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193.

Esprit und Moral. — Der Deutsche, welcher sich auf das Geheimniss versteht, mit Geist, Wissen und Gemüth langweilig zu sein, und sich gewöhnt hat, die Langeweile als moralisch zu empfinden, — hat vor dem französischen esprit die Angst, er möchte der Moral die Augen ausstechen — und doch eine Angst und Lust, wie das Vöglein vor der Klapperschlange. Von den berühmten Deutschen hat vielleicht Niemand mehr esprit gehabt, als Hegel, — aber er hatte dafür auch eine so grosse deutsche Angst vor ihm, dass sie seinen eigenthümlichen schlechten Stil geschaffen hat. Dessen Wesen ist nämlich, dass ein Kern umwickelt und nochmals und wiederum umwickelt wird, bis er kaum noch hindurchblickt, verschämt und neugierig, — wie» junge Frau'n durch ihre Schleier blicken«, um mit dem alten Weiberhasser Aeschylus zu reden — : jener Kern ist aber ein witziger, oft vorlauter Einfall über die geistigsten Dinge, eine feine, gewagte Wortverbindung, wie so Etwas in die Gesellschaft von Denkern gehört, als Zukost der Wissenschaft, — aber in jenen Umwickelungen präsentirt es sich als abstruse Wissenschaft selber und durchaus als höchst moralische Langeweile! Da hatten die Deutschen eine ihnen erlaubte Form des esprit und sie genossen sie mit solchem ausgelassenen Entzücken, dass Schopenhauer's guter, sehr guter Verstand davor stille stand, — er hat zeitlebens gegen das Schauspiel, welches ihm die Deutschen boten, gepoltert, aber es nie sich zu erklären vermocht.

194.

Eitelkeit der Morallehrer. — Der im Ganzen geringe Erfolg der Morallehrer hat darin seine Erklärung, dass sie zu viel auf Ein Mal wollten, das heisst, dass sie zu ehrgeizig waren: sie wollten allzugern Vorschriften für Alle geben. Diess aber heisst im Unbestimmten schweifen und Reden an die Thiere halten, um sie zu Menschen zu machen: was Wunder, dass die Thiere diess langweilig finden! Man sollte begränzte Kreise sich aussuchen und für sie die Moral suchen und fördern, also zum Beispiel Reden vor den Wölfen halten, um sie zu Hunden zu machen. Vor Allem aber bleibt der grosse Erfolg immer Dem, welcher weder Alle, noch begränzte Kreise, sondern Einen erziehen will und gar nicht nach rechts und links ausspäht. Das vorige Jahrhundert ist dem unseren eben dadurch überlegen, dass es in ihm so viele einzeln erzogene Menschen gab, nebst eben so vielen Erziehern, welche hier die Aufgabe ihres Lebens gefunden hatten — und mit der Aufgabe auch Würde, vor sich und aller anderen» guten Gesellschaft«.

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Die sogenannte classische Erziehung. — Zu entdecken, dass unser Leben der Erkenntniss geweiht ist; dass wir es wegwerfen würden, nein! dass wir es weggeworfen hätten, wenn nicht diese Weihe es vor uns selber schützte; jenen Vers sich oft und mit Erschütterung vorsprechen:

«Schicksal, ich folge dir! Und wollt' ich nicht, ich müsst' es doch und unter Seufzen thun!»

