Das Bemitleidetwerden. — Unter Wilden denkt man mit moralischem Schauder an's Bemitleidetwerden: da ist man aller Tugend bar. Mitleid-gewähren heisst so viel wie Verachten: ein verächtliches Wesen will man nicht leiden sehen, es gewährt diess keinen Genuss. Dagegen einen Feind leiden zu sehen, den man als ebenbürtig-stolz anerkennt und der unter Martern seinen Stolz nicht preisgiebt, und überhaupt jedes Wesen, welches sich nicht zum Mitleid-Anrufen, das heisst zur schmählichsten und tiefsten Demüthigung verstehen will, — das ist ein Genuss der Genüsse, dabei erhebt sich die Seele des Wilden zur Bewunderung: er tödtet zuletzt einen solchen Tapferen, wenn er es in der Hand hat, und giebt ihm, dem Ungebrochenen, seine letzte Ehre: hätte er gejammert, den Ausdruck des kalten Hohnes aus dem Gesichte verloren, hätte er sich verächtlich gezeigt, — nun, so hätte er leben bleiben dürfen, wie ein Hund, — er hätte den Stolz des Zuschauenden nicht mehr gereizt und an Stelle der Bewunderung wäre Mitleiden getreten.
Das Glück im Mitleiden. — Wenn man, wie die Inder, als Ziel der ganzen intellectuellen Thätigkeit die Erkenntniss des menschlichen Elendes aufstellt und durch viele Geschlechter des Geistes hindurch einem solchen entsetzlichen Vorsatze treu bleibt: so bekommt endlich, im Auge solcher Menschen des erblichen Pessimismus', das Mitleiden einen neuen Werth, als lebenerhaltende Macht, um das Dasein doch auszuhalten, ob es gleich werth erscheint, vor Ekel und Grausen weggeworfen zu werden. Mitleiden wird das Gegenmittel gegen den Selbstmord, als eine Empfindung, welche Lust enthält und Überlegenheit in kleinen Dosen zu kosten giebt: es zieht von uns ab, macht das Herz voll, verscheucht die Furcht und die Erstarrung, regt zu Worten, Klagen und Handlungen an, — es ist verhältnissmässig ein Glück, gemessen am Elende der Erkenntniss, welche das Individuum von allen Seiten in die Enge und Dunkelheit treibt und ihm den Athem nimmt. Glück aber, welches es auch sei, giebt Luft, Licht und freie Bewegung.
Warum das» Ich «verdoppeln! — Unsere eigenen Erlebnisse mit dem Auge ansehen, mit dem wir sie anzusehen pflegen, wenn es die Erlebnisse Anderer sind, — diess beruhigt sehr und ist eine rathsame Medicin. Dagegen die Erlebnisse Anderer so ansehen und aufnehmen, wie als ob sie die unseren wären — die Forderung einer Philosophie des Mitleidens — , diess würde uns zu Grunde richten, und in sehr kurzer Zeit: man mache doch nur den Versuch damit und phantasire nicht länger! Gewiss ist ausserdem jene erste Maxime der Vernunft und dem guten Willen zur Vernünftigkeit gemässer, denn wir urtheilen über den Werth und Sinn eines Ereignisses objectiver, wenn es an Anderen hervortritt und nicht an uns: zum Beispiel über den Werth eines Sterbefalles, eines Geldverlustes, einer Verleumdung. Mitleiden als Princip des Handelns, mit der Forderung:»leide so an dem übel des Andern, wie er selber leidet«, brächte dagegen mit sich, dass der Ich-Gesichtspunct, mit seiner Übertreibung und Ausschweifung, auch noch der Gesichtspunct des Anderen, des Mitleidenden, werden müsste: sodass wir an unserem Ich und am Ich des Anderen zugleich zu leiden hätten und uns derart freiwillig mit einer doppelten Unvernunft beschwerten, anstatt die Last der eigenen so gering wie möglich zu machen.
