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453.

Moralisches Interregnum. — Wer wäre jetzt schon im Stande, Das zu beschreiben, was einmal die moralischen Gefühle und Urtheile ablösen wird! — so sicher man auch einzusehen vermag, dass diese in allen Fundamenten irrthümlich angelegt sind und ihr Gebäude der Reparatur unfähig ist: ihre Verbindlichkeit muss von Tag zu Tage immer abnehmen, sofern nur die Verbindlichkeit der Vernunft nicht abnimmt! Die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufbauen, — zu dieser Aufgabe sind unsere Wissenschaften der Physiologie, Medicin, Gesellschafts- und Einsamkeitslehre ihrer selbst noch nicht sicher genug: und nur aus ihnen kann man die Grundsteine für neue Ideale (wenn auch nicht die neuen Ideale selber) entnehmen. So leben wir denn ein vorläufiges Dasein oder ein nachläufiges Dasein, je nach Geschmack und Begabung, und thun am besten, in diesem Interregnum, so sehr, als nur möglich, unsere eigenen reges zu sein und kleine Versuchsstaaten zu gründen. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!

454.

Zwischenrede. — Ein Buch, wie dieses, ist nicht zum Durchlesen und Vorlesen, sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf Reisen, man muss den Kopf hinein- und immer wieder hinausstecken können und nichts Gewohntes um sich finden.

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Die erste Natur. — So wie man uns jetzt erzieht, bekommen wir zuerst eine zweite Natur: und wir haben sie, wenn die Welt uns reif, mündig, brauchbar nennt. Einige Wenige sind Schlangen genug, um diese Haut eines Tages abzustossen: dann, wenn unter ihrer Hülle ihre erste Natur reif geworden ist. Bei den Meisten vertrocknet der Keim davon.

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Eine werdende Tugend. — Solche Behauptungen und Verheissungen, wie die der antiken Philosophen von der Einheit der Tugend und der Glückseligkeit, oder wie die des Christenthums» Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch solches Alles zufallen!«— sind nie mit voller Redlichkeit, und doch immer ohne schlechtes Gewissen, gemacht worden: man stellte solche Sätze, deren Wahrheit man sehr wünschte, keck als die Wahrheit gegen den Augenschein auf, und empfand dabei nicht einen religiösen oder moralischen Gewissensbiss — denn man war in honorem majorem der Tugend oder Gottes über die Wirklichkeit hinausgegangen und ohne alle eigennützigen Absichten! Auf dieser Stufe der Wahrhaftigkeit stehen noch viele brave Menschen: wenn sie sich selbstlos fühlen, scheint es ihnen erlaubt, es mit der Wahrheit leichter Zunehmen. Man beachte doch, dass weder unter den sokratischen, noch unter den christlichen Tugenden die Redlichkeit vorkommt: diese ist eine der jüngsten Tugenden, noch wenig gereift, noch oft verwechselt und verkannt, ihrer selber noch kaum bewusst, — etwas Werdendes, das wir fördern oder hemmen können, je nachdem unser Sinn steht.

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Letzte Schweigsamkeit. — Einzelnen geht es sowie Schatzgräbern: sie entdecken zufällig die verborgen gehaltenen Dinge einer fremden Seele und haben daran ein Wissen, welches oft schwer zu tragen ist! Man kann unter Umständen Lebende und Todte bis zu einem Grade gut kennen und innerlich ausfindig machen, dass es Einem peinlich wird, von ihnen gegen Andere zu reden: man fürchtet mit jedem Worte indiscret zu sein. — Ich könnte mir ein plötzliches Stummwerden des weisesten Historikers denken.

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Das große Loos. — Das ist etwas sehr Seltenes, aber ein Ding zum Entzücken: der Mensch nämlich mit schön gestaltetem Intellecte, welcher den Charakter, die Neigungen und auch die Erlebnisse hat, die zu einem solchen Intellecte gehören.

