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10.

Gegenbewegung zwischen Sinn der Sittlichkeit und Sinn der Causalität. — In dem Maasse, in welchem der Sinn der Causalität zunimmt, nimmt der Umfang des Reiches der Sittlichkeit ab: denn jedesmal, wenn man die nothwendigen Wirkungen begriffen hat und gesondert von allen Zufällen, allem gelegentlichen Nachher (post hoc) zu denken versteht, hat man eine Unzahl phantastischer Causalitäten, an welche als Grundlagen von Sitten bisher geglaubt wurde, zerstört — die wirkliche Welt ist viel kleiner, als die phantastische — und jedesmal ist ein Stück Angstlichkeit und Zwang aus der Welt verschwunden, jedesmal auch ein Stück Achtung vor der Autorität der Sitte: die Sittlichkeit im Grossen hat eingebüsst. Wer sie dagegen vermehren will, muss zu verhüten wissen, dass die Erfolge controlirbar werden.

11.

Volksmoral und Volksmedicin.- An der Moral, welche in einer Gemeinde herrscht, wird fortwährend und von Jedermann gearbeitet: die Meisten bringen Beispiele über Beispiele für das behauptete Verhältniss von Ursache und Folge, Schuld und Strafe hinzu, bestätigen es als wohlbegründet und mehren seinen Glauben: Einige machen neue Beobachtungen über Handlungen und Folgen und ziehen Schlüsse und Gesetze daraus: die Wenigsten nehmen hie und da Anstoss und lassen den Glauben an diesen Puncten schwach werden. — Alle aber sind einander gleich in der gänzlich rohen, unwissenschaftlichen Art ihrer Thätigkeit; ob es sich um Beispiele, Beobachtungen oder Anstösse handelt, ob um den Beweis, die Bekräftigung, den Ausdruck, die Widerlegung eines Gesetzes, — es ist werthloses Material und werthlose Form, wie Material und Form aller Volksmedicin. Volksmedicin und Volksmoral gehören zusammen und sollten nicht mehr so verschieden abgeschätzt werden, wie es immer noch geschieht: beides sind die gefährlichsten Scheinwissenschaften.

12.

Die Folge als Zuthat. — Ehemals glaubte man, der Erfolg einer That sei nicht eine Folge, sondern eine freie Zuthat — nämlich Gottes. Ist eine grössere Verwirrung denkbar! Man musste sich um die That und um den Erfolg besonders bemühen, mit ganz verschiedenen Mitteln und Praktiken!

13.

Zur neuen Erziehung des Menschengeschlechts. — Helft, ihr Hülfreichen und Wohlgesinnten, doch an dem Einen Werke mit, den Begriff der Strafe, der die ganze Welt überwuchert hat, aus ihr zu entfernen! Es giebt kein böseres Unkraut! Nicht nur in die Folgen unserer Handlungsweisen hat man ihn gelegt — und wie schrecklich und vernunftwidrig ist schon diess, Ursache und Wirkung als Ursache und Strafe zu verstehen! — aber man hat mehr gethan und die ganze reine Zufälligkeit des Geschehens um ihre Unschuld gebracht, mit dieser verruchten Interpretationskunst des Straf-Begriffs. Ja, man hat die Tollheit so weit getrieben, die Existenz selber als Strafe empfinden zu heissen, — es ist, als ob die Phantasterei von Kerkermeistern und Henkern bisher die Erziehung des Menschengeschlechts geleitet hätte!

14.

