Gegen die Definitionen der moralischen Ziele. — Man hört allerwärts jetzt das Ziel der Moral ungefähr so bestimmt: es sei die Erhaltung und Förderung der Menschheit; aber das heisst eine Formel haben wollen und weiter Nichts. Erhaltung, worin? muss man sofort dagegen fragen, Förderung wohin? Ist nicht gerade das Wesentliche, die Antwort auf dieses Worin? und Wohin? in der Formel ausgelassen? Was lässt sich also mit ihr für die Pflichtenlehre festsetzen, was nicht Schon, stillschweigend und gedankenlos, jetzt als festgesetzt gilt! Kann man aus ihr genügend absehen, ob man eine möglichst lange Existenz der Menschheit in's Auge zu fassen habe? Oder die möglichste Entthierung der Menschheit? Wie verschieden würden in beiden Fällen die Mittel, das heisst die praktische Moral, sein müssen! Gesetzt, man wollte der Menschheit die höchste ihr mögliche Vernünftigkeit geben: diess hiesse gewiss nicht ihr die höchste ihr mögliche Dauer verbürgen! Oder gesetzt, man dächte an ihr» höchstes Glück «als das Wohin und Worin: meint man dann den höchsten Grad, den allmählich einzelne Menschen erreichen könnten? Oder eine, übrigens gar nicht zu berechnende letztens erreichbare Durchschnitts-Glückseligkeit Aller? Und warum wäre die Moralität gerade der Weg dahin? Ist nicht durch sie, im Grossen gesehen, eine solche Fülle von Unlust-Quellen aufgethan worden, dass man eher urtheilen könnte, mit jeder Verfeinerung der Sittlichkeit sei der Mensch bisher mit sich, mit seinem Nächsten und mit seinem Loose des Daseins unzufriedener geworden? Ist nicht der bisher moralischste Mensch des Glaubens gewesen, der einzig berechtigte Zustand des Menschen im Angesichte der Moral sei die tiefste Unseligkeit?
Unser Anrecht auf unsere Thorheit. — Wie soll man handeln? Wozu soll man handeln? — Bei den nächsten und gröbsten Bedürfnissen des Einzelnen beantworten sich diese Fragen leicht genug, aber in je feinere, umfänglichere und wichtigere Gebiete des Handelns man aufsteigt, um so unsicherer, folglich um so willkürlicher wird die Beantwortung sein. Nun aber soll hier gerade die Willkürlichkeit der Entscheidungen ausgeschlossen sein! — so heischt es die Autorität der Moraclass="underline" eine unklare Angst und Ehrfurcht soll den Menschen unverzüglich gerade bei jenen Handlungen leiten, deren Zwecke und Mittel ihm am wenigsten so fort deutlich sind! Diese Autorität der Moral unterbindet das Denken, bei Dingen, wo es gefährlich sein könnte, falsch zu denken — : dergestalt pflegt sie sich vor ihren Anklägern zu rechtfertigen. Falsch: das heisst hier» gefährlich«, — aber gefährlich für wen? Gewöhnlich ist es eigentlich nicht die Gefahr des Handelnden, welche die Inhaber der autoritativen Moral im Auge haben, sondern ihre Gefahr, ihre mögliche Einbusse an Macht und Geltung, sobald das Recht, willkürlich und thöricht, nach eigener, kleiner oder grosser Vernunft zu handeln, Allen zugestanden wird: für sich selber nämlich machen sie unbedenklich Gebrauch von dem Rechte der Willkürlichkeit und Thorheit, — sie befehlen, auch wo die Fragen» wie soll ich handeln? wozu soll ich handeln?«kaum oder schwierig genug zu beantworten sind. — Und wenn die Vernunft der Menschheit so ausserordentlich langsam wächst, dass man dieses Wachsthum für den ganzen Gang der Menschheit oft geleugnet hat: was trägt mehr die Schuld daran, als diese feierliche Anwesenheit, ja Allgegenwart moralischer Befehle, welche der individuellen Frage nach dem Wozu? und dem Wie? gar nicht gestattet, laut zu werden? Sind wir nicht daraufhin erzogen, gerade dann pathetisch zu fühlen und uns in's Dunkle zu flüchten, wenn der Verstand so klar und kalt wie möglich blicken sollte! Nämlich bei allen höheren und wichtigeren Angelegenheiten.