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Die Grossmüthigkeit des Denkers. — Rousseau und Schopenhauer — Beide waren stolz genug, ihrem Dasein den Wahlspruch aufzuschreiben: vitam impendere vero. Und Beide wiederum — was mögen sie in ihrem Stolze gelitten haben, dass es ihnen nicht gelingen wollte, verum impendere vitae! — Verum, wie es jeder von ihnen verstand — , dass ihr Leben neben ihrer Erkenntniss nebenher lief wie ein launischer Bass, der zur Melodie nicht stimmen will! — Aber es stünde schlimm um die Erkenntniss, wenn sie jedem Denker nur in dem Maasse zugemessen würde, als sie ihm gerade auf den Leib passt! Und es stünde schlimm um die Denker, wenn ihre Eitelkeit so gross wäre, dass sie diess allein ertrügen! Gerade darin glänzt die schönste Tugend des grossen Denkers: die Grossmüthigkeit, dass er als Erkennender sich selber und sein Leben unverzagt, oftmals beschämt, oftmals mit erhabenem Spotte und lächelnd — zum Opfer bringt.

460.

Seine gefährlichen Stunden ausnützen. — Man lernt einen Menschen und einen Zustand ganz anders kennen, wenn Gefahr um Hab und Gut, Ehre, Leben und Tod, für uns und unsere Liebsten, in jeder ihrer Bewegungen liegt: wie zum Beispiel Tiberius tiefer über das Innere des Kaisers Augustus und seines Regimentes nachgedacht und mehr davon gewusst haben muss, als dem weisesten Historiker es auch nur möglich wäre. Nun leben wir Alle vergleichungsweise in einer viel zu grossen Sicherheit, als dass wir gute Menschenkenner werden könnten: der Eine erkennt aus Liebhaberei, der Andere aus Langerweile, der Dritte aus Gewohnheit; niemals heisst es:»erkenne, oder geh' zu Grunde!«Solange sich uns die Wahrheiten nicht mit Messern in's Fleisch schneiden, haben wir in uns einen geheimen Vorbehalt der Geringschätzung gegen sie: sie scheinen uns immer noch den» gefiederten Träumen «zu ähnlich, wie als ob wir sie haben und auch nicht haben könnten, — als ob Etwas an ihnen in unserem Belieben stünde, als ob wir auch von diesen unseren Wahrheiten erwachen könnten!

461.

Hic Rhodus, hic salta. — Unsere Musik, die sich in Alles verwandeln kann und verwandeln muss, weil sie, wie der Dämon des Meeres, an sich keinen Charakter hat: diese Musik ist ehemals dem christlichen Gelehrten nachgegangen und hat dessen Ideal in Klänge zu übersetzen vermocht: warum sollte sie nicht endlich auch jenen helleren, freudigeren und allgemeinen Klang finden, der dein idealen Denker entspricht? — eine Musik, die erst in den weiten schwebenden Wölbungen seiner Seele sich heimisch auf und nieder zu wiegen vermöchte? — Unsere Musik war bisher so gross, so gut: bei ihr war kein Ding unmöglich! So zeige sie denn, dass es möglich ist, diese Drei: Erhabenheit, tiefes und warmes Licht und die Wonne der höchsten Folgerichtigkeit auf Einmal zu empfinden!

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Langsame Curen. — Die chronischen Krankheiten der Seele entstehen wie die des Leibes, sehr selten nur durch einmalige grobe Vergehungen gegen die Vernunft von Leib und Seele, sondern gewöhnlich durch zahllose unbemerkte kleine Nachlässigkeiten. — Wer zum Beispiel Tag für Tag um einen noch so unbedeutenden Grad zu schwach athmet und zu wenig Luft in die Lunge nimmt, sodass sie als Ganzes nicht hinreichend angestrengt und geübt wird, trägt endlich ein chronisches Lungenleiden davon: in einem solchen Falle kann die Heilung auf keinem anderen Wege erfolgen, als dass wiederum zahllose kleine Übungen des Gegentheils vorgenommen und unvermerkt andere Gewohnheiten gepflegt werden, zum Beispiel, wenn man sich zur Regel macht, alle Viertelstunden des Tages Einmal stark und tief aufzuathmen (womöglich platt am Boden liegend; eine Uhr, welche die Viertelstunden schlägt, muss dabei zur Lebensgefährtin gewählt werden). Langsam und kleinlich sind alle diese Curen; auch wer seine Seele heilen will, soll über die Veränderung der kleinsten Gewohnheiten nachdenken. Mancher sagt zehnmal des Tages ein böses kaltes Wort an seine Umgebung und denkt sich Wenig dabei, namentlich nicht, dass nach einigen Jahren er ein Gesetz der Gewohnheit über sich geschaffen hat, welches ihn nunmehr nöthigt, zehnmal jedes Tages seine Umgebung zu verstimmen. Aber er kann sich auch daran gewöhnen, ihr zehnmal wohlzuthun! —

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Am siebenten Tage. — »Ihr preist Jenes als mein Schaffen? Ich habe nur von mir hinweggethan, was mir lästig war! Meine Seele ist über der Eitelkeit der Schaffenden erhaben. — Ihr preist Diess als meine Resignation? Ich habe nur von mir hinweggethan, was mir lästig war! Meine Seele ist über der Eitelkeit der Resignirten erhaben.»