Bedeutung des Wahnsinns in der Geschichte der Moralität. — Wenn trotz jenem furchtbaren Druck der» Sittlichkeit der Sitte«, unter dem alle Gemeinwesen der Menschheit lebten, viele Jahrtausende lang vor unserer Zeitrechnung und in derselben im Ganzen und Grossen fort bis auf den heutigen Tag (wir selber wohnen in der kleinen Welt der Ausnahmen und gleichsam in der bösen Zone): — wenn, sage ich, trotzdem neue und abweichende Gedanken, Werthschätzungen, Triebe immer wieder herausbrachen, so geschah diess unter einer schauderhaften Geleitschaft: fast überall ist es der Wahnsinn, welcher dem neuen Gedanken den Weg bahnt, welcher den Bann eines verehrten Brauches und Aberglaubens bricht. Begreift ihr es, wesshalb es der Wahnsinn sein musste? Etwas in Stimme und Gebärde so Grausenhaftes und Unberechenbares wie die dämonischen Launen des Wetters und des Meeres und desshalb einer ähnlichen Scheu und Beobachtung Würdiges? Etwas, das so sichtbar das Zeichen völliger Unfreiwilligkeit trug, wie die Zuckungen und der Schaum des Epileptischen, das den Wahnsinnigen dergestalt als Maske und Schallrohr einer Gottheit zu kennzeichnen schien? Etwas, das dem Träger eines neuen Gedankens selber Ehrfurcht und Schauder vor sich und nicht mehr Gewissensbisse gab und ihn dazu trieb, der Prophet und Märtyrer desselben zu werden? — Während es uns heute noch immer wieder nahe gelegt wird, dass dem Genie, anstatt eines Kornes Salz, ein Korn Wahnwurz beigegeben ist, lag allen früheren Menschen der Gedanke viel näher, dass überall, wo es Wahnsinn giebt, es auch ein Korn Genie und Weisheit gäbe, — etwas» Göttliches«, wie man sich zuflüsterte. Oder vielmehr: man drückte sich kräftig genug aus.»Durch den Wahnsinn sind die grössten Güter über Griechenland gekommen, «sagte Plato mit der ganzen alten Menschheit. Gehen wir noch einen Schritt weiter: allen jenen überlegenen Menschen, welche es unwiderstehlich dahin zog, das Joch irgend einer Sittlichkeit zu brechen und neue Gesetze zugeben, blieb, wenn sie nicht wirklich wahnsinnig waren, Nichts übrig, als sich wahnsinnig zu machen oder zu stellen — und zwar gilt diess für die Neuerer auf allen Gebieten, nicht nur auf dem der priesterlichen und politischen Satzung.- selbst der Neuerer des poetischen Metrums musste durch den Wahnsinn sich beglaubigen. (Bis in viel mildere Zeiten hinein verblieb daraus den Dichtern eine gewisse Convention des Wahnsinns: auf welche zum Beispiel Solon zurückgriff, als er die Athener zur Wiedereroberung von Salamis aufstachelte.) —»Wie macht man sich wahnsinnig, wenn man es nicht ist und nicht wagt, es zu scheinen?«diesem entsetzlichen Gedankengange haben fast alle bedeutenden Menschen der älteren Civilisation nachgehangen; eine geheime Lehre von Kunstgriffen und diätetischen Winken pflanzte sich darüber fort, nebst dem Gefühle der Unschuld, ja Heiligkeit eines solchen Nachsinnens und Vorhabens. Die Recepte, um bei den Indianern ein Medicinmann, bei den Christen des Mittelalters ein Heiliger, bei den Grönländern ein Angekok, bei den Brasilianern ein Paje zu werden, sind im Wesentlichen die selben: unsinniges Fasten, fortgesetzte geschlechtliche Enthaltung, in die Wüste gehen oder auf einen Berg oder eine Säule steigen, oder» sich auf eine bejahrte Weide setzen, die in einen See hinaussieht «und schlechterdings an Nichts denken, als Das, was eine Verzückung und geistige Unordnung mit sich bringen kann. Wer wagt es, einen Blick in die Wildniss bitterster und überflüssigster Seelennöthe zu thun, in welchen wahrscheinlich gerade die fruchtbarsten Menschen aller Zeiten geschmachtet haben! Jene Seufzer der Einsamen und Verstörten zu hören:»Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr Himmlischen! Wahnsinn, dass ich endlich an mich selber glaube! Gebt Delirien und Zuckungen, plötzliche Lichter und Finsternisse, schreckt mich mit Frost und Gluth, wie sie kein Sterblicher noch empfand, mit Getöse und umgehenden Gestalten, lasst mich heulen und winseln und wie ein Thier kriechen: nur dass ich bei mir selber Glauben finde! Der Zweifel frisst mich auf, ich habe das Gesetz getödtet, das Gesetz ängstigt mich wie ein Leichnam einen Lebendigen: wenn ich nicht mehr bin als das Gesetz, so bin ich der Verworfenste von Allen. Der neue Geist, der in mir ist, woher ist er, wenn er nicht von euch ist? Beweist es mir doch, dass ich euer bin; der Wahnsinn allein beweist es mir. «Und nur zu oft erreichte diese Inbrunst ihr Ziel zu gut: in jener Zeit, in welcher das Christenthum am reichsten seine Fruchtbarkeit an Heiligen und Wüsten-Einsiedlern bewies und sich dadurch selber zu beweisen vermeinte, gab es in Jerusalem grosse Irrenhäuser für verunglückte Heilige, für jene, welche ihr letztes Korn Salz daran gegeben hatten.

