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126.

Vergessen. — Dass es ein Vergessen giebt, ist noch nicht bewiesen; was wir wissen, ist allein, dass die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht. Vorläufig haben wir in diese Lücke unserer Macht jenes Wort» Vergessen «gesetzt: gleich als ob es ein Vermögen mehr im Register sei. Aber was steht zuletzt in unserer Macht! — Wenn jenes Wort in einer Lücke unserer Macht steht, sollten nicht die anderen Worte in einer Lücke unseres Wissens um unsere Macht stehen?

127.

Nach Zwecken. — Von allen Handlungen werden wohl am wenigsten die nach Zwecken verstanden, weil sie immer als die verständlichsten gegolten haben und für unser Bewusstsein das Alltäglichste sind. Die grossen Probleme liegen auf der Gasse.

128.

Der Traum und die Verantwortlichkeit. — In Allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur nicht für eure Träume! Welche elende Schwächlichkeit, welcher Mangel an folgerichtigem Muthe! Nichts ist mehr euer Eigen, als eure Träume! Nichts mehr euer Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer, — in diesen Komödien seid ihr Alles ihr selber! Und hier gerade scheut und schämt ihr euch vor euch, und schon Oedipus, der weise Oedipus wusste sich Trost aus dem Gedanken zu schöpfen, dass wir Nichts für Das können, was wir träumen! Ich schliesse daraus: dass die grosse Mehrzahl der Menschen sich abscheulicher Träume bewusst sein muss. Wäre es anders: wie sehr würde man seine nächtliche Dichterei für den Hochmuth des Menschen ausgebeutet haben! — Muss ich hinzufügen, dass der weise Oedipus Recht hatte, dass wir wirklich nicht für unsere Träume, — aber ebenso wenig für unser Wachen verantwortlich sind, und dass die Lehre von der Freiheit des Willens im Stolz und Machtgefühl des Menschen ihren Vater und ihre Mutter hat? Ich sage diess vielleicht zu oft: aber wenigstens wird es dadurch noch nicht zum Irrthum.

129.

Der angebliche Kampf der Motive. — Man redet vom» Kampf der Motive«, aber bezeichnet damit einen Kampf, der nicht der Kampf der Motive ist. Nämlich: in unserm überlegenden Bewusstsein treten vor einer That der Reihe nach die Folgen verschiedener Thaten hervor, welche alle wir meinen thun zu können, und wir vergleichen diese Folgen. Wir meinen, zu einer That entschieden zu sein, wenn wir festgestellt haben, dass ihre Folgen die überwiegend günstigeren sein werden; ehe es zu diesem Abschluss unserer Erwägung kommt, quälen wir uns oft redlich, wegen der grossen Schwierigkeit, die Folgen zu errathen, sie in ihrer ganzen Stärke zu sehen und zwar alle, ohne Fehler der Auslassung zu machen: wobei die Rechnung überdiess noch mit dem Zufalle dividirt werden muss. Ja, um das Schwierigste zu nennen: alle die Folgen, die einzeln so schwer festzustellen sind, müssen nun mit einander auf Einer Wage gegen einander abgewogen werden; und so häufig fehlt uns für diese Casuistik des Vortheils die Wage nebst den Gewichten, wegen der Verschiedenheit in der Qualität aller dieser möglichen Folgen. Gesetzt aber, auch damit kämen wir in's Reine, und der Zufall hätte uns gegenseitig abwägbare Folgen auf die Wage gelegt: so haben wir jetzt in der That im Bilde der Folgen Einer bestimmten Handlung ein Motiv, gerade diese Handlung zu thun, — ja! Ein Motiv! Aber im Augenblicke, da wir schliesslich handeln, werden wir häufig genug von einer anderen Gattung Motiven bestimmt, als es die hier besprochene Gattung, die des» Bildes der Folgen«, ist. Da wirkt die Gewohnheit unseres Kräftespiels, oder ein kleiner Anstoss von einer Person, die wir fürchten oder ehren oder lieben, oder die Bequemlichkeit, welche vorzieht, was vor der Hand liegt zu thun, oder die Erregung der Phantasie, durch das nächste beste kleinste Ereigniss im entscheidenden Augenblick herbeigeführt, es wirkt Körperliches, das ganz unberechenbar auftritt, es wirkt die Laune, es wirkt der Sprung irgend eines Affectes, der gerade zufällig bereit ist, zu springen: kurz, es wirken Motive, die wir zum Theil gar nicht, zum Theil sehr schlecht kennen und die wir nie vorher gegen einander in Rechnung setzen können. Wahrscheinlich, dass auch unter ihnen ein Kampf Statt findet, ein Hin- und Wegtreiben, ein Aufwiegen und Niederdrücken von Gewichttheilen — und diess wäre der eigentliche» Kampf der Motive«: — etwas für uns völlig Unsichtbares und Unbewusstes. Ich habe die Folgen und Erfolge berechnet und damit Ein sehr wesentliches Motiv in die Schlachtreihe der Motive eingestellt, — aber diese Schlachtreihe selber stelle ich ebensowenig auf, als ich sie sehe: der Kampf selber ist mir verborgen, und der Sieg als Sieg ebenfalls; denn wohl erfahre ich, was ich schliesslich thue, — aber welches Motiv damit eigentlich gesiegt hat, erfahre ich nicht. Wohl aber sind wir gewohnt, alle diese unbewussten Vorgänge nicht in Anschlag zu bringen und uns die Vorbereitung einer That nur so weit zu denken, als sie bewusst ist: und so verwechseln wir den Kampf der Motive mit der Vergleichung der möglichen Folgen verschiedener Handlungen, — eine der folgenreichsten und für die Entwickelung der Moral verhännissvollsten Verwechselungen!

