Выбрать главу

»Sie waren vierundzwanzig, als Diana starb. Zu jung, um zu ver­stehen, was und wen Sie verloren hatten. Wundern Sie sich nicht, wenn etwas von der unterdrückten Trauer um Ihre Mutter jetzt hoch­kommt. Früher oder später bricht sie sich Bahn.«

»Diese Schlappheit hat mich beunruhigt. Ich habe befürchtet, es könnte das erste Anzeichen von Leukämie sein. Liegt in der Familie. Und macht sich da verdammt breit.«

»Wie gesagt, der Bluttest kommt nächste Woche, aber Sie haben keine weiteren Krankheitssymptome. Sie haben einen schweren Schlag erlitten, und es wird eine Weile dauern, bis Sie wieder auf dem Damm sind.«

»Aber wenn ich Leukämie habe wie Poppa?« Warren zog die Stirn in Falten, sein Tonfall wurde angespannt. »Diese Krankheit kann einen schnell umwerfen.«

»Oder Sie können Jahre damit leben.« Larrys Stimme wurde sanft. »Man soll nicht>aua< schreien, bevor es weh tut. Wissen Sie, Ge­dächtnis und Geschichte sind altersabhängig. Was Ihnen mit zwanzig von früher einfällt, ist vielleicht nicht dasselbe, an das Sie sich mit vierzig erinnern. Selbst wenn Sie sich ein ganz bestimmtes Erlebnis in Erinnerung rufen, sagen wir, Weihnachten 1968, wird sich diese Erinnerung mit der Zeit verändern und vertiefen. Erlebnisse sind etwas Emotionales. Nicht die Ereignisse müssen wir verstehen, son­dern die Emotionen, die sie hervorrufen. Es kann unter Umständen zwanzig oder dreißig Jahre dauern, um Weihnachten 1968 zu verste­hen. Sie sind jetzt imstande, das Leben Ihres Vaters als ein Ganzes zu sehen: Anfang, Mitte und Ende. Das verändert Ihre Sicht auf Wesley, und ich garantiere Ihnen, Sie werden jetzt auch sehr viel über Ihre Mutter nachdenken. Lassen Sie es einfach geschehen. Blockieren Sie es nicht. Dann wird es Ihnen bessergehen.«

»Sie wissen alles über jeden, nicht, Doc?«

»Nein« - der alte Herr lächelte - , »aber ich kenne die Menschen.«

Warren blickte zur Decke, er kämpfte mit den Tränen. »Wissen Sie, woran ich auf der Fahrt hierher gedacht habe? So was Verrücktes. Ich habe mich erinnert, wie Poppa die Zeitung durchs Zimmer ge­pfeffert hat, als Reagan und seine Behörde 1986 die Steuerreform durchgesetzt hatten. Eine Katastrophe. Poppa hat getobt und ge­flucht, und er sagte:>Das Schlafzimmer, Warren, das Schlafzimmer ist der letzte Ort, wo wir frei sein können, bis diese Scheißkerle sich ein System ausdenken, um auch noch den Orgasmus zu besteuern.<«

Larry lachte. »Wesley war einmalig.«

33

Die zierlichen, von Monticello kopierten dreiteiligen Schiebefenster gingen auf einen Garten hinaus, der im Stil des englischen Land­schaftsarchitekten Inigo Jones angelegt war. Die mit dunkelrotem Mahagoni getäfelte Bibliothek schimmerte wie von einem inneren Licht. Kimball saß an dem schwarzen, mit polierter Goldbronze ver­zierten Louis-quatorze-Schreibtisch, den Samson Coles' Ururur­großmutter mütterlicherseits angeblich im Jahre 1700, als sie in Ost­Virginia lebte, aus Frankreich hatte herüberschaffen lassen.

Die Tagebücher in eleganten, aber überaus individuellen Hand­schriften verfaßt, strapazierten die Augen des Archäologen. Wenn er sich ein paar Schritte von den Dokumenten entfernte, sahen die Schriften beinahe arabisch aus - eine Sprache, die in ihrer geschrie­benen Form von unübertroffener Schönheit ist.

Lucinda, die perfekte Gastgeberin, stellte eine Kanne heißen Tee, echten Brown Betty, auf ein Silbertablett, dazu Scones und sündhafte Marmeladen und Gelees. Sie zog sich einen Stuhl neben Kimball und las ebenfalls.

