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436.

Casuistisch. — Es giebt eine bitterböse Alternative, der nicht Jedermanns Tapferkeit und Charakter gewachsen ist: als Passagier eines Schiffes zu entdecken, dass Capitän und Steuermann gefährliche Fehler machen und dass man ihnen in nautischem Wissen überlegen sei, — und nun sich zu fragen: Wie! wenn du gegen sie eine Meuterei erregtest und sie Beide gefangen nehmen liessest? Verpflichtet dich deine Überlegenheit nicht dazu? Und sind sie nicht wiederum im Rechte, dich einzusperren, weil du den Gehorsam untergräbst? — Diess ist ein Gleichniss für höhere und bösere Lagen: wobei zuletzt immer noch die Frage bleibt, was uns unsere Überlegenheit, unseren Glauben an uns selber in solchen Fällen gewährleistet. Der Erfolg? Aber da muss man eben schon das Ding thun, welches alle Gefahren in sich trägt, — und nicht nur Gefahren für uns, sondern für das Schiff.

437.

Vorrechte. — Wer sich selber wirklich besitzt, das heisst wer sich endgültig erobert hat, betrachtet es fürderhin als sein eigenes Vorrecht, sich zu strafen, sich zu begnadigen, sich zu bemitleiden: er braucht diess Niemandem zuzugestehen, er kann es aber auch einem Andern mit Freiheit in die Hand geben, einem Freunde zum Beispiel, — aber er weiss, dass er damit ein Recht verleiht und dass man nur aus dem Besitze der Macht heraus Rechte verleihen kann.

438.

Mensch und Dinge. — Warum sieht der Mensch die Dinge nicht? Er steht selber im Wege: er verdeckt die Dinge.

439.

Merkmale des Glücks. — Das Gemeinsame aller Glücksempfindungen ist zweierlei: Fülle des Gefühls und Übermuth darin, sodass man wie ein Fisch sein Element um sich fühlt und in ihm springt. Gute Christen werden verstehen, was christliche Ausgelassenheit ist.

440.

Nicht entsagen! — Auf die Welt verzichten, ohne sie zu kennen, gleich einer Nonne, — das giebt eine unfruchtbare, vielleicht schwermüthige Einsamkeit. Diess hat Nichts gemeinsam mit der Einsamkeit der vita contemplativa des Denkers: wenn er sie wählt, will er keineswegs entsagen; vielmehr wäre es ihm Entsagung, Schwermuth, Untergang seiner selbst, in der vita practica ausharren zu müssen: auf diese verzichtet er, weil er sie kennt, weil er sich kennt. So springt er in sein Wasser, so gewinnt er seine Heiterkeit.

441.

Warum das Nächste uns immer ferner wird. — Je mehr wir an Alles, was war und sein wird, denken, um so bleicher wird uns Das, was gerade jetzt ist. Wenn wir mit Gestorbenen leben und in ihrem Sterben mitsterben, was sind uns dann noch die Nächsten«? Wir werden einsamer, — und zwar weil die ganze Fluth der Menschheit um uns rauscht. Die Gluth in uns, die allem Menschlichen gilt, nimmt immer zu — und darum blicken wir auf Das, was uns umgiebt, wie als ob es gleichgültiger und schattenhafter geworden wäre. — Aber unser kalter Blick beleidigt

442.

Die Regel. — »Die Regel ist mir immer interessanter, als die Ausnahme«— wer so empfindet, der ist in der Erkenntniss weit voraus und gehört zu den Eingeweihten.

443.

Zur Erziehung.- Allmählich ist mir das Licht über den allgemeinsten Mangel unserer Art Bildung und Erziehung aufgegangen: Niemand lernt, Niemand strebt darnach, Niemand lehrt — die Einsamkeit ertragen.

444.

Verwunderung über Widerstand. — Weil Etwas für uns durchsichtig geworden ist, meinen wir, es könne uns nunmehr keinen Widerstand leisten — und sind dann erstaunt, dass wir hindurchsehen und doch nicht hindurch können! Es ist diess die selbe Thorheit und das selbe Erstaunen, in welches die Fliege vor jedem Glasfenster geräth.

445.

Worin sich die Edelsten verrechnen. — Man giebt Jemandem endlich sein Bestes, sein Kleinod, — nun hat die Liebe Nichts mehr zu geben: aber Der, welcher es annimmt, hat daran gewiss nicht sein Bestes, und folglich fehlt ihm jene volle und letzte Erkenntlichkeit, auf welche der Gebende rechnet.

446.

Rangordnung. — Es giebt erstens oberflächliche Denker, zweitens tiefe Denker — solche, welche in die Tiefe einer Sache gehen — , drittens gründliche Denker, die einer Sache auf den Grund gehen, — was sehr viel mehr werth ist, als nur in ihre Tiefe hinabsteigen! — endlich solche, welche den Kopf in den Morast stecken: was doch weder ein Zeichen von Tiefe noch von Gründlichkeit sein sollte! Es sind die lieben Untergründlichen.

447.

Meister und Schüler. — Zur Humanität eines Meisters gehört, seine Schüler vor sich zu warnen.

448.

