Moralische Mode einer handeltreibenden Gesellschaft. — Hinter dem Grundsatze der jetzigen moralischen Mode:»moralische Handlungen sind die Handlungen der Sympathie für Andere «sehe ich einen socialen Trieb der Furchtsamkeit walten, welcher sich in dieser Weise intellectuell vermummt: dieser Trieb will, als Oberstes, Wichtigstes, Nächstes, dass dem Leben alle Gefährlichkeit genommen werde, welche es früher hatte und dass daran Jeder und mit allen Kräften helfen solle: desshalb dürfen nur Handlungen, welche auf die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft abzielen, das Prädicat» gut «bekommen! — Wie wenig Freude müssen doch jetzt die Menschen an sich haben, wenn eine solche Tyrannei der Furchtsamkeit ihnen das oberste Sittengesetz vorschreibt, wenn sie es sich so widerspruchslos anbefehlen lassen, über sich, neben sich wegzusehen, aber für jeden Nothstand, für jedes Leiden anderwärts Luchs-Augen zu haben! Sind wir denn bei einer solchen ungeheuren Absichtlichkeit, dem Leben alle Schärfen und Kanten abzureiben, nicht auf dem besten Wege, die Menschheit zu Sand zu machen? Sand! Kleiner, weicher, runder, unendlicher Sand! Ist das euer Ideal, ihr Herolde der sympathischen Affectionen? — Inzwischen bleibt selbst die Frage unbeantwortet, ob man dem Anderen mehr nützt, indem man ihm unmittelbar fortwährend beispringt und hilft — was doch nur sehr oberflächlich geschehen kann, wo es nicht zu einem tyrannischen übergreifen und Umbilden wird — oder indem man aus sich selber Etwas formt, was der Andere mit Genuss sieht, etwa einen schönen, ruhigen, in sich abgeschlossenen Garten, welcher hohe Mauern gegen die Stürme und den Staub der Landstrassen, aber auch eine gastfreundliche Pforte hat.
Grundgedanke einer Cultur der Handeltreibenden. — Man sieht jetzt mehrfach die Cultur einer Gesellschaft im Entstehen, für welche das Handeltreiben ebenso sehr die Seele ist, als der persönliche Wettkampf es für die älteren Griechen und als Krieg, Sieg und Recht es für die Römer waren. Der Handeltreibende versteht Alles zu taxiren, ohne es zu machen, und zwar zu taxiren nach dem Bedürfnisse der Consumenten, nicht nach seinem eigenen persönlichsten Bedürfnisse;»wer und wie Viele consumiren diess?«ist seine Frage der Fragen. Diesen Typus der Taxation wendet er nun instinctiv und immerwährend an: auf Alles, und so auch auf die Hervorbringungen der Künste und Wissenschaften, der Denker, Gelehrten, Künstler, Staatsmänner, der Völker und Parteien, der ganzen Zeitalter: er fragt bei Allem, was geschaffen wird, nach Angebot und Nachfrage, um für sich den Werth einer Sache festzusetzen. Diess zum Charakter einer ganzen Cultur gemacht, bis in's Unbegränzte und Feinste durchgedacht und allem Wollen und Können aufgeformt: das ist es, worauf ihr Menschen des nächsten Jahrhunderts stolz sein werdet: wenn die Propheten der handeltreibenden Classe Recht haben, dieses in euren Besitz zu geben! Aber ich habe wenig Glauben an diese Propheten. Credat Judaeus Apella — mit Horaz zu reden.
Die Kritik über die Väter. — Warum verträgt man jetzt die Wahrheit schon über die jüngste Vergangenheit? Weil immer schon eine neue Generation da ist, die sich im Gegensatz zu dieser Vergangenheit fühlt und die Erstlinge des Gefühles der Macht in dieser Kritik geniesst. Ehemals wollte umgekehrt die neue Generation sich auf die ältere gründen, und sie begann sich zu fühlen, indem sie die Ansichten der Väter nicht nur annahm, sondern womöglich strenger nahm. Die Kritik über die Väter war damals lasterhaft: jetzt beginnen die jüngeren Idealisten damit.
