Luft und erinnerte an das köstliche Aroma orientalischer Teekisten.
»Ist Vater noch nicht runtergekommen, Dogger?«, erkundigte ich mich.
»Die Lady Hillingdons sind in diesem Jahr besonders schön, Miss Flavia«, erwiderte er, als könnte er kein Wässerchen trüben, als hätte unsere heimliche Begegnung in der Nacht nie stattgefunden. Bitte sehr, dachte ich, das Spielchen kannst du haben.
»Allerdings«, bestätigte ich. »Und Vater?«
»Ich glaube, der hat heute Nacht unruhig geschlafen. Wahrscheinlich bleibt er ein bisschen länger liegen.«
Ein bisschen länger? Wie konnte Vater im Bett liegen bleiben, wenn es auf unserem Anwesen von Polizisten nur so wimmelte?
»Wie hat er es aufgenommen, als du ihm das mit … du weißt schon … das mit dem Garten erzählt hast?«
Dogger drehte sich um und sah mir in die Augen.
»Ich hab’s ihm nicht erzählt, Flavia.«
Mit einem raschen Knips der Gartenschere schnitt er eine nicht ganz makellose Blüte ab. Sie fiel mit leisem Plopp auf den Boden, von wo aus sie uns vielblättrig und fragend anschaute.
Wir erwiderten den Blick der geköpften Rose und überlegten
»Kann ich dich mal kurz sprechen, Flavia?«, fragte er.
»Drinnen«, setzte er noch hinzu.
4
Und mit wem hast du da draußen gesprochen?«, wollte Inspektor Hewitt wissen.
»Mit Dogger.«
»Vorname?«
»Flavia.« Ich konnte es mir nicht verkneifen.
Wir saßen auf einem der Regency-Sofas im Rosenzimmer. Der Inspektor drückte die Mine seines Kugelschreibers heraus und drehte sich zu mir herum.
»Falls es dir noch nicht klar sein sollte, Fräulein de Luce - nicht dass ich daran zweifeln würde -, sage ich dir gern noch einmal in aller Deutlichkeit, dass es sich hier um die Ermittlungen in einem Mordfall handelt. Da dulde ich keine Albernheiten. Ein Mensch ist tot, und es ist meine Aufgabe, herauszufinden, warum, wann, wie und vielleicht auch durch wessen Hand. Und wenn mir das gelungen ist, besteht meine nächste Aufgabe darin, besagten Fall der Krone klipp und klar darzulegen. Soll heißen, König Georg VI., und König Georg VI. ist kein alberner Mensch. Haben wir uns verstanden?«
»Ja, Sir. Mit Vornamen heißt er Arthur. Arthur Dogger.«
»Und er ist Gärtner hier auf Buckshaw?«
»Momentan ja.«
Der Inspektor hatte ein schwarzes Büchlein aufgeschlagen und machte sich in winzig kleiner Handschrift Notizen.
»Also nicht schon immer?«
»Dogger ist Mädchen für alles«, erläuterte ich. »Bis er es mit den Nerven gekriegt hat, war er unser Chauffeur …«
Obwohl ich in die andere Richtung schaute, spürte ich den forschenden Blick des Kriminalisten auf mir.
»Das kommt vom Krieg«, ergänzte ich. »Er war Kriegsgefangener. Vater fand … Er wollte ihm wieder …«
»Verstehe.« Inspektor Hewitts Ton war mit einem Mal deutlich milder. »Dogger fühlt sich im Garten am wohlsten.«
»Er fühlt sich im Garten am wohlsten.«
»Du bist ein ungewöhnliches Mädchen«, sagte der Inspektor. »Eigentlich würde ich mich lieber in Anwesenheit eines Elternteils mit dir unterhalten, aber da dein Vater ja leider indisponiert ist …«
Indisponiert? Ach ja! Beinahe hätte ich meine eigene Ausrede vergessen.
Trotz meines vorübergehend verwirrten Gesichtsausdrucks fuhr der Inspektor fort: »Du hast Doggers Zwischenspiel als Chauffeur erwähnt. Besitzt dein Vater immer noch ein Automobil?«
Ja, er hatte noch eins: einen alten Rolls-Royce Phantom II, der nun in der alten Remise stand. Eigentlich war es Harriets Auto gewesen. Seit die Nachricht von ihrem Tod auf Buckshaw eingetroffen war, ist es nicht mehr gefahren worden. Obwohl Vater selbst nicht fahren konnte, gestattete er niemandem, den Wagen anzurühren.