15.

Die ältesten Trostmittel. — Erste Stufe: der Mensch sieht in jedem übel befinden und Missgeschick Etwas, wofür er irgend jemand Anderes leiden lassen muss, — dabei wird er sich seiner noch vorhandenen Macht bewusst, und diess tröstet ihn. Zweite Stufe: der Mensch sieht in jedem Übelbefinden und Missgeschick eine Strafe, das heisst die Sühnung der Schuld und das Mittel, sich vom bösartigen Zauber eines wirklichen oder vermeintlichen Unrechtes loszumachen. Wenn er dieses Vortheils ansichtig wird, welchen das Unglück mit sich bringt, so glaubt er einen Anderen nicht mehr dafür leiden lassen zu müssen, — er sagt sich von dieser Art Befriedigung los, weil er nun eine andere hat.

16.

Erster Satz der Civilisation. — Bei rohen Völkern giebt es eine Gattung von Sitten, deren Absicht die Sitte überhaupt zu sein scheint: peinliche und im Grunde überflüssige Bestimmungen (wie zum Beispiel die unter den Kamtschadalen, niemals den Schnee von den Schuhen mit dem Messer abzuschaben, niemals eine Kohle mit dem Messer zu spiessen, niemals ein Eisen in's Feuer zu legen — und der Tod trifft Den, welcher in solchen Stücken zuwiderhandelt!), die aber die fortwährende Nähe der Sitte, den unausgesetzten Zwang, Sitte zu üben, fortwährend im Bewusstsein erhalten: zur Bekräftigung des grossen Satzes, mit dem die Civilisation beginnt: jede Sitte ist besser, als keine Sitte.

17.

Die gute und die böse Natur. — Erst haben die Menschen sich in die Natur hineingedichtet: sie sahen überall sich und Ihresgleichen, nämlich ihre böse und launenhafte Gesinnung, gleichsam versteckt unter Wolken, Gewittern, Raubthieren, Bäumen und Kräutern: damals erfanden sie die» böse Natur«. Dann kam einmal eine Zeit, da sie sich wieder aus der Natur hinausdichteten, die Zeit Rousseau's: man war einander so satt, dass man durchaus einen Weltwinkel haben wollte, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Quaclass="underline" man erfand die» gute Natur«.

18.

