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Alle Patienten, von Masern bis Knochenkrebs, waren detailliert aufgeführt, und Charakter, Herkunft sowie die jeweilige Krankenge­schichte waren vermerkt.

Die Minors, Harrys Vorfahren väterlicherseits, waren anfällig für Nebenhöhlenentzündungen, während die mütterlichen Verwandten, die Hepworths, entweder sehr jung gestorben oder aber über siebzig und noch älter geworden waren - also ein äußerst langes Leben ge­habt hatten. Viele von Wesley Randolphs Verwandten hatten an ei­ner zehrenden Blutkrankheit gelitten, die langsam zum Tode führte. Die Hogendobbers neigten zu Herzerkrankungen und die Sanburnes zu Gicht.

Jims scharfe Beobachtungsgabe nötigte Larry abermals Bewunde­rung ab. Damals, als Larry in Jim Craigs Praxis eintrat, hatte er noch zu seinem Partner aufgeschaut, heute aber, als alter Mann, konnte er Jim auf der Grundlage seiner eigenen reichhaltigen Erfahrungen beurteilen. Jim war ein guter Arzt gewesen, und als er mit einund­sechzig Jahren starb, war dies für die Stadt wie für andere Ärzte ein großer Verlust.

Begierig schlug Larry den zweiten Band auf, der am 22. Februar 1928 begann.

51

Gefängnisse sind nicht in Designer-Farben gehalten. Und die Privat­sphäre der Insassen gilt auch nicht viel. Der arme Samson Coles hörte stinkende Männer im Delirium tremens brüllen und schreien, kleine Drogendealer ihre Unschuld beteuern und einen Kinderschän­der erklären, daß ein achtjähriges Kind ihn verführt habe. Falls Sam­son je an seinem Geisteszustand gezweifelt hatte, dieser>Urlaub< im Knast bestätigte ihm, daß er normal war - dämlich vielleicht, aber normal.

Bei den Männern in den anderen Zellen war er da nicht so sicher. Ihre Wahnvorstellungen fand er faszinierend und abstoßend zugleich.

Seine einzige Wahnvorstellung war gewesen, daß Ansley Randolph ihn liebte. Er wußte jetzt, daß dem nicht so war. Nicht ein Versuch, Verbindung mit ihm aufzunehmen; er erwartete ja gar nicht, daß sie in der Strafanstalt, wie die euphemistische Bezeichnung lautete, per­sönlich erschien. Sie hätte ihm einen Brief hineinschmuggeln können - irgendwas.

Wie die meisten Männer war Samson von Frauen ausgenutzt wor­den, vor allem in seiner Jugend. Das Gute an Lucinda war unter an­derem, daß sie ihn nicht ausnutzte. Sie hatte ihn einst geliebt. Schuldgefühle quälten ihn, wann immer er an seine Frau dachte, die Frau, die er betrogen hatte, an seinen guten Namen, den er zerstört hatte, und daran, daß er obendrein seine Maklerzulassung verlieren würde. Er hatte alles ruiniert: sein Zuhause, seine Karriere, sein An­sehen in der Gemeinde. Und wofür?

Und nun stand er unter Mordanklage. Es kam ihm kurz in den Sinn, sich mit einem Laken zu erhängen, aber dann verdrängte er den Ge­danken. Irgendwie würde er lernen müssen mit dem, was er getan hatte, zu leben. Vielleicht war er dämlich gewesen, aber er war kein Feigling.

Was Ansley betraf, so wußte er, daß sie unverzüglich zur Tages­ordnung übergehen würde. Sie liebte Warren kein bißchen, aber nie würde sie den Reichtum und das Prestige, eine Randolph zu sein, aufs Spiel setzen. Nicht daß es schäbig wäre, eine Coles zu sein, aber gegen Megamillionen kamen ein ordentliches Auskommen und ein guter Name nicht an. Sie mußte ja auch an ihre Jungen denken, für die das Leben viel vorteilhafter sein würde, wenn Ansley blieb, wo sie war.

Rückblickend konnte er sehen, daß Ansleys Ehrgeiz sich mehr auf die Jungen konzentrierte als auf sie selbst, wobei sie vernünftig ge­nug war, es mit ihnen nicht zu übertreiben. Aber wenn sie den Ran­dolph-Clan schon ertragen mußte, dann wollte sie in Gottes Namen erfolgreiche und liebevolle Söhne haben. Blut, Geld und Macht - was für eine Kombination.

Samson schwang seine Beine über die Seite seiner Pritsche. Er würde hier total verfetten, wenn er sich nicht mit Beingymnastik und Liegestützen Bewegung verschaffte. Ein Gutes hatte der Aufenthalt im Knast, es gab keine Saufgelage. Manchmal hätte er gerne ge­weint, aber er wußte nicht, wie. Um so besser. Schwächlinge werden im Bunker bloß fertiggemacht.

