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150.

Der Zufall der Ehen. — Wäre ich ein Gott, und ein wohlwollender Gott, so würden mich die Ehen der Menschen mehr als alles Andere ungeduldig machen. Weit, weit kann ein Einzelner vorwärts kommen, in seinen siebenzig, ja in seinen dreissig Jahren, — es ist zum Erstaunen, selbst für Götter! Aber sieht man dann, wie er das Erbe und Vermächtniss dieses Ringens und Siegens, den Lorber seiner Menschlichkeit, an den ersten besten Ort aufhängt, wo ihn ein Weiblein zerpflückt; sieht man, wie gut er zu erringen, wie schlecht zu bewahren versteht, ja wie er gar nicht daran denkt, dass er vermittelst der Zeugung ein noch siegreicheres Leben vorbereiten könne: so wird man, wie gesagt, ungeduldig und sagt sich» es kann aus der Menschheit auf die Dauer Nichts werden, die Einzelnen werden verschwendet, der Zufall der Ehen macht alle Vernunft eines grossen Ganges der Menschheit unmöglich; — hören wir auf, die eifrigen Zuschauer und Narren dieses Schauspiels ohne Ziel zu sein!«— In dieser Stimmung zogen sich einstmals die Götter Epikur's in ihre göttliche Stille und Seligkeit zurück: sie waren der Menschen und ihrer Liebeshändel müde.

151.

Hier sind neue Ideale zu erfinden. — Es sollte nicht erlaubt sein, im Zustande der Verliebtheit einen Entschluss über sein Leben zu fassen und einer heftigen Grille wegen den Charakter seiner Gesellschaft ein für allemal festzusetzen: man sollte die Schwüre der Liebenden öffentlich für ungültig erklären und ihnen die Ehe verweigern: — und zwar, weil man die Ehe unsäglich wichtiger nehmen sollte! so dass sie in solchen Fällen, wo sie bisher zu Stande kam, für gewöhnlich gerade nicht zu Stande käme! Sind nicht die meisten Ehen der Art, dass man keinen Dritten als Zeugen wünscht? Und gerade dieser Dritte fehlt fast nie — das Kind — und ist mehr als ein Zeuge, nämlich der Sündenbock!

152.

Eidformel. — »Wenn ich jetzt lüge, so bin ich kein anständiger Mensch mehr, und Jeder soll es mir in's Gesicht sagen dürfen.«— Diese Formel empfehle ich an Stelle des gerichtlichen Eides und der üblichen Anrufung Gottes dabei: sie ist stärker. Auch der Fromme hat keinen Grund, sich ihr zu widersetzen: sobald nämlich der bisherige Eid nicht mehr hinreichend nützt, muss der Fromme auf seinen Katechismus hören, welcher vorschreibt» du sollst den Namen Gottes deines Herrn nicht unnützlich führen!»

153.

Ein Unzufriedener. — Das ist einer jener alten Tapferen: er ärgert sich über die Civilisation, weil er meint, dieselbe ziele darauf, alle guten Dinge, Ehren, Schätze, schöne Weiber, — auch den Feigen zugänglich zu machen.

154.

Trost der Gefährdeten. — Die Griechen, in einem Leben, welches grossen Gefahren und Umstürzen sehr nahe stand, suchten im Nachdenken und Erkennen eine Art Sicherheit des Gefühls und letztes refugium. Wir, in einem unvergleichlich sichreren Zustande, haben die Gefährlichkeit in's Nachdenken und Erkennen getragen, und erholen und beruhigen uns von ihr am Leben.

155.

Erloschene Skepsis. — Kühne Wagnisse sind in der neuen Zeit seltener, als in der alten und mittelalterlichen, — wahrscheinlich desshalb, weil die neue Zeit nicht mehr den Glauben an Vorzeichen, Orakel, Gestirne und Wahrsager hat. Das heisst: wir sind dazu unfähig geworden, an eine uns bestimmte Zukunft zu glauben, so wie die Alten glaubten, welche — anders, als wir — in Beziehung auf Das, was kommt, viel weniger Skeptiker waren, als in Beziehung auf das, was da ist.

156.

Aus Übermuth böse. — »Dass wir uns nur nicht zu wohl fühlen!«— das war die heimliche Herzensangst der Griechen in der guten Zeit. Desshalb predigten sie sich das Maass. Und wir!

157.

Cultus der» Naturlaute«. — Wohin weist es, dass unsere Cultur gegen die Aeusserungen des Schmerzes, gegen Thränen, Klagen, Vorwürfe, Gebärden der Wuth oder der Demüthigung, nicht nur geduldig ist, dass sie dieselben gut heisst und unter die edleren Unvermeidlichkeiten rechnet? — während der Geist der antiken Philosophie mit Verachtung auf sie sah und ihnen durchaus keine Nothwendigkeit zuerkannte. Man erinnere sich doch, wie Plato — das heisst: keiner von den unmenschlichsten Philosophen — von dem Philoktet der tragischen Bühne redet. Sollte unsrer modernen Cultur vielleicht» die Philosophie «fehlen? Sollten wir, nach der Abschätzung jener alten Philosophen, vielleicht sammt und sonders zum» Pöbel «gehören?

158.

Clima des Schmeichlers. — Die hündischen Schmeichler muss man jetzt nicht mehr in der Nähe der Fürsten suchen, — diese haben alle den militärischen Geschmack, und der Schmeichler geht wider diesen. Aber in der Nähe der Banquiers und Künstler wächst jene Blume auch jetzt noch.

159.