130.

Zwecke? Willen? — Wir haben uns gewöhnt an zwei Reiche zu glauben, an das Reich der Zwecke und des Willens und an das Reich der Zufälle; in letzterem geht es sinnlos zu, es geht, steht und fällt darin, ohne dass Jemand sagen könnte wesshalb? wozu? — Wir fürchten uns vor diesem mächtigen Reiche der grossen kosmischen Dummheit, denn wir lernen es meistens so kennen, dass es in die andere Welt, in die der Zwecke und Absichten, hineinfällt wie ein Ziegelstein vom Dache, und uns irgend einen schönen Zweck todtschlägt. Dieser Glaube an die zwei Reiche ist eine uralte Romantik und Fabeclass="underline" wir klugen Zwerge, mit unserem Willen und unseren Zwecken, werden durch die dummen, erzdummen Riesen, die Zufälle, belästigt, über den Haufen gerannt, oft todt getreten, — aber trotz alledem möchten wir nicht ohne die schauerliche Poesie dieser Nachbarschaft sein, denn jene Unthiere kommen oft, wenn uns das Leben im Spinnennetze der Zwecke zu langweilig oder zu ängstlich geworden ist und geben eine erhabene Diversion, dadurch dass ihre Hand einmal das ganze Netz zerreisst, — nicht dass sie es gewollt hätten, diese Unvernünftigen! Nicht dass sie es nur merkten! Aber ihre groben Knochenhände greifen durch unser Netz hindurch, wie als ob es Luft wäre. — Die Griechen nannten diess Reich des Unberechenbaren und der erhabenen ewigen Bornirtheit Moira und stellten es als den Horizont um ihre Götter, über den sie weder hinauswirken, noch — sehen können: mit jenem heimlichen Trotz gegen die Götter, welcher bei mehreren Völkern sich vorfindet, in der Gestalt, dass man sie zwar anbetet, aber einen letzten Trumpf gegen sie in der Hand behält, zum Beispiel wenn man als Inder oder Perser sie sich abhängig vom Opfer der Sterblichen denkt, sodass die Sterblichen schlimmsten Falls die Götter hungern und verhungern lassen können; oder wenn man wie der harte melancholische Skandinavier mit der Vorstellung einer einstmaligen Götter-Dämmerung sich den Genuss der stillen Rache schafft, zum Entgelt für die beständige Furcht, welche seine bösen Götter ihm machen. Anders das Christenthum mit seinem weder indischen, noch persischen, noch griechischen, noch skandinavischen Grundgefühle, welches den Geist der Macht im Staube anbeten und den Staub noch küssen hiess: diess gab zu verstehen, dass jenes allmächtige» Reich der Dummheit «nicht so dumm sei wie es aussehe, dass wir vielmehr die Dummen seien, die nicht merkten, dass hinter ihm — der liebe Gott stehe, er, der zwar die dunklen, krummen und wunderbaren Wege liebe, aber zuletzt doch Alles» herrlich hinausführe«. Diese neue Fabel vom lieben Gott, der bisher als Riesengeschlecht oder Moira verkannt worden sei und der Zwecke und Netze selber spinne, feiner noch als die unseres Verstandes — sodass sie demselben unverständlich, ja unverständig erscheinen müssten — diese Fabel war eine