Die Wirklichkeit ehren. — Wie kann man dieser jubelnden Volksmenge ohne Thränen und ohne Zustimmung zusehen! Wir dachten vorher gering von dem Gegenstand ihres Jubels und würden noch immer so denken, wenn wir ihn nicht erlebt hätten! Wozu können uns also die Erlebnisse fortreissen! Was sind unsere Meinungen! Man muss, um sich nicht zu verlieren, um seine Vernunft nicht zu verlieren, vor den Erlebnissen flüchten! So floh Plato vor der Wirklichkeit und wollte die Dinge nur in den blassen Gedankenbildern anschauen; er war voller Empfindung und wußte, wie leicht die Wellen der Empfindung über seiner Vernunft zusammenschlugen. — So hätte sich demnach der Weise zu sagen:»ich will die Wirklichkeit ehren, aber ihr den Rücken dabei zuwenden, weil ich sie kenne und fürchte«? — er müsste es machen wie africanische Völkerschaften vor ihrem Fürsten: welche ihm nur rückwärts nahen und ihre Verehrung zugleich mit ihrer Angst zu zeigen wissen?

449.

Wo sind die Bedürftigen des Geistes? — Ah! Wie es mich anwidert, einem Anderen die eigenen Gedanken aufzudrängen! Wie ich mich jeder Stimmung und heimlichen Umkehr in mir freue, bei der die Gedanken Anderer gegen die eigenen zu Rechte kommen! Ab und zu giebt es aber ein noch höheres Fest, dann, wenn es einmal erlaubt ist, sein geistiges Haus und Habe wegzuschenken, dem Beichtvater gleich, der im Winkel sitzt, begierig, dass ein Bedürftiger komme und von der Noth seiner Gedanken erzähle, damit er ihm wieder einmal Hand und Herz voll und die beunruhigte Seele leicht mache! Nicht nur, dass er keinen Ruhm davon haben wilclass="underline" er möchte auch der Dankbarkeit aus dem Wege laufen, denn sie ist zudringlich und ohne Scheu vor Einsamkeit und Stillschweigen. Aber namenlos oder leicht verspottet leben, zu niedrig, um Neid oder Feindschaft zu erwecken, mit einem Kopf ohne Fieber, einer Handvoll Wissen und einem Beutel voll Erfahrungen ausgerüstet, gleichsam ein Armenarzt des Geistes sein und Dem und Jenem, dessen Kopf durch Meinungen verstört ist, helfen, ohne dass er recht merkt, wer ihm geholfen hat! Nicht vor ihm Recht haben und einen Sieg feiern wollen, sondern so zu ihm sprechen, dass er das Rechte nach einem kleinen unvermerkten Fingerzeig oder Widerspruch sich selber sagt und stolz darüber fortgeht! Wie eine geringe Herberge sein, die Niemanden zurückstösst, der bedürftig ist, die aber hinterher vergessen oder verlacht wird! Nichts voraus haben, weder die bessere Nahrung, noch die reinere Luft, noch den freudigeren Geist, — sondern abgeben, zurückgeben, mittheilen, ärmer werden! Niedrig sein können, um Vielen zugänglich und für Niemanden demüthigend zu sein! Viel Unrecht auf sich liegen haben und durch die Wurmgänge aller Art Irrthümer gekrochen sein, um zu vielen verborgenen Seelen auf ihren geheimen Wegen gelangen zu können! Immer in einer Art Liebe und immer in einer Art Selbstsucht und Selbstgeniessens! Im Besitz einer Herrschaft und zugleich verborgen und entsagend sein! Beständig in der Sonne und Milde der Anmuth liegen und doch die Aufstiege zum Erhabenen in der Nähe wissen! — Das wäre ein Leben! Das wäre ein Grund, lange zu leben!

450.

Die Lockung der Erkenntniss. — Auf leidenschaftliche Geister wirkt der Blick durch das Thor der Wissenschaft wie der Zauber aller Zauber; und vermuthlich werden sie dabei zu Phantasten und im günstigen Falle zu Dichtern: so heftig ist ihre Begierde nach dem Glück der Erkennenden. Geht es euch nicht durch alle Sinne, — dieser Ton der süssen Lockung, mit dem die Wissenschaft ihre frohe Botschaft verkündet hat, in hundert Worten und im hundert-ersten und schönsten:»Lass den Wahn schwinden! Dann ist auch das Wehe mir! verschwunden; und mit dem Wehe mir! ist auch das Wehe dahin.«(Marc Aurel.)

451.

Wem ein Hofnarr nöthig ist. — Die sehr Schönen, die sehr Guten, die sehr Mächtigen erfahren fast nie über irgend Etwas die volle und gemeine Wahrheit, — denn in ihrer Gegenwart lügt man unwillkürlich ein Wenig, weil man ihre Wirkungen empfindet und diesen Wirkungen gemäss Das, was man an Wahrheit mittheilen könnte, in der Form einer Anpassung vorbringt (also Farben und Grade des Thatsächlichen fälscht, Einzelheiten weglässt oder hinzuthut und Das, was sich gar nicht anpassen lassen will, hinter seinen Lippen zurückbehält). Wollen Menschen der Art trotz Alledem und durchaus die Wahrheit hören, so müssen sie sich ihren Hofnarren halten, — ein Wesen mit dem Vorrechte des Verrückten, sich nicht anpassen zu können.

452.

Ungeduld. — Es giebt einen Grad von Ungeduld bei Menschen der That und des Gedankens, welcher sie, bei einem Misserfolge, sofort in das entgegengesetzte Reich übertreten, sich dort passioniren und in Unternehmungen einlassen heisst, — bis auch von hier wieder ein Zögern des Erfolges sie vertreibt: so irren sie, abenteuernd und heftig, durch die Praxis vieler Reiche und Naturen und können zuletzt, durch die Allkenntniss von Menschen und Dingen, welche ihre ungeheuere Wanderung und Übung in ihnen zurücklässt, und bei einiger Milderung ihres Triebes, — zu mächtigen Praktikern werden. So wird ein Fehler des Charakters zur Schule des Genie's.