Einsamkeit lernen. — Oh, ihr armen Schelme in den grossen Städten der Weltpolitik, ihr jungen, begabten, vom Ehrgeiz gemarterten Männer, welche es für ihre Pflicht halten, zu allen Begebenheiten — es begiebt sich immer Etwas — ihr Wort zu sagen! Welche, wenn sie auf diese Art Staub und Lärm machen, glauben, der Wagen der Geschichte zu sein! Welche, weil sie immer horchen, immer auf den Augenblick passen, wo sie ihr Wort hineinwerfen können, jede ächte Productivität verlieren! Mögen sie auch noch so begehrlich nach grossen Werken sein: die tiefe Schweigsamkeit der Schwangerschaft kommt nie zu ihnen! Das Ereigniss des Tages jagt sie wie Spreu vor sich her, während sie meinen, das Ereigniss zu jagen, — die armen Schelme! — Wenn man einen Helden auf der Bühne abgeben will, darf man nicht daran denken, Chorus zu machen, ja, man darf nicht einmal wissen, wie man Chorus macht.
Die Täglich — Abgenützten. — Diesen jungen Männern fehlt es weder an Charakter, noch an Begabung, noch an Fleiss: aber man hat ihnen nie Zeit gelassen, sich selber eine Richtung zu geben, vielmehr sie von Kindesbeinen an gewöhnt, eine Richtung zu empfangen. Damals, als sie reif genug waren, um» in die Wüste geschickt zu werden«, that man etwas Anderes, — man benutzte sie, man entwendete sie sich selber, man erzog sie zu dem täglichen Abgenutztwerden, man machte ihnen eine Pflichtenlehre daraus — und jetzt können sie es nicht mehr entbehren und wollen es nicht anders. Nur darf man diesen armen Zugthieren ihre» Ferien «nicht versagen — wie man es nennt, diess Musse-Ideal eines überarbeiteten Jahrhunderts: wo man einmal nach Herzenslust faulenzen und blödsinnig und kindisch sein darf.
So wenig als möglich Staat! — Alle politischen und wirthschaftlichen Verhältnisse sind es nicht werth, dass gerade die begabtesten Geister sich mit ihnen befassen dürften und müssten: ein solcher Verbrauch des Geistes ist im Grunde schlimmer, als ein Nothstand. Es sind und bleiben Gebiete der Arbeit für die geringeren Köpfe, und andere als die geringen Köpfe sollten dieser Werkstätte nicht zu Diensten stehen: möge lieber die Maschine wieder einmal in Stücke gehen! So wie es aber jetzt steht, wo nicht nur Alle täglich darum glauben wissen zu müssen, sondern auch Jedermann alle Augenblicke dafür thätig sein will und seine eigene Arbeit darüber im Stiche lässt, ist es ein grosser und lächerlicher Wahnsinn. Man bezahlt die» allgemeine Sicherheit «viel zu theuer um diesen Preis: und, was das Tollste ist, man bringt überdiess das Gegentheil der allgemeinen Sicherheit damit hervor, wie unser liebes Jahrhundert zu beweisen unternimmt: als ob es noch nie bewiesen wäre! Die Gesellschaft diebessicher und feuerfest und unendlich bequem für jeden Handel und Wandel zu machen und den Staat zur Vorsehung im guten und schlimmen Sinne umzuwandeln, — diess sind niedere, mässige und nicht durchaus unentbehrliche Ziele, welche man nicht mit den höchsten Mitteln und Werkzeugen erstreben sollte, die es überhaupt giebt, — den Mitteln, die man eben für die höchsten und seltensten Zwecke sich aufzusparen hätte! Unser Zeitalter, so viel es von Ökonomie redet, ist ein Verschwender: es verschwendet das Kostbarste, den Geist.
Die Kriege. — Die grossen Kriege der Gegenwart sind die Wirkungen des historischen Studiums.