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Scham des Schenkenden. — Es ist so ungrossmüthig, immer den Gebenden und Schenkenden zu machen und dabei sein Gesicht zu zeigen! Aber geben und schenken und seinen Namen und seine Gunst verhehlen! Oder keinen Namen haben, wie die Natur, in der uns eben Diess mehr als Alles erquickt, hier endlich einmal nicht mehr einem Schenkenden und Gebenden, nicht mehr einem» gnädigen Gesichte «zu begegnen! — Freilich, ihr verscherzt euch auch diese Erquickung, denn ihr habt einen Gott in diese Natur gesteckt — und nun ist wieder Alles unfrei und beklommen! Wie? Niemals mit sich allein sein dürfen? Nie mehr unbewacht, unbehütet, ungegängelt, unbeschenkt? Wenn immer ein Anderer um uns ist, so ist das Beste von Muth und Güte in der Welt unmöglich gemacht. Möchte man nicht gegen diese Zudringlichkeit des Himmels, gegen diesen unvermeidlichen übernatürlichen Nachbar ganz des Teufels werden! — Aber es ist nicht nöthig, es war ja nur ein Traum! Wachen wir auf!

465.

Bei einer Begegnung. — A: Wohin blickst du? Du stehst so lange schon still hier. — B: Immer das Alte und das Neue! Die Hülfsbedürftigkeit einer Sache reisst mich so weit und so tief in sie hinein, dass ich endlich ihr dabei auf den Grund komme und einsehe, dass sie nicht gar so viel werth ist. Am Ende aller solcher Erfahrungen steht eine Art Trauer und Starrheit. Diess erlebe ich alle Tage im Kleinen zu dreien Malen.

466.

Verlust im Ruhme. — Welcher Vorzug, als ein Unbekannter zu den Menschen reden zu dürfen!» Die Hälfte unserer Tugend «nehmen uns die Götter, wenn sie uns das Incognito nehmen und uns berühmt machen.

467.

Zweimal Geduld! — »Damit machst du vielen Menschen Schmerz.«— Ich weiss es; und weiss auch diess, dass ich doppelt dafür leiden muss, einmal durch Mitleid an ihrem Leide und dann durch die Rache, die sie an mir nehmen werden. Aber trotzdem ist es nicht weniger nöthig, so zu thun, wie ich thue.

468.

Das Reich der Schönheit ist grösser. — Wie wir in der Natur herumgehen, listig und froh, um die Allem eigene Schönheit zu entdecken und gleichsam auf der That zu ertappen, wie wir bald bei Sonnenschein, bald bei gewitterhaftem Himmel, bald in der bleichsten Dämmerung einen Versuch machen, jenes Stück Küste mit Felsen, Meerbuchten, Ölbäumen und Pinien so zu sehen, wie es zu seiner Vollkommenheit und Meisterschaft kommt: so sollten wir auch unter den Menschen umhergehen, als ihre Entdecker und Ausspäher, Gutes und Böses ihnen erweisend, damit die ihnen eigene Schönheit sich offenbare, welche bei Diesem sonnenhaft, bei Jenem gewitterhaft und bei einem Dritten erst in der halben Nacht und bei Regenhimmel sich entfaltet. Ist es denn verboten, den bösen Menschen als eine wilde Landschaft zu geniessen, die ihre eigenen kühnen Linien und Lichtwirkungen hat, wenn der selbe Mensch, solange er sich gut und gesetzlich stellt, unserm Auge wie eine Verzeichnung und Carricatur erscheint und als ein Flecken in der Natur uns Pein macht? — Ja, es ist verboten: bisher war es nur erlaubt, im Moralisch-Guten nach Schönheit zu suchen, — Grund genug, dass man so Wenig gefunden und sich so viel nach imaginären Schönheiten ohne Knochen hat umthun müssen! — So gewiss es hundert Arten von Glück bei den Bösen giebt, von denen die Tugendhaften Nichts ahnen, so giebt es an ihnen auch hundert Arten von Schönheit: und viele sind noch nicht entdeckt.