»Die Coles haben eine faszinierende Familiengeschichte. Und die Randolphs, die Familie von Jeffersons Mutter, natürlich auch. Man kann sich kaum vorstellen, wie wenig Menschen es noch Anfang des 18. Jahrhunderts gab und daß die Familien sich alle untereinander kannten. Sie haben auch untereinander geheiratet.«

»Wußten Sie, daß die Menschen im Amerika der Revolution weit­aus gebildeter waren als heute? Eine betrübliche Entwicklung. Die frühen Siedler, ich meine, die im frühen 17. Jahrhundert, waren in der Regel sehr gebildet. Diese Allgemeinbildung, ja Hochkultur, wenn Sie so wollen, zumindest was Literatur und Lebensart betraf« - er fuhr mit der Hand über den Schreibtisch, um seinen Standpunkt zu bekräftigen -, »muß den Menschen eine bemerkenswerte Stabilität gegeben haben.«

»Man konnte nach Federkiel und Tintenfaß greifen, einen Brief an eine Freundin in Charleston, South Carolina, schreiben und gewiß sein, daß alles verstanden wurde, was zwischen den Zeilen stand.« Lulu bestrich ein Scone mit Butter.

»Lulu, was war Ihr Hauptfach?«

»Englisch. In Wellesley.«

»Ah.« Kimball hielt viel von der strengen Erziehung im Wellesley- College.

»Was konnte ein Mädchen zu meiner Zeit schon studieren? Kunst­geschichte oder Englisch.«

»So weit liegt Ihre Studienzeit doch noch nicht zurück. Kommen Sie, Sie sind noch keine Vierzig.«

Sie zuckte die Achseln und grinste. Sie war keineswegs erpicht darauf, ihn zu korrigieren.

Kimball mit seinen dreißig Jahren dachte noch nicht an die Vierzi­ger. »Wir mit unserem Jugendkult! Die Menschen, die diese Tagebü­cher, Briefe und Aufzeichnungen geschrieben haben, legten Wert auf Erfahrung.«

»Die Menschen, die das hier geschrieben haben, wurden nicht täg­lich mit Fotos und Fernsehsendungen bombardiert, in denen schöne junge Frauen präsentiert werden. Und auch Männer. Die eigene Ehe­frau, hoffentlich jeweils die beste, die man finden konnte, mußte nicht unbedingt schön sein. Es schadete zwar nicht, Kimball, kei­neswegs, aber ich glaube, unseren Vorfahren lag viel mehr an einer robusten Gesundheit und einem starken Charakter. Die Vorstellung von einer Frau als Schmuckstück - die wurde uns erst durch Königin Victoria aufgezwungen.«

»Da haben Sie recht. Frauen und Männer haben als Gespann gear­beitet, und zwar in jeder gesellschaftlichen Schicht. Sie brauchten sich gegenseitig. Ich stoße bei meinen Nachforschungen immer wie­der darauf, Lulu, es war einfach eine Notwendigkeit. Ein Mann ohne Frau war zu bedauern, und eine Frau ohne Mann steckte in einer Sackgasse. Alle haben mit angepackt. Sehen Sie sich nur mal die Haushaltsbücher an, die Charlotte Graff, Samsons Urgroßmutter, geführt hat. Nägel, die damals unerhört teuer waren, wurden aufge­zählt, Stück für Stück. Hier, schauen Sie sich das Haushaltsbuch von 1693 an.«

»Samson sollte diese Sachen wirklich der Alderman-Sammlung seltener Bücher stiften. Er will sich nicht von ihnen trennen, und irgendwie kann ich es ja verstehen, aber diese Informationen sollten der Öffentlichkeit zugänglich sein, und wenn schon nicht der Öffent­lichkeit, dann wenigstens der Wissenschaft. Wesley Randolph war genauso. Ich traf Warren gestern zufällig, als er aus Larry Johnsons Praxis kam, und ich habe ihn gefragt, ob er die Sachen schon mal gelesen hat. Er sagte nein, weil sein Vater vieles davon in dem riesi­gen Tresor im Keller des Hauses aufbewahrte. Wesley wollte, daß die Papiere im Falle eines Feuers in Sicherheit waren.«

»Leuchtet ein.«

Lulu las weiter. »Immer, wenn ich Briefe an und von Jefferson- Frauen lese, werde ich ganz konfus. So viele Marthas, Janes und Marys, und diese Namen gibt es in jeder Generation.«

»Sie wußten eben nicht, daß sie mal berühmt sein würden. Sonst hätten sie die Vornamen vielleicht variiert, um es uns später leichter zu machen.«

Lulu lachte. »Glauben Sie, daß irgendwer in hundert Jahren was über uns lesen wird?«

»Für mich wird sich schon zwanzig Minuten nach meinem Tod keiner mehr interessieren - jedenfalls kein Archiv.«

»Wer weiß?« Sie griff entschlossen nach Charlotte Graffs Haus­haltsbuch und las. »Ihre Buchführung ist verständlich. Neulich habe ich Samsons Geschäftsbuch in die Hand genommen, weil es auf dem Schreibtisch lag - Samson hatte vergessen, es wegzuräumen. Ich bin nicht daraus schlau geworden. Ich denke, die Erbanlagen sind dege­neriert, zumindest auf dem Gebiet der Buchführung.« Sie stand auf und zog ein dickes schwarzes Buch mit rotem Rücken vom unteren Bord eines Bücherschranks. »Sagen Sie, wer von beiden hat es bes­ser gemacht?«