Regieren. — Die Einen regieren, aus Lust am Regieren; die Andern, um nicht regiert zu werden: — Diesen ist es nur das geringere von zwei Übeln.
Die grobe Consequenz. — Man sagt mit großer Auszeichnung:»das ist ein Charakter!«— ja! wenn er grobe Consequenz zeigt, wenn die Consequenz auch dem stumpfen Auge einleuchtet! Aber sobald ein feinerer und tieferer Geist waltet und auf seine höhere Weise folgerichtig ist, leugnen die Zuschauer das Vorhandensein des Charakters. Desshalb spielen verschlagene Staatsmänner ihre Komödie gewöhnlich hinter einem Deckmantel der groben Consequenz.
Die Alten und die jungen. — »Es ist etwas Unmoralisches an den Parlamenten — so denkt Der und Jener immer noch — , denn man darf da auch Ansichten gegen die Regierung haben!«—»Man muss immer die Ansicht von der Sache haben, welche der gnädige Herr befiehlt«— das ist das elfte Gebot in manchem braven alten Kopfe, namentlich im nördlichen Deutschland. Man lacht darüber wie über eine veraltete Mode: aber ehemals war es die Moral! Vielleicht, dass man auch wieder einmal über Das lacht, was jetzt, unter dem parlamentarisch erzogenen jüngeren Geschlechte als moralisch gilt: nämlich die Politik der Partei über die eigne Weisheit zu stellen und jede Frage des öffentlichen Wohles so zu beantworten, wie es gerade guten Wind für die Segel der Partei macht.»Man muss die Ansicht von der Sache haben, welche die Situation der Partei erheischt«— so würde der Kanon lauten. Im Dienste einer solchen Moral giebt es jetzt jede Art von Opfer, Selbstüberwindung und Martyrium.
Der Staat als Erzeugniss der Anarchisten. — In den Ländern der gebändigten Menschen giebt es immer noch genug von den rückständigen und ungebändigten: augenblicklich sammeln sie sich in den socialistischen Lagern mehr als irgendwo anders. Sollte es dazu kommen, dass diese einmal Gesetze geben, so kann man darauf rechnen, dass sie sich an eine eiserne Kette legen und furchtbare Disciplin üben werden: — sie kennen sich! Und sie werden diese Gesetze aushalten, im Bewusstsein, dass sie selber dieselben gegeben haben, — das Gefühl der Macht, und dieser Macht, ist zu jung und entzückend für sie, als dass sie nicht Alles um seinetwillen litten.
Bettler. — Man soll die Bettler abschaffen: denn man ärgert sich, ihnen zu geben, und ärgert sich, ihnen nicht zu geben.
Geschäftsleute. — Euer Geschäft — das ist euer grösstes Vorurtheil, es bindet euch an euren Ort, an eure Gesellschaft, an eure Neigungen. Im Geschäft fleissig, — aber im Geiste faul, mit eurer Dürftigkeit zufrieden und die Schürze der Pflicht über diese Zufriedenheit gehängt: so lebt ihr, so wollt ihr eure Kinder!
Aus einer möglichen Zukunft. — Ist ein Zustand undenkbar, wo der Übelthäter sich selber zur Anzeige bringt, sich selber seine Strafe öffentlich dictirt, im stolzen Gefühle, dass er so das Gesetz ehrt, das er selber gemacht hat, dass er seine Macht ausübt, indem er sich straft, die Macht des Gesetzgebers? Er kann sich einmal vergehen, aber er erhebt sich durch die freiwillige Strafe über sein Vergehen, er wischt das Vergehen durch Freimüthigkeit, Grösse und Ruhe nicht nur aus: er thut eine öffentliche Wohlthat hinzu. — Diess wäre der Verbrecher einer möglichen Zukunft, welcher freilich auch eine Gesetzgebung der Zukunft voraussetzt, des Grundgedankens:»ich beuge mich nur dem Gesetze, welches ich selber gegeben habe, im Kleinen und Grossen. «Es müssen so viele Versuche noch gemacht werden! Es muss so manche Zukunft noch an's Licht kommen!