so kühne Umkehrung und ein so gewagtes Paradoxum, dass die zu fein gewordene alte Welt nicht zu widerstehen vermochte, so toll und widerspruchsvoll die Sache auch klang; — denn, im Vertrauen gesagt, es war ein Widerspruch darin: wenn unser Verstand den Verstand und die Zwecke Gottes nicht errathen kann, woher errieth er diese Beschaffenheit seines Verstandes? und diese Beschaffenheit von Gottes Verstande? — In der neueren Zeit ist in der That das Misstrauen gross geworden, ob der Ziegelstein, der vom Dache fällt, wirklich von der «,göttlichen Liebe «herabgeworfen werde — und die Menschen fangen wieder an, in die alte Spur der Riesen- und Zwergen-Romantik zurückzugerathen. Lernen wir also, weil es hohe Zeit dazu ist: in unserm vermeintlichen Sonderreiche der Zwecke und der Vernunft regieren ebenfalls die Riesen! Und unsere Zwecke und unsere Vernunft sind keine Zwerge, sondern Riesen! Und unsere eigenen Netze werden durch uns selber ebenso oft und ebenso plump zerrissen wie von dem Ziegelsteine! Und es ist nicht Alles Zweck, was so genannt wird, und noch weniger Alles Wille, was Wille heisst! Und, wenn ihr schliessen wolltet:»es giebt also nur Ein Reich, das der Zufälle und der Dummheit?«— so ist hinzuzufügen: ja, vielleicht giebt es nur Ein Reich, vielleicht giebt es weder Willen noch Zwecke, und wir haben sie uns eingebildet. Jene eisernen Hände der Nothwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln, spielen ihr Spiel unendliche Zeit: da müssen Würfe vorkommen, die der Zweckmässigkeit und Vernünftigkeit jedes Grades vollkommen ähnlich sehen. Vielleicht sind unsere Willensacte, unsere Zwecke nichts Anderes, als eben solche Würfe — und wir sind nur zu beschränkt und zu eitel dazu, unsere äusserste Beschränktheit zu begreifen: die nämlich, dass wir selber mit eisernen Händen den Würfelbecher schütteln, dass wir selber in unseren absichtlichsten Handlungen Nichts mehr thun, als das Spiel der Nothwendigkeit zu spielen. Vielleicht! — Um über diess Vielleicht hinauszukommen, müsste man schon in der Unterwelt und jenseits aller Oberflächen zu Gaste gewesen sein und am Tische der Persephone mit ihr selber gewürfelt und gewettet haben.

131.

Die moralischen Moden. — Wie sich die moralischen Gesammt-Urtheile verschoben haben! Diese grössten Wunder der antiken Sittlichkeit, zum Beispiel Epiktet, wussten Nichts von der jetzt üblichen Verherrlichung des Denkens an Andere, des Lebens für Andere; man würde sie nach unserer moralischen Mode geradezu unmoralisch nennen müssen, denn sie haben sich mit allen Kräften für ihr ego und gegen die Mitempfindung mit den Anderen (namentlich mit deren Leiden und sittlichen Gebrechen) gewehrt. Vielleicht dass sie uns antworten würden:»habt ihr an euch selber einen so langweiligen oder hässlichen Gegenstand, so denkt doch ja an Andere mehr, als an euch! Ihr thut gut daran!»