Das Zärtlicherwerden. — Wenn wir Jemanden lieben, ehren, bewundern und nun, hinterher, finden, dass er leidet, — immer mit grossem Erstaunen, weil wir nicht anders denken, als dass unser von ihm herströmendes Glück aus einem überreichen Borne eigenen Glückes komme, — so ändert sich unser Gefühl der Liebe, Verehrung und Bewunderung in etwas Wesentlichem: es wird zärtlicher, das heisst: die Kluft zwischen ihm und uns scheint sich zu überbrücken, eine Annäherung an Gleichheit scheint Statt zu finden. Jetzt erst gilt es uns als möglich, ihm zurückgeben zu können, während er früher über unsere Dankbarkeit erhaben in unserer Vorstellung lebte. Es macht uns dieses Zurückgebenkönnen eine grosse Freude und Erhebung. Wir suchen zu errathen, was seinen Schmerz lindert, und geben ihm diess; will er tröstliche Worte, Blicke, Aufmerksamkeiten, Dienste, Geschenke, — wir geben es; vor Allem aber: will er uns leidend über sein Leid, so geben wir uns als leidend, haben aber bei alledem den Genuss der thätigen Dankbarkeit: als welche, kurz gesagt, die gute Rache ist. Will und nimmt er gar Nichts von uns an, so gehen wir erkältet und traurig, fast gekränkt fort: es ist, als ob unsere Dankbarkeit zurückgewiesen würde, — und in diesem Ehrenpuncte ist der Gütigste noch kitzlich. — Aus dem Allen folgt, dass, selbst für den günstigsten Fall, im Leiden etwas Erniedrigendes und im Mitleiden etwas Erhöhendes und Überlegenheit-Gebendes liegt; was beide Empfindungen auf ewig von einander trennt.
Angeblich höher! — Ihr sagt, die Moral des Mitleidens sei eine höhere Moral, als die des Stoicismus'? Beweist es! aber bemerkt, dass über höher «und» niedriger «in der Moral nicht wiederum nach moralischen Ellen abzumessen ist: denn es giebt keine absolute Moral. Nehmt also die Maassstäbe anders woher und — nun seht euch vor!
Loben und Tadeln. — Läuft ein Krieg unglücklich aus, so frägt man nach Dem, der» Schuld «am Kriege sei; geht er siegreich zu Ende, so preist man seinen Urheber. Die Schuld wird überall gesucht, wo ein Misserfolg ist; denn dieser bringt eine Verstimmung mit sich, gegen welche das einzige Heilmittel unwillkürlich angewendet wird: eine neue Erregung des Machtgefühls — und diese findet sich in der Verurtheilung des» Schuldigen«. Dieser Schuldige ist nicht etwa der Sündenbock der Schuld Anderer: er ist das Opfer der Schwachen, Gedemüthigten, Herabgestimmten, welche irgend woran sich beweisen wollen, dass sie noch Stärke haben. Auch sich selber verurtheilen kann ein Mittel sein, nach einer Niederlage sich zum Gefühl der Stärke zu verhelfen. — Dagegen ist die Verherrlichung des Urhebers oftmals das ebenso blinde Ergebniss eines anderen Triebes, der sein Opfer haben will, — und diessmal riecht das Opfer dem Opferthiere selber süss und einladend — . wenn nämlich das Gefühl der Macht in einem Volke, in einer Gesellschaft durch einen grossen und bezaubernden Erfolg überfüllt ist und eine Ermüdung am Siege eintritt, so giebt man von seinem Stolze ab; es erhebt sich das Gefühl der Hingebung und sucht sich sein Object. — Ob wir getadelt oder gelobt werden, wir sind gewöhnlich dabei die Gelegenheiten, und allzuoft die willkürlich am Schopf gefassten und herbeigeschleppten Gelegenheiten für unsere Nächsten, den in ihnen angeschwollenen Trieb des Tadelns oder Lobens ausströmen zu lassen: wir erzeigen ihnen in beiden Fällen eine Wohlthat, an der wir kein Verdienst und für die sie keinen Dank haben.
