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114.

Von der Erkenntniss des Leidenden. — Der Zustand kranker Menschen, die lange und furchtbar von ihren Leiden gemartert werden und deren Verstand trotzdem dabei sich nicht trübt, ist nicht ohne Werth für die Erkenntniss, — noch ganz abgesehen von den intellectuellen Wohlthaten, welche jede tiefe Einsamkeit, jede plötzliche und erlaubte Freiheit von allen Pflichten und Gewohnheiten mit sich bringen. Der Schwerleidende sieht aus seinem Zustande mit einer entsetzlichen Kälte hinaus auf die Dinge: alle jene kleinen lügnerischen Zaubereien, in denen für gewöhnlich die Dinge schwimmen, wenn das Auge des Gesunden auf sie blickt, sind ihm verschwunden: ja, er selber liegt vor sich da ohne Flaum und Farbe. Gesetzt, dass er bisher in irgend einer gefährlichen Phantasterei lebte: diese höchste Ernüchterung durch Schmerzen ist das Mittel, ihn herauszureissen: und vielleicht das einzige Mittel. (Es ist möglich, dass diess dem Stifter des Christenthums am Kreuze begegnete: denn die bittersten aller Worte» mein Gott, warum hast du mich verlassen!«enthalten, in aller Tiefe verstanden, wie sie verstanden werden dürfen, das Zeugniss einer allgemeinen Enttäuschung und Aufklärung über den Wahn seines Lebens; er wurde in dem Augenblicke der höchsten Qual hellsichtig über sich selber, so wie der Dichter es von dem armen sterbenden Don Quixote erzählt.) Die ungeheure Spannung des Intellectes, welcher dem Schmerz Widerpart halten will, macht, dass Alles, worauf er nun blickt, in einem neuen Lichte leuchtet: und der unsägliche Reiz, den alle neuen Beleuchtungen geben, ist oft mächtig genug, um allen Anlockungen zum Selbstmorde Trotz zu bieten und das Fortleben dem Leidenden als höchst begehrenswerth erscheinen zu lassen. Mit Verachtung gedenkt er der gemüthlichen warmen Nebelwelt, in der der Gesunde ohne Bedenken wandelt; mit Verachtung gedenkt er der edelsten und geliebtesten Illusionen, in denen er früher mit sich selber spielte; er hat einen Genuss daran, diese Verachtung wie aus der tiefsten Hölle heraufzubeschwören und der Seele so das bitterste Leid zu machen: durch dieses Gegengewicht hält er eben dem physischen Schmerze Stand, — er fühlt es, dass gerade diess Gegengewicht jetzt noththut! In einer schauerlichen Hellsichtigkeit über sein Wesen ruft er sich zu:»sei einmal dein eigener Ankläger und Henker, nimm einmal dein Leiden als die von dir über dich verhängte Strafe! Geniesse deine Überlegenheit als Richter; mehr noch: geniesse dein Belieben, deine tyrannische Willkür! Erhebe dich über dein Leben wie über dein Leiden, sieh hinab in die Gründe und die Grundlosigkeit!«Unser Stolz bäumt sich auf, wie noch nie: es hat für ihn einen Reiz ohne Gleichen, gegen einen solchen Tyrannen wie der Schmerz ist, und gegen alle die Einflüsterungen, die er uns macht, damit wir gegen das Leben Zeugniss ablegen, — gerade das Leben gegen den Tyrannen zu vertreten. In diesem Zustande wehrt man sich mit Erbitterung gegen jeden Pessimismus, damit er nicht als Folge unseres Zustandes erscheine und uns als Besiegte demüthige. Nie ist ebenfalls der Reiz, Gerechtigkeit des Urtheils zu üben, grösser, als jetzt, denn jetzt ist es ein Triumph über uns und den reizbarsten aller Zustände, der jede Ungerechtigkeit des Urtheils entschuldbar machen würde; — aber wir wollen nicht entschuldigt sein, gerade jetzt wollen wir zeigen, dass wir» ohne Schuld «sein können. Wir befinden uns in förmlichen Krämpfen des Hochmuths. — Und nun kommt der erste Dämmerschein der Milderung, der Genesung — und fast die erste Wirkung ist, dass wir uns gegen die Übermacht unseres Hochmuthes wehren: wir nennen uns darin albern und eitel, — als ob wir Etwas erlebt hätten, das einzig wäre! Wir demüthigen ohne Dankbarkeit den allmächtigen Stolz, durch den wir eben den Schmerz ertrugen und verlangen heftig nach einem Gegengift des Stolzes: wir wollen uns entfremdet und entpersönlicht werden, nachdem der Schmerz uns zu gewaltsam und zu lange persönlich gemacht hatte.»Weg, weg mit diesem Stolze! rufen wir, er war eine Krankheit und ein Krampf mehr!«Wir sehen wieder hin auf Menschen und Natur — mit einem verlangenderen Auge: wir erinnern uns wehmüthig lächelnd, dass wir Einiges in Bezug auf sie jetzt neu und anders wissen, als vorher, dass ein Schleier gefallen ist, — aber es erquickt uns so, wieder die gedämpften Lichter des Lebens zu sehen und aus der furchtbaren nüchternen Helle herauszutreten, in welcher wir als Leidende die Dinge und durch die Dinge hindurch sahen. Wir zürnen nicht, wenn die Zaubereien der Gesundheit wieder zu spielen beginnen, — wir sehen wie umgewandelt zu, milde und immer noch müde. In diesem Zustande kann man nicht Musik hören, ohne zu weinen. —

