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520.

Die ewige Todtenfeier. — Es könnte Jemand über die Geschichte weg eine fortgesetzte Grabrede zu hören glauben: man begrub und begräbt immer sein Liebstes, Gedanken und Hoffnungen, und erhielt und erhält Stolz dafür, gloria mundi, das heisst, den Pomp der Leichenrede. Damit soll Alles gut gemacht werden! Und der Leichenredner ist immer noch der grösste öffentliche Wohlthäter!

521.

Ausnahme-Eitelkeit. — Jener hat Eine hohe Eigenschaft, zu seinem Troste: über den Rest seines Wesens — es ist fast Alles Rest! — gleitet sein Blick verächtlich hin. Aber er erholt sich von sich selber, wenn er wie zu seinem Heiligthume geht; schon der Weg dahin dünkt ihm wie ein Aufsteigen auf breiten sanften Stufen: — und ihr Grausamen nennt ihn desshalb eitel!

522.

Die Weisheit ohne Ohren. — Täglich zu hören, was über uns gesprochen wird, oder gar zu ergrübeln, was über uns gedacht wird, — das vernichtet den stärksten Mann. Darum lassen uns ja die Anderen leben, um täglich über uns Recht zu behalten! Sie würden uns ja nicht aushalten, wenn wir gegen sie Recht hätten oder gar haben wollten! Kurz, bringen wir der allgemeinen Verträglichkeit das Opfer, horchen wir nicht hin, wenn über uns geredet, gelobt, getadelt, gewünscht, gehofft wird, denken wir auch nicht einmal daran!

523.

Hinterfragen. — Bei Allem, was ein Mensch sichtbar werden lässt, kann man fragen: was soll es verbergen? Wovon soll es den Blick ablenken? Welches Vorurtheil soll es erregen? Und dann noch: bis wie weit geht die Feinheit dieser Verstellung? Und worin vergreift er sich dabei?

524.

Eifersucht der Einsamen. — Zwischen geselligen und einsamen Naturen ist dieser Unterschied (vorausgesetzt, dass beide Geist haben!): die ersteren werden zufrieden oder beinahe zufrieden mit einer Sache, welche sie auch sei, von dem Augenblicke an, da sie eine mittheilbare glückliche Wendung über dieselbe in ihrem Geiste gefunden haben, — das versöhnt sie mit dem Teufel selber! Die Einsamen aber haben ihr stilles Entzücken, ihre stille Qual an einer Sache, sie hassen die geistreiche glänzende Ausstellung ihrer innersten Probleme, wie sie die allzugewählte Tracht an ihrer Geliebten hassen: sie sehen dann melancholisch auf sie hin, wie als ob der Verdacht ihnen aufstiege, dass sie Anderen gefallen wolle! Diess ist die Eifersucht aller einsamen Denker und leidenschaftlichen Träumer auf den esprit.

525.

Wirkung des Lobes. — Die Einen werden durch grosses Lob schamhaft, die Anderen frech.

526.

Nicht Symbol sein wollen. — Ich beklage die Fürsten: es ist ihnen nicht erlaubt, sich zeitweilig im Verkehre zu annulliren und so lernen sie die Menschen nur aus einer unbequemen Lage und Verstellung kennen; der fortwährende Zwang, Etwas zu bedeuten, macht sie zuletzt thatsächlich zu feierlichen Nullen. — Und so geht es Allen, welche ihre Pflicht darin sehen, Symbole zu sein.

527.

Die Versteckten. — Habt ihr jene Menschen noch nicht gefunden, welche auch ihr entzücktes Herz festhalten und pressen und welche lieber stumm werden, als dass sie die Scham des Maasses verlören? — Und jene Unbequemen und oft so Gutartigen fandet ihr auch noch nicht, welche nicht erkannt werden wollen, und die ihre Fusstapfen im Sande immer wieder verwischen, ja die Betrüger sind, vor Anderen und vor sich, um verborgen zu bleiben?

528.

Seltnere Enthaltsamkeit. — Es ist oft kein geringes Zeichen von Humanität, einen Andern nicht beurtheilen zu wollen und sich zu weigern, über ihn zu denken.

529.

Wodurch Menschen und Völker Glanz bekommen. — Wie viele ächte individuelle Handlungen werden desshalb unterlassen, weil man, bevor man sie thut, einsieht oder argwöhnt, dass sie missverstanden werden! — also gerade jene Handlungen, welche überhaupt Werth haben, im Guten und Schlimmen. Je höher also eine Zeit, ein Volk die Individuen achtet und je mehr man ihnen das Recht und Übergewicht zugesteht, um so mehr Handlungen jener Art werden sich an's Licht wagen — und so breitet sich zuletzt ein Schimmer von Ehrlichkeit, von Ächtheit im Guten und Schlimmen über ganzen Zeiten und Völkern aus, dass sie, wie zum Beispiel die Griechen, nach ihrem Untergange noch Jahrtausende lang gleich manchen Sternen fortleuchten.

530.

Umschweife des Denkers. — Bei Manchen ist der Gang ihres gesammten Denkens streng und unerbittlich kühn, ja, mitunter grausam gegen sich, aber im Einzelnen sind sie milde und beugsam; sie drehen sich zehnmal um eine Sache, mit wohlwollendem Zögern, aber endlich gehen sie ihren strengen Weg weiter. Es sind Ströme mit vielen Krümmungen und abgeschiedenen Einsiedeleien; es giebt Stellen in ihrem Laufe, wo der Strom mit sich selber Versteckens spielt und sich eine kurze Idylle macht, mit Inseln, Bäumen, Grotten und Wasserfällen: und dann zieht er wieder weiter, an Felsen vorüber und sich durch das härteste Gestein zwingend.

531.

Die Kunst anders empfinden. — Von der