— Und nun, bei einem Rückblick auf den Weg des Lebens, ebenfalls entdecken, dass Etwas nicht wieder gut zu machen ist: die Vergeudung unserer Jugend, als unsre Erzieher jene wissbegierigen, heissen und durstigen Jahre nicht dazu verwandten, uns der Erkenntniss der Dinge entgegenzuführen, sondern der sogenannten» Classischen Bildung«! Die Vergeudung unserer Jugend, als man uns ein dürftiges Wissen um Griechen und Römer und deren Sprachen ebenso ungeschickt, als quälerisch beibrachte und zuwider dem obersten Satze aller Bildung: dass man nur Dem, der Hunger darnach hat, eine Speise gebe! Als man uns Mathematik und Physik auf eine gewaltsame Weise aufzwang, anstatt uns erst in die Verzweiflung der Unwissenheit zu führen und unser kleines tägliches Leben, unsere Hantierungen und Alles, was sich zwischen Morgen und Abend im Hause, in der Werkstatt, am Himmel, in der Landschaft begiebt, in Tausende von Problemen aufzulösen, von peinigenden, beschämenden, aufreizenden Problemen, — um unsrer Begierde dann zu zeigen, dass wir ein mathematisches und mechanisches Wissen zu allernächst nöthig haben und uns dann das erste wissenschaftliche Entzücken an der absoluten Folgerichtigkeit dieses Wissens zu lehren! Hätte man uns auch nur die Ehrfurcht vor diesen Wissenschaften gelehrt, hätte man uns mit dem Ringen und Unterliegen und Wieder-Weiterkämpfen der Grossen, von dem Martyrium, welches die Geschichte der strengen Wissenschaft ist, auch nur Ein Mal die Seele erzittern machen! Vielmehr blies uns der Hauch einer gewissen Geringschätzung der eigentlichen Wissenschaften an, zu Gunsten der Historie, der» formalen Bildung «und der» Classicität«! Und wir liessen uns so leicht betrügen! Formale Bildung! Hätten wir nicht auf die besten Lehrer unserer Gymnasien zeigen können, lachend und fragend:»wo ist denn da die formale Bildung? Und wenn sie fehlt, wie sollen sie dieselbe lehren?«Und Classicität! Lernten wir Etwas von dem, worin gerade die Alten ihre Jugend erzogen? Lernten wir sprechen wie sie, schreiben wie sie? übten wir uns unablässig in der Fechtkunst des Gesprächs, in der Dialektik? Lernten wir uns schön und stolz bewegen wie sie, ringen, werfen, faustkämpfen wie sie? Lernten wir Etwas von der praktischen Asketik aller griechischen Philosophen? Wurden wir in einer einzigen antiken Tugend geübt und in der Weise, wie die Alten sie übten? Fehlte nicht überhaupt das ganze Nachdenken über Moral in unserer Erziehung, um wieviel mehr gar die einzig mögliche Kritik desselben, jene strengen und muthigen Versuche, in dieser oder jener Moral zu leben? Erregte man in uns irgend ein Gefühl, das den Alten höher galt, als den Neueren? Zeigte man uns die Eintheilung des Tages und des Lebens und die Ziele über dem Leben in einem antiken Geiste? Lernten wir auch nur die alten Sprachen so, wie wir die lebender Völker lernen, — nämlich zum Sprechen und zum Bequem-und-Gut-Sprechen? Nirgends ein wirkliches Können, ein neues Vermögen als Ergebniss mühseliger Jahre! Sondern ein Wissen darum, was ehemals Menschen gekonnt und vermocht haben! Und was für ein Wissen! Nichts wird mir von Jahr zu Jahr deutlicher, als dass alles griechische und antike Wesen, so schlicht und weltbekannt es vor uns zu liegen scheint, sehr schwer verständlich, ja, kaum zugänglich ist, und dass die übliche Leichtigkeit, mit der von den Alten geredet wird, entweder eine Leichtfertigkeit oder ein alter erblicher Dünkel der Gedankenlosigkeit ist. Die ähnlichen Worte und Begriffe täuschen uns: aber hinter ihnen liegt immer eine Empfindung versteckt, welche dem modernen Empfinden fremd, unverständlich oder peinlich sein müsste. Das sind mir Gebiete, auf denen sich Knaben tummeln dürften! Genug, wir haben es gethan, als wir Knaben waren und uns beinahe für immer dabei einen Widerwillen gegen das Alterthum heimgeholt, den Widerwillen einer scheinbar allzugrossen Vertraulichkeit! Denn so weit geht die stolze Einbildung unserer classischen Erzieher, gleichsam im Besitze der Alten zu sein, dass sie diesen Dünkel noch auf die Erzogenen überfliessen lassen, nebst dem Verdachte, dass ein solcher Besitz nicht wohl selig machen könne, sondern dass er gut genug für rechtschaffene, arme, närrische alte Bücher-Drachen sei:»mögen diese auf ihrem Horte brüten! er wird wohl ihrer würdig sein!«— mit diesem stillen Hintergedanken vollendete sich unsere classische Erziehung. — Diess ist nicht wieder gut zu machen — an uns! Aber denken wir nicht nur an uns!