115.

Das sogenannte» Ich«. — Die Sprache und die Vorurtheile, auf denen die Sprache aufgebaut ist, sind uns vielfach in der Ergründung innerer Vorgänge und Triebe hinderlich: zum Beispiel dadurch, dass eigentlich Worte allein für superlativische Grade dieser Vorgänge und Triebe da sind — ; nun aber sind wir gewohnt, dort, wo uns Worte fehlen, nicht mehr genau zu beobachten, weil es peinlich ist, dort noch genau zu denken; ja, ehedem schloss man unwillkürlich, wo das Reich der Worte aufhöre, höre auch das Reich des Daseins auf. Zorn, Hass, Liebe, Mitleid, Begehren, Erkennen, Freude, Schmerz, — das sind Alles Namen für extreme Zustände: die milderen mittleren und gar die immerwährend spielenden niederen Grade entgehen uns, und doch weben sie gerade das Gespinnst unseres Charakters und Schicksals. Jene extremen Ausbrüche — und selbst das mässigste uns bewusste Wohlgefallen oder Missfallen beim Essen einer Speise, beim Hören eines Tones ist vielleicht immer noch, richtig abgeschätzt, ein extremer Ausbruch — zerreissen sehr oft das Gespinnst und sind dann gewaltthätige Ausnahmen, zumeist wohl in Folge von Aufstauungen: — und wie vermögen sie als solche den Beobachter irre zu führen! Nicht weniger, als sie den handelnden Menschen in die Irre führen. Wir sind Alle nicht Das, als was wir nach den Zuständen erscheinen, für die wir allein Bewusstsein und Worte — und folglich Lob und Tadel — haben; wir verkennen uns nach diesen gröberen Ausbrüchen, die uns allein bekannt werden, wir machen einen Schluss aus einem Material, in welchem die Ausnahmen die Regel überwiegen, wir verlesen uns in dieser scheinbar deutlichsten Buchstabenschrift unseres Selbst. Unsere Meinung über uns aber, die wir auf diesem falschen Wege gefunden haben, das sogenannte» Ich«, arbeitet fürderhin mit an unserem Charakter und Schicksal. —