Schöner, aber weniger werth. — Malerische Moralität: das ist die Moralität der steil aufschiessenden Affecte, der schroffen Übergänge, der pathetischen, eindringlichen, furchtbaren, feierlichen Gebärden und Töne. Es ist die halbwilde Stufe der Moralität: man lasse sich durch ihren ästhetischen Reiz nicht verlocken, ihr einen höheren Rang anzuweisen.
Mitempfindung. — Um den Anderen zu verstehen, das heisst, um sein Gefühl in uns nachzubilden, gehen wir zwar häufig auf den Grund seines so und so bestimmten Gefühls zurück und fragen zum Beispieclass="underline" warum ist er betrübt? — um dann aus dem selben Grunde selber betrübt zu werden; aber viel gewöhnlicher ist es, diess zu unterlassen und das Gefühl nach den Wirkungen, die es am Anderen übt und zeigt, in uns zu erzeugen, indem wir den Ausdruck seiner Augen, seiner Stimme, seines Ganges, seiner Haltung (oder gar deren Abbild in Wort, Gemälde, Musik) an unserem Leibe nachbilden (mindestens bis zu einer leisen Ähnlichkeit des Muskelspiels und der Innervation). Dann entsteht in uns ein ähnliches Gefühl, in Folge einer alten Association von Bewegung und Empfindung, welche darauf eingedrillt ist, rückwärts und vorwärts zu laufen. In dieser Geschicklichkeit, die Gefühle des Andern zu verstehen, haben wir es sehr weit gebracht, und fast unwillkürlich sind wir in Gegenwart eines Menschen immer in der Übung dieser Geschicklichkeit: man sehe sich namentlich das Linienspiel in den weiblichen Gesichtern an, wie es ganz vom unaufhörlichen Nachbilden und Wiederspiegeln dessen, was um sie herum empfunden wird, erzittert und glänzt. Am deutlichsten aber zeigt uns die Musik, welche Meister wir im schnellen und feinen Errathen von Gefühlen und in der Mitempfindung sind: wenn nämlich Musik ein Nachbild vom Nachbild von Gefühlen ist und doch, trotz dieser Entfernung und Unbestimmtheit, uns noch oft genug derselben theilhaftig macht, sodass wir traurig werden, ohne den geringsten Anlass zur Trauer, wie vollkommene Narren, blos weil wir Töne und Rhythmen hören, welche irgendwie an den Stimmklang und die Bewegung von Trauernden, oder gar von deren Gebräuchen, erinnern. Man erzählt von einem dänischen König, dass er von der Musik eines Sängers so in kriegerische Begeisterung hineingerissen wurde, dass er aufsprang und fünf Personen seines versammelten Hofstaates tödtete: es gab keinen Krieg, keinen Feind, vielmehr von Allem das Gegentheil, aber die vom Gefühle zur Ursache zurückschliessende Kraft war stark genug, um den Augenschein und die Vernunft zu überwältigen. Allein, diess ist eben fast immer die Wirkung der Musik (gesetzt, dass sie eben wirkt — ) und man braucht so paradoxer Fälle nicht, um diess einzusehen: der Zustand des Gefühls, in den uns die Musik bringt, ist fast jedesmal im Widerspruch mit dem Augenschein unserer wirklichen Lage und der Vernunft, welche diese wirkliche Lage und ihre Ursachen erkennt. — Fragen wir, wodurch die Nachbildung der Gefühle Anderer uns so geläufig geworden ist, so bleibt kein Zweifel über die Antwort: der Mensch, als das furchtsamste aller Geschöpfe, vermöge seiner feinen und zerbrechlichen Natur, hat in seiner Furchtsamkeit die Lehrmeisterin jener Mitempfindung, jenes schnellen Verständnisses