Einige Thesen. — Dem Individuum, sofern es sein Glück will, soll man keine Vorschriften über den Weg zum Glück geben: denn das individuelle Glück quillt aus eigenen, Jedermann unbekannten Gesetzen, es kann mit Vorschriften von Aussen her nur verhindert, gehemmt werden. — Die Vorschriften, welche man» moralisch «nennt, sind in Wahrheit gegen die Individuen gerichtet und wollen durchaus nicht deren Glück. Ebenso wenig beziehen sich diese Vorschriften auf das» Glück und die Wohlfahrt der Menschheit,«— mit welchen Worten strenge Begriffe zu verbinden überhaupt nicht möglich ist, geschweige dass man sie als Leitsterne auf dem dunklen Ozean moralischer Bestrebungen gebrauchen könnte. — Es ist nicht wahr, dass die Moralität, wie das Vorurtheil will, der Entwickelung der Vernunft günstiger sei als die Unmoralität. — Es ist nicht wahr, dass das unbewusste Ziel in der Entwickelung jedes bewussten Wesens (Thier, Mensch, Menschheit u. s. w.) sein» höchstes Glück «sei: vielmehr giebt es auf allen Stufen der Entwickelung ein besonderes und unvergleichbares, weder höheres noch niederes, sondern eben eigenthümliches Glück zu erlangen. Entwickelung will nicht Glück, sondern Entwickelung und weiter Nichts. — Nur wenn die Menschheit ein allgemein anerkanntes Ziel hätte, könnte man vorschlagen» so und so soll gehandelt werden«: einstweilen giebt es kein solches Ziel. Also soll man die Forderungen der Moral nicht in Beziehung zur Menschheit setzen, es ist diess Unvernunft und Spielerei. — Der Menschheit ein Ziel anempfehlen ist etwas ganz Anderes: dann ist das Ziel als Etwas gedacht, das in unserem Belieben ist; gesetzt, es beliebte der Menschheit so wie vorgeschlagen wird, so könnte sie sich daraufhin auch ein Moralgesetz geben, ebenfalls aus ihrem Belieben heraus. Aber bisher sollte das Moralgesetz über dem Belieben stehen: man wollte diess Gesetz sich nicht eigentlich geben, sondern es irgendwoher nehmen oder irgendwo es auffinden oder irgendwoher es sich befehlen lassen.
Selbst-Beherrschung und Mässigung und ihr letztes Motiv. — Ich finde nicht mehr als sechs wesentlich verschiedene Methoden, um die Heftigkeit eines Triebes zu bekämpfen. Einmal kann man den Anlässen zur Befriedigung des Triebes ausweichen und durch lange und immer längere Zeitstrecken der Nichtbefriedigung ihn schwächen und abdorren machen. Sodann kann man eine strenge regelmässige Ordnung in seiner Befriedigung sich zum Gesetz machen; indem man in ihn selber auf diese Weise eine Regel bringt und seine Fluth und Ebbe in feste Zeitgränzen einschliesst, hat man Zwischenzeiten gewonnen, wo er nicht mehr stört, — und von da aus kann man vielleicht zur ersten Methode übergehen. Drittens kann man sich absichtlich einer wilden und unbändigen Befriedigung eines Triebes überlassen, um den Ekel davon einzuernten und mit dem Ekel eine Macht über den Trieb zu erlangen: vorausgesetzt, dass man es nicht dem Reiter gleich thut, der sein Pferd zu Tode hetzt und selber dabei den Hals bricht, — was leider die Regel bei diesem Versuche ist. Viertens giebt es einen intellectuellen Kunstgriff, nämlich mit der Befriedigung überhaupt irgend einen sehr peinlichen Gedanken so fest zu verbinden, dass, nach einiger Übung, der Gedanke der Befriedigung immer sogleich selber als sehr peinlich empfunden wird (zum Beispiel wenn der Christ sich gewöhnt, an die Nähe und den Hohn des Teufels beim Geschlechtsgenusse, oder an ewige Höllenstrafen für einen Mord aus Rache, oder auch nur an die Verächtlichkeit zu denken, welche zum Beispiel einem Geld-Diebstahl im Auge der von ihm verehrtesten Menschen folgt, oder wenn Mancher schon zu hundert Malen einem heftigen Verlangen nach dem Selbstmord die Vorstellung des Jammers und der Selbstvorwürfe von Verwandten und Freunden entgegengestellt und damit sich auf der Schwebe des Lebens erhalten hat: — jetzt folgen diese Vorstellungen in ihm auf einander, wie Ursache und Wirkung). Hierhin gehört es auch, wenn der Stolz des Menschen, wie zum Beispiel bei Lord Byron und Napoleon, sich aufbäumt, und das Übergewicht eines einzelnen Affectes über die gesammte Haltung und die Ordnung der Vernunft als Beleidigung empfindet: woraus dann die Gewohnheit und die Lust entsteht, den Trieb zu tyrannisiren und ihn gleichsam knirschen zu machen. (»Ich will nicht der Sclave irgend eines Appetites sein«— schrieb Byron in sein Tagebuch.) Fünftens: man nimmt eine Dislocation seiner Kraftmengen vor, indem man sich irgend eine besonders schwere und anstrengende Arbeit auferlegt oder sich absichtlich einem neuen Reize und Vergnügen unterwirft und dergestalt Gedanken und physisches Kräftespiel in andere Bahnen lenkt. Eben darauf läuft es auch hinaus, wenn man einen anderen Trieb zeitweilig begünstigt, ihm reiche Gelegenheit der Befriedigung giebt und ihn so zum Verschwender jener Kraft macht, über welche sonst der durch seine Heftigkeit lästig gewordene Trieb gebieten würde. Dieser oder Jener versteht es wohl auch, den einzelnen Trieb, der den Gewaltherrn spielen möchte, dadurch im Zaume zu halten, dass er allen seinen ihm bekannten anderen Trieben eine zeitweilige Aufmunterung und Festzeit giebt und sie das Futter aufzehren heisst, welches der Tyrann für sich allein haben will. Endlich sechstens: wer es aushält und vernünftig findet, seine gesammte leibliche und seelische Organisation zu schwächen und niederzudrücken, der erreicht natürlich das Ziel der Schwächung eines einzelnen heftigen Triebes ebenfalls damit: wie zum Beispiel Der thut, welcher seine Sinnlichkeit aushungert und dabei freilich auch seine Rüstigkeit und nicht selten seinen Verstand mit aushungert und zu Schanden macht, gleich dem Asketen. — Also: den Anlässen ausweichen, Regel in den Trieb hineinpflanzen, Übersättigung und Ekel an ihm erzeugen, und die Association eines quälenden Gedankens (wie den der Schande, der bösen Folgen oder des beleidigten Stolzes) zu Stande bringen, sodann die Dislocation der Kräfte und endlich die allgemeine Schwächung und Erschöpfung, — das sind die sechs Methoden: dass man aber überhaupt die Heftigkeit eines Triebes bekämpfen will, steht nicht in unserer Macht, ebenso wenig, auf welche Methode man verfällt, ebenso wenig, ob man mit dieser Methode Erfolg hat. Vielmehr ist unser Intellect bei diesem ganzen Vorgange ersichtlich nur das blinde Werkzeug eines anderen Triebes, welcher ein Rival dessen ist, der uns durch seine Heftigkeit quält: sei es der Trieb nach Ruhe oder die Furcht vor Schande und anderen bösen Folgen oder die Liebe. Während» wir «uns also über die Heftigkeit eines Triebes zu beklagen meinen, ist es im Grunde ein Trieb, weicher über einen anderen klagt; das heisst: die Wahrnehmung des Leidens an einer solchen Heftigkeit setzt voraus, dass es einen ebenso heftigen oder noch heftigeren anderen Trieb giebt, und dass ein Kampf bevorsteht, in welchem unser Intellect Partei nehmen muss.