Die Moral des freiwilligen Leidens. — Welcher Genuss ist für Menschen im Kriegszustande jener kleinen, stets gefährdeten Gemeinde, wo die strengste Sittlichkeit waltet, der höchste? Also für kraftvolle, rachsüchtige, feindselige, tückische, argwöhnische, zum Furchtbarsten bereite, und durch Entbehrung und Sittlichkeit gehärtete Seelen? Der Genuss der Grausamkeit: so wie es auch zur Tugend einer solchen Seele in diesen Zuständen gerechnet wird, in der Grausamkeit erfinderisch und unersättlich zu sein. An dem Thun des Grausamen erquickt sich die Gemeinde und wirft einmal die Düsterkeit der beständigen Angst und Vorsicht von sich. Die Grausamkeit gehört zur ältesten Festfreude der Menschheit. Folglich denkt man sich auch die Götter erquickt und festlich gestimmt, wenn man ihnen den Anblick der Grausamkeit anbietet, — und so schleicht sich die Vorstellung in die Welt, dass das freiwillige Leiden, die selbsterwählte Marter einen guten Sinn und Werth habe. Allmählich formt die Sitte in der Gemeinde eine Praxis gemäss dieser Vorstellung: man wird bei allem ausschweifenden Wohlbefinden von nun an misstrauischer und bei allen schweren schmerzhaften Zuständen zuversichtlicher; man sagt sich: es mögen wohl die Götter ungnädig wegen des Glücks und gnädig wegen unseres Leidens auf uns sehen, — nicht etwa mitleidig! Denn das Mitleiden gilt als verächtlich und einer starken, furchtbaren Seele unwürdig; — aber gnädig, weil sie dadurch ergötzt und guter Dinge werden: denn der Grausame geniesst den höchsten Kitzel des Machtgefühls. So kommt in den Begriff des» sittlichsten Menschen «der Gemeinde die Tugend des häufigen Leidens, der Entbehrung, der harten Lebensweise, der grausamen Kasteiung, — nicht, um es wieder und wieder zu sagen, als Mittel der Zucht, der Selbstbeherrschung, des Verlangens nach individuellem Glück, — sondern als eine Tugend, welche der Gemeinde bei den bösen Göttern einen guten Geruch macht und wie ein beständiges Versöhnungsopfer auf dem Altare zu ihnen empordampft. Alle jene geistigen Führer der Völker, welche in dem trägen fruchtbaren Schlamm ihrer Sitten Etwas zu bewegen vermochten, haben ausser dem Wahnsinn auch die freiwillige Marter nöthig gehabt, um Glauben zu finden — und zumeist und zuerst, wie immer, den Glauben an sich selber! Je mehr gerade ihr Geist auf neuen Bahnen gieng und folglich von Gewissensbissen und Ängsten gequält wurde, um so grausamer wütheten sie gegen das eigene Fleisch, das eigene Gelüste und die eigene Gesundheit, — wie um der Gottheit einen Ersatz an Lust zu bieten, wenn sie vielleicht um der vernachlässigten und bekämpften Gebräuche und der neuen Ziele willen erbittert sein sollte. Glaube man nicht zu schnell, dass wir jetzt von einer solchen Logik des Gefühls uns völlig befreit hätten! Die heldenhaftesten Seelen mögen sich darüber mit sich befragen. Jeder kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des persönlich gestalteten Lebens ist von jeher mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden: nicht nur das Vorwärts-Schreiten, nein! vor Allem das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung hat ihre unzähligen Märtyrer nöthig gehabt, durch die langen pfadsuchenden und grundlegenden Jahrtausende hindurch, an welche man freilich nicht denkt, wenn man, wie gewohnt, von» Weltgeschichte«, von diesem lächerlich kleinen Ausschnitt des menschlichen Daseins redet; und selbst in dieser sogenannten Weltgeschichte, welche im Grunde ein Lärm um die letzten Neuigkeiten ist, giebt es kein eigentlich wichtigeres Thema, als die uralte Tragödie von den Märtyrern, die den Sumpf bewegen wollten. Nichts ist theurer erkauft, als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle der Freiheit, welches' jetzt unseren Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der» Sittlichkeit der Sitte«, zu empfinden, welche der» Weltgeschichte «vorausliegen, als die wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte, welche den Charakter der Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wissbegier als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere in Geltung war! — Ihr meint, es habe sich Alles diess geändert, und die Menschheit müsse somit ihren Charakter vertauscht haben? Oh, ihr Menschenkenner, lernt euch besser kennen!