für das Gefühl des Andern (auch des Thieres) gehabt. In langen Jahrtausenden sah er in allem Fremden und Belebten eine Gefahr: er bildete sofort bei einem solchen Anblick den Ausdruck der Züge und der Haltung nach und machte seinen Schluss über die Art der bösen Absicht hinter diesen Zügen und dieser Haltung. Dieses Ausdeuten aller Bewegungen und Linien auf Absichten hat der Mensch sogar auf die Natur der unbeseelten Dinge angewendet — im Wahne, dass es nichts Unbeseeltes gebe: ich glaube, Alles, was wir Naturgefühl nennen, beim Anblick von Himmel, Flur, Fels, Wald, Gewitter, Sternen, Meer, Landschaft, Frühling, hat hier seine Herkunft, — ohne die uralte Übung der Furcht, diess Alles auf einen zweiten dahinterliegenden Sinn hin zu sehen, hätten wir jetzt keine Freude an der Natur, wie wir keine Freude an Mensch und Thier haben würden, ohne jene Lehrmeisterin des Verstehens, die Furcht. Die Freude und das angenehme Erstaunen, endlich das Gefühl des Lächerlichen, sind nämlich die später geborenen Kinder der Mitempfindung und die viel jüngeren Geschwister der Furcht. — Die Fähigkeit des raschen Verstehens — welche somit auf der Fähigkeit beruht, sich rasch zu verstellen — nimmt bei stolzen selbstherrlichen Menschen und Völkern ab, weil sie weniger Furcht haben: dagegen sind alle Arten des Verstehens und Sich-Verstellens unter den ängstlichen Völkern zu Hause; hier ist auch die rechte Heimath der nachahmenden Künste und der höheren Intelligenz. — Wenn ich von einer solchen Theorie der Mitempfindung aus, wie ich sie hier vorschlage, an die jetzt gerade beliebte und heilig gesprochene Theorie eines mystischen Processes denke, vermöge dessen das Mitleid aus zwei Wesen eines macht und dergestalt dem einen das unmittelbare Verstehen des anderen ermöglicht: wenn ich mich erinnere, dass ein so heller Kopf wie der Schopenhauer's an solchem schwärmerischen und nichtswürdigen Krimskrams seine Freude hatte und diese Freude wieder auf helle und halbhelle Köpfe übergepflanzt hat: so weiss ich der Verwunderung und des Erbarmens kein Ende. Wie gross muss unsere Lust am unbegreiflichen Unsinn sein! Wie nahe dem Verrückten steht immer noch der ganze Mensch, wenn er auf seine geheimen intellectuellen Wünsche hinhört! — (Wofür eigentlich fühlte sich Schopenhauer gegen Kant so dankbar gestimmt, so tief verpflichtet? Es verräth sich einmal ganz unzweideutig: Jemand hatte davon gesprochen, wie dem kategorischen Imperative Kant's die qualitas occulta genommen und er begreiflich gemacht werden könne. Darüber bricht Schopenhauer in diese Worte aus:»Begreiflichkeit des kategorischen Imperativs! Grundverkehrter Gedanke! Ägyptische Finsterniss! Das verhüte der Himmel, dass der nicht noch begreiflich werde! Eben dass es ein Unbegreifliches giebt, dass dieser Jammer des Verstandes und seine Begriffe begränzt, bedingt, endlich, trüglich ist; diese Gewissheit ist Kant's grosses Geschenk.«— Man erwäge, ob Jemand einen guten Willen zur Erkenntniss der moralischen Dinge hat, der von vornherein durch den Glauben an die Unbegreiflichkeit dieser Dinge sich beseligt fühlt! Einer, der noch ehrlich an Erleuchtungen von Oben, an Magie und Geistererscheinungen und die metaphysische Hässlichkeit der Kröte glaubt!)