Die Todtenerwecker. — Eitle Menschen schätzen ein Stück Vergangenheit von dem Augenblick an höher, von dem an sie es nachzuempfinden vermögen (zumal wenn diess schwierig ist), ja sie wollen es womöglich jetzt wieder von den Todten erwecken. Da der Eiteln aber immer eine Unzahl da ist, so ist die Gefahr der historischen Studien, sobald eine ganze Zeit ihnen obliegt, in der That nicht gering: es wird zu viel Kraft an alle möglichen Todten-Erweckungen weggeworfen. Vielleicht versteht man die ganze Bewegung der Romantik am besten aus diesem Gesichtspuncte.

160.

Eitel, begehrlich und wenig weise. — Eure Begierden sind grösser, als euer Verstand, und eure Eitelkeit ist noch grösser, als eure Begierden, — solchen Menschen, wie ihr seid, ist von Grund aus recht viel christliche Praxis und dazu ein Wenig Schopenhauerische Theorie anzurathen!

161.

Schönheit gemäss dem Zeitalter. — Wenn unsere Bildhauer, Maler und Musiker den Sinn der Zeit treffen wollen, so müssen sie die Schönheit gedunsen, riesenhaft und nervös bilden: so wie die Griechen, im Banne ihrer Moral des Maasses, die Schönheit als Apollo vom Belvedere sahen und bildeten. Wir sollten ihn eigentlich hässlich nennen! Aber die albernen» Classicisten «haben uns um alle Ehrlichkeit gebracht!

162.

Die Ironie der Gegenwärtigen. — Augenblicklich ist es Europäer-Art, alle grossen Interessen mit Ironie zu behandeln, weil man vor Geschäftigkeit in ihrem Dienste keine Zeit hat, sie ernst zu nehmen.

163.

Gegen Rousseau. — Wenn es wahr ist, dass unsere Civilisation etwas Erbärmliches an sich hat: so habt ihr die Wahl, mit Rousseau weiterzuschliessen» diese erbärmliche Civilisation ist Schuld an unserer schlechten Moralität «oder gegen Rousseau zurückzuschliessen» unsere gute Moralität ist Schuld an dieser Erbärmlichkeit der Civilisation. Unsere schwachen, unmännlichen gesellschaftlichen Begriffe von gut und böse und die ungeheuere Überherrschaft derselben über Leib und Seele haben alle Leiber und alle Seelen endlich schwach gemacht und die selbständigen, unabhängigen, unbefangenen Menschen, die Pfeiler einer starken Civilisation, zerbrochen: wo man der schlechten Moralität jetzt noch begegnet, da sieht man die letzten Trümmer dieser Pfeiler. «So stehe denn Paradoxon gegen Paradoxon! Unmöglich kann hier die Wahrheit auf beiden Seiten sein: und ist sie überhaupt auf einer von beiden? Man prüfe.

164.

Vielleicht verfrüht. — Gegenwärtig scheint es so, dass unter allerhand falschen irreführenden Namen und zumeist in grosser Unklarheit von Seiten Derer, welche sich nicht an die bestehenden Sitten und Gesetze gebunden halten, die ersten Versuche gemacht werden, sich zu organisiren und damit sich ein Recht zu schaffen: während sie bisher, als Verbrecher, Freidenker, Unsittliche, Bösewichte verschrieen, unter dem Banne der Vogelfreiheit und des schlechten Gewissens, verderbt und verderbend, lebten. Diess sollte man im Ganzen und Grossen billig und gut finden, wenn es auch das kommende Jahrhundert zu einem gefährlichen macht und Jedem das Gewehr um die Schulter hängt: schon damit eine Gegenmacht da ist, die immer daran erinnert, dass es keine allein-moralisch-machende Moral giebt und dass jede ausschliesslich sich selber bejahende Sittlichkeit zu viel gute Kraft tödtet und der Menschheit zu theuer zu stehen kommt. Die Abweichenden, welche so häufig die Erfinderischen und Fruchtbaren sind, sollen nicht mehr geopfert werden; es soll nicht einmal mehr für schändlich gelten, von der Moral abzuweichen, in Thaten und Gedanken; es sollen zahlreiche neue Versuche des Lebens und der Gemeinschaft gemacht werden; es soll eine ungeheuere Last von schlechtem Gewissen aus der Welt geschafft werden, — diese allgemeinsten Ziele sollten von allen Redlichen und Wahrheitsuchenden anerkannt und gefördert werden!

165.

Welche Moral nicht langweilt. — Die sittlichen Hauptgebote, die ein Volk sich immer wieder lehren und vorpredigen lässt, stehen in Beziehung zu seinen Hauptfehlern, und desshalb werden sie ihm nicht langweilig. Die Griechen, denen die Mässigung, der kalte Muth, der gerechte Sinn und überhaupt die Verständigkeit allzuoft abhanden kamen, hatten ein Ohr für die vier sokratischen Tugenden, — denn man hatte sie so nöthig und doch gerade für sie so wenig Talent!

166.

Am Scheidewege. — Pfui! ihr wollt in ein System hinein, wo man entweder Rad sein muss, voll und ganz, oder unter die Räder geräth! wo es sich von selber versteht, dass Jeder Das ist, wozu er von Oben her gemacht wird! Wo das Suchen nach» Connexion «zu den natürlichen Pflichten gehört! wo Keiner sich beleidigt fühlt, wenn er auf einen Mann mit dem Winke aufmerksam gemacht wird» er kann Ihnen einmal nützen«; wo man sich nicht schämt, Besuche zu machen, um die Fürsprache einer Person zu erbitten! wo man nicht einmal ahnt, wie man sich durch eine geflissentliche Einordnung in solche Sitten ein für allemal als geringe Töpferwaare der Natur bezeichnet hat, welche Andere verbrauchen und zerbrechen dürfen, ohne sich sehr dafür verantwortlich zu fühlen; gleich als ob man sagte:»an solcher Art, wie ich bin, wird es nie Mangel geben: nehmt mich hin! Ohne Umstände!«—