Wie lange er so saß und die Beine baumeln ließ, nur um das Blut zirkulieren zu fühlen, wußte er nicht. Er zog die Beine mit einem Ruck hoch, als ihm klar wurde, daß sein Name genau zu ihm paßte.

52

Die Knospen an den Bäumen schwollen, und ihre Farbe wechselte von Dunkelrot zu Hellgrün. Der Frühling war im Triumph einmar­schiert.

Jedes Jahr, wenn der erste grüne Hauch die Weiden und Berge überzog, bekam Harry einen Putzanfall. Bäche und Flüsse traten infolge der Schnee- und Eisschmelze fast über die Ufer, und der Ge­ruch von Erde war wieder in der Luft.

Ganze Berge von ungelesenen Zeitungen und Illustrierten wurden auf der hinteren Veranda gestapelt. Harry hatte der Einsicht nachge­geben, daß sie sie nie lesen würde, also weg damit. Neben den Zeit­schriften lagen sauber zusammengelegte Kleider. Harry war es ziem­lich egal, wie sie herumlief, aber sie trennte sich am Ende von den Sachen, die zu oft geflickt und nochmals geflickt waren.

Sie beschloß außerdem, den Beistelltisch, der nur noch drei Beine hatte, wegzuwerfen. Sie wollte in einem dieser Läden, wo man Mö­bel im Rohzustand bekam, einen neuen Beistelltisch kaufen und ihn anstreichen. Als sie das Tischchen hinaustrug, stieß sie sich die Zehe an dem alten schmiedeeisernen Türstopper. Es war das Bügeleisen ihrer Großmutter, das damals auf dem Herd erhitzt wurde.

»Verdammter Mist!«

»Wenn du gucken würdest, wo du hintrittst, würdest du nicht über Sachen stolpern.« Tucker hörte sich an wie eine Lehrerin.

Harry rieb sich die Zehe, zog ihren Schuh aus und rieb noch ein bißchen. Dann hob sie das anstößige Eisen auf, um es nach draußen zu schleudern. »Ich hab's!« rief sie Mrs. Murphy und Tucker fröh­lich zu. »Die Mordwaffe. Medley Orion war Näherin!«

53

Harry hielt das Bügeleisen in die Höhe und demonstrierte vor Mim Sanburne, Fair, Larry Johnson, Susan and Deputy Cooper, wie der Hieb ausgeführt worden sein könnte.

Larry untersuchte das Eisen. »Das könnte tatsächlich die dreieckige Einbuchtung verursacht haben.«

Mrs. Murphy und Pewter saßen dicht beieinander auf dem Küchen­tisch. Mrs. Murphy hätte zwar lieber Fellhaare gelassen, als es zu­zugeben - aber sie war gern in Katzengesellschaft. Das galt auch für Pewter, die allerdings in erster Linie auf dem Küchentisch lagerte, weil dort das Essen hingestellt wurde.

Tucker umrundete den Tisch.»War schlau von Mom, Big Marilyn Bescheid zu sagen.«

»Mim ist Vorsteherin des Restaurationsprojektes.« Mrs. Murphy sah auf ihre kleine Freundin hinunter.»Dann kann Mim es Oliver Zeve sagen, und Coop kann es Sheriff Shaw sagen. Ist 'ne erstklassi­ge Theorie.«

»Ich glaube, Sie haben die Lösung.« Larry reichte das Eisen an Mim weiter, die das Gewicht des Gerätes fühlte.

»Ein kräftiger Hieb geradeaus oder leicht nach oben. Die Leute ha­ben damals so viel körperliche Arbeit geleistet, da war Medley be­stimmt kräftig genug, jemandem einen tödlichen Schlag zu verset­zen. Wir wissen, daß sie jung war.« Mim reichte Miranda das Eisen.

»Die Form dieses Eisens war geeignet zum Bügeln von Spitzen und all dem verspielten Firlefanz, den man damals trug.«

»Darf ich mir das Eisen borgen, um es Rick zu zeigen? Wenn er es nicht mit eigenen Augen sieht, ist er skeptisch.« Cynthia Cooper streckte die Hände nach dem Eisen aus.

»Sicher.«

»Wie wir hören, leugnet Samson kategorisch, Kimball getötet zu haben, obwohl doch die Waffe in seinem Wagen war.« Es ärgerte Mim, daß Sheriff Shaw ihr nicht alles erzählte. Mim wollte immer über alle und alles Bescheid wissen, genau wie Miranda, wenn auch aus anderen Gründen.