So kam es, dass die Karosserie dieses prächtigen alten Vollbluts mit der langen schwarzen Motorhaube, dem hohen vernickelten Kühlergrill mit der Figur der Pallas Athene darauf und dem ineinander verschlungenen Doppel-R längst von vorwitzigen Feldmäusen in Beschlag genommen worden war. Die Tierchen hatten sich durch die hölzernen Bodenbretter Einlass verschafft und nisteten nun im Handschuhfach aus Mahagoniholz. Trotz seines erbärmlichen Zustands hieß der Wagen bei uns immer noch manchmal »unser Royce«, wie so manche Leute von Rang und Namen diese Vehikel nennen.
»›Rolls‹ sagen nur die Bauern«, hatte Feely behauptet, als ich mich in ihrer Anwesenheit einmal versprochen hatte.
Immer wenn ich ungestört sein wollte, kletterte ich in Harriets eingestaubten, schummrigen Royce Roller und saß stundenlang in der Bruthitze auf durchgesessenen Plüschpolstern, umgeben von sprödem, angenagtem Leder.
Die unerwartete Frage des Inspektors ließ mich an einen dunklen, stürmischen Tag im letzten Herbst denken, einen Tag, an dem ein heftiger Sturm den Regen sturzbachartig auf das Haus hatte niedergehen lassen. Da es wegen womöglich abbrechender Äste zu gefährlich war, im Wald oberhalb von Buckshaw spazieren zu gehen, hatte ich mich aus dem Haus geschlichen und mich durch den Wind in die Remise gekämpft, um dort in aller Ruhe meinen Gedanken nachzuhängen. Drinnen blinkte der Phantom matt im Dämmerlicht, während der Sturm wie eine Horde mordlustiger Berghexen vor dem Fenster heulte, kreischte und klapperte. Erst als meine Hand schon auf dem Türgriff lag, bemerkte ich, dass im Wagen jemand saß. Ich wäre vor Schreck beinahe tot umgefallen. Dann erkannte ich Vater. Er saß ganz still da, die Tränen liefen ihm übers Gesicht, und er schien von dem Unwetter überhaupt nichts mitzubekommen.
Eine ganze Weile rührte ich mich nicht von der Stelle, wagte weder mich zu bewegen noch zu atmen. Aber als Vater langsam die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, ließ ich mich geräuschlos wie ein Turner in die Hocke sinken und rollte mich unter das Auto. Aus dem Augenwinkel sah ich einen blitzblank gewienerten Schaftstiefel vom Trittbrett steigen, und als Vater davonschlurfte, hörte ich, wie ihm eine Art heiseres Schluchzen entfuhr. Ich blieb noch lange dort liegen und betrachtete den Wagenboden von Harriets Rolls-Royce von unten.
»Ja«, sagte ich, »draußen in der Remise steht ein alter Phantom.«
»Aber dein Vater fährt ihn nicht.«
»Nein.«
»Aha.«
Der Inspektor legte Stift und Notizbuch so behutsam auf den Tisch, als wären sie aus Muranoglas.
»Flavia«, sagte er (mir fiel natürlich sofort auf, dass ich nicht mehr »Miss de Luce« war), »ich muss dir jetzt eine sehr wichtige Frage stellen. Deine Antwort ist von entscheidender Bedeutung, klar?«
Ich nickte.
»Ich weiß, dass du den … Vorfall gemeldet hast. Aber wer hat die Leiche gefunden?«
Ich kam gedanklich ins Schwimmen. Würde es Vater belasten, wenn ich die Wahrheit sagte? Wusste die Polizei bereits, dass ich Dogger gebeten hatte, mich zum Gurkenbeet zu begleiten? Anscheinend nicht, denn der Inspektor hatte ja eben erst von Doggers Vorhandensein erfahren, weshalb es nur folgerichtig war, dass er ihn noch nicht vernommen hatte. Was aber würde er ihnen gegebenenfalls alles erzählen? Wen von uns beiden würde er decken - Vater oder mich? Gab es eventuell eine neue Untersuchungsmethode, mittels derer man feststellen konnte, dass das Opfer noch am Leben gewesen war, als ich es gefunden hatte?
»Ich!«, platzte ich heraus. »Ich hab die Leiche gefunden.« Ich kam mir vor wie Cock Robin aus dem Zeichentrickfilm von Walt Disney.