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Die persönlichsten Fragen der Wahrheit. — »Was ist Das eigentlich, was ich thue? Und was will gerade ich damit?«— das ist die Frage der Wahrheit, welche bei unserer jetzigen Art Bildung nicht gelehrt und folglich nicht gefragt wird, für sie giebt es keine Zeit. Dagegen mit Kindern von Possen zu reden und nicht von der Wahrheit, mit Frauen, die später Mütter werden sollen, Artigkeiten zu reden und nicht von der Wahrheit, mit Jünglingen von ihrer Zukunft und ihrem Vergnügen zu reden und nicht von der Wahrheit, — dafür ist immer Zeit und Lust da! — Aber was sind auch siebenzig Jahre! — das läuft hin und ist bald zu Ende; es liegt so Wenig daran, dass die Welle wisse, wie und wohin sie laufe! Ja, es könnte Klugheit sein, es nicht zu wissen. — »Zugegeben: aber stolz ist es nicht, auch nicht einmal darnach zu fragen; unsere Bildung macht die Menschen nicht stolz.«— Um so besser! — »Wirklich?»

197.

Die Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung. — Man überschlage den Beitrag, den die Deutschen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts mit ihrer geistigen Arbeit der allgemeinen Cultur gebracht haben und nehme erstens die deutschen Philosophen: sie sind auf die erste und älteste Stufe der Speculation zurückgegangen, denn sie fanden in Begriffen ihr Genüge, anstatt in Erklärungen, gleich den Denkern träumerischer Zeitalter, — eine vorwissenschaftliche Art der Philosophie wurde durch sie wieder lebendig gemacht. Zweitens die deutschen Historiker und Romantiker: ihre allgemeine Bemühung gieng dahin, ältere, primitive Empfindungen und namentlich das Christenthum, die Volksseele, Volkssage, Volkssprache, die Mittelalterlichkeit, die orientalische Asketik, das Inderthum zu Ehren zu bringen. Drittens die Naturforscher: sie kämpften gegen Newton's und Voltaire's Geist und suchten, gleich Goethe und Schopenhauer, den Gedanken einer vergöttlichten oder verteufelten Natur und ihrer durchgängigen ethischen und symbolischen Bedeutsamkeit wieder aufrecht zu stellen. Der ganze grosse Hang der Deutschen gieng gegen die Aufklärung, und gegen die Revolution der Gesellschaft, welche mit grobem Missverständniss als deren Folge galt: die Pietät gegen alles noch Bestehende suchte sich in Pietät gegen Alles, was bestanden hat, umzusetzen, nur damit Herz und Geist wieder einmal voll würden und keinen Raum mehr für zukünftige und neuernde Ziele hätten. Der Cultus des Gefühls wurde aufgerichtet an Stelle des Cultus' der Vernunft, und die deutschen Musiker, als die Künstler des Unsichtbaren, Schwärmerischen, Märchenhaften, Sehnsüchtigen, bauten an dem neuen Tempel erfolgreicher, als alle Künstler des Wortes und der Gedanken. Bringen wir in Anrechnung, dass unzähliges Gute im Einzelnen gesagt und erforscht worden ist und Manches seitdem billiger beurtheilt wird, als jemals: so bleibt doch übrig, vom Ganzen zu sagen, dass es keine geringe allgemeine Gefahr war, unter dem Anscheine der voll- und endgültigsten Erkenntniss des Vergangenen die Erkenntniss überhaupt unter das Gefühl hinabzudrücken und — um mit Kant zu reden, der so seine eigene Aufgabe bestimmte — »dem Glauben wieder Bahn zu machen, indem man dem Wissen seine Gränzen wies. «Athmen wir wieder freie Luft: die Stunde dieser Gefahr ist vorübergegangen! Und seltsam: gerade die Geister, welche von den Deutschen so beredt beschworen wurden, sind auf die Dauer den Absichten ihrer Beschwörer am schädlichsten geworden, — die Historie, das Verständniss des Ursprungs und der Entwickelung, die Mitempfindung für das Vergangene, die neu erregte Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntniss, nachdem sie alle eine Zeit lang hülfreiche Gesellen des verdunkelnden, schwärmenden, zurückbildenden Geistes schienen, haben eines Tages eine andere Natur angenommen und fliegen nun mit den breitesten Flügeln an ihren alten Beschwörern vorüber und hinauf, als neue und stärkere Genien eben jener Aufklärung, wider welche sie beschworen waren. Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen, — unbekümmert darum, dass es eine» grosse Revolution «und wiederum eine» grosse Reaction «gegen dieselbe gegeben hat, ja dass es Beides noch giebt: es sind doch nur Wellenspiele, im Vergleiche mit der wahrhaft grossen Fluth, in welcher wir treiben und treiben wollen!