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Die unbekannte Welt des» Subjects«. — Das, was den Menschen so schwer zu begreifen fällt, ist ihre Unwissenheit über sich selber, von den ältesten Zeiten bis jetzt! Nicht nur in Bezug auf gut und böse, sondern in Bezug auf viel Wesentlicheres! Noch immer lebt der uralte Wahn, dass man wisse, ganz genau wisse, wie das menschliche Handeln zu Stande komme, in jedem Falle. Nicht nur» Gott, der in's Herz sieht«., nicht nur der Thäter, der seine That überlegt, — nein, auch jeder Andere zweifelt nicht, das Wesentliche im Vorgange der Handlung jedes Andern zu verstehen.»Ich weiss, was ich will, was ich gethan habe, ich bin frei und verantwortlich dafür, ich mache den Andern verantwortlich, ich kann alle sittlichen Möglichkeiten und alle inneren Bewegungen, die es vor einer Handlung giebt, beim Namen nennen; ihr mögt handeln, wie ihr wollt, — ich verstehe darin mich und euch Alle!«— so dachte ehemals Jeder, so denkt fast noch Jeder. Sokrates und Plato, in diesem Stücke grosse Zweifler und bewunderungswürdige Neuerer, waren doch harmlos gläubig in Betreff jenes verhängnissvollsten Vorurtheils, jenes tiefsten Irrthums, dass» der richtigen Erkenntniss die richtige Handlung folgen müsse«, — sie waren in diesem Grundsatze immer noch die Erben des allgemeinen Wahnsinns und Dünkels: dass es ein Wissen um das Wesen einer Handlung gebe.»Es wäre ja schrecklich, wenn der Einsicht in das Wesen der rechten That nicht die rechte That folgte«, — diess ist die einzige Art, wie jene Grossen diesen Gedanken zu beweisen für nöthig hielten, das Gegentheil schien ihnen undenkbar und toll — und doch ist diess Gegentheil gerade die nackte, seit Ewigkeiten täglich und stündlich bewiesene Wirklichkeit! Ist es nicht gerade die» schreckliche «Wahrheit: dass, was man von einer That überhaupt wissen kann, niemals ausreicht, sie zu thun, dass die Brücke von der Erkenntniss zur That in keinem einzigen Falle bisher geschlagen worden ist? Die Handlungen sind niemals Das, als was sie uns erscheinen! Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen, dass die äusseren Dinge nicht so sind, wie sie uns erscheinen, — nun wohlan! mit der inneren Welt steht es ebenso! Die moralischen Handlungen sind in Wahrheit» etwas Anderes«, — mehr können wir nicht sagen: und alle Handlungen sind wesentlich unbekannt. Das Gegentheil war und ist der allgemeine Glaube: wir haben den ältesten Realismus gegen uns; bis jetzt dachte die Menschheit:»eine Handlung ist Das, als was sie uns erscheint.«(Beim Wiederlesen dieser Worte kommt mir eine sehr ausdrückliche Stelle Schopenhauer's in's Gedächtniss, welche ich anführen will, zum Beweise, dass auch er noch, und zwar ohne jeden Scrupel, in diesem moralischen Realismus hängt und hängen geblieben ist:»Wirklich ist Jeder von uns ein competenter und vollkommen moralischer Richter, Gutes und Böses genau kennend, heilig, indem er das Gute liebt und das Böse verabscheut, — diess Alles ist Jeder, insofern nicht seine eigenen, sondern fremde Handlungen untersucht werden und er blos zu billigen und zu missbilligen hat, die Last der Ausführung aber von fremden Schultern getragen wird. Jeder kann demnach als Beichtiger ganz und gar die Stelle Gottes vertreten.«)

117.

Im Gefängniss. — Mein Auge, wie stark oder schwach es nun ist, sieht nur ein Stück weit, und in diesem Stück webe und lebe ich, diese Horizont-Linie ist mein nächstes grosses und kleines Verhängniss, dem ich nicht entlaufen kann. Um jedes Wesen legt sich derart ein concentrischer Kreis, der einen Mittelpunct hat und der ihm eigenthümlich ist. Ähnlich schliesst uns das Ohr in einen kleinen Raum ein, ähnlich das Getast. Nach diesen Horizonten, in welche, wie in Gefängnissmauern, Jeden von uns unsere Sinne einschliessen, messen wir nun die Welt, wir nennen Dieses nah und Jenes fern, Dieses gross und Jenes klein, Dieses hart und Jenes weich: diess Messen nennen wir Empfinden, — es sind Alles, Alles Irrthümer an sich! Nach der Menge von Erlebnissen und Erregungen, die uns durchschnittlich in einem Zeitpuncte möglich sind, misst man sein Leben, als kurz oder lang, arm oder reich, voll oder leer: und nach dem durchschnittlichen menschlichen Leben misst man das aller anderen Geschöpfe, — es sind Alles, Alles Irrthümer an sich! Hätten wir hundertfach schärfere Augen für die Nähe, so würde uns der Mensch ungeheuer lang erscheinen; ja, es sind Organe denkbar, vermöge deren er als unermesslich empfunden würde. Andererseits könnten Organe so beschaffen sein, dass ganze Sonnensysteme verengt und zusammengeschnürt gleich einer einzigen Zelle empfunden werden: und vor Wesen entgegengesetzter Ordnung könnte Eine Zelle des menschlichen Leibes sich als ein Sonnensystem in Bewegung, Bau und Harmonie darstellen. Die Gewohnheiten unserer Sinne haben uns in Lug und Trug der Empfindung eingesponnen: diese wieder sind die Grundlagen aller unserer Urtheile und» Erkenntnisse«, — es giebt durchaus kein Entrinnen, keine Schlupf- und Schleichwege in die wirkliche Welt! Wir sind in unserem Netze, wir Spinnen, und was wir auch darin fangen, wir können gar Nichts fangen, als was sich eben in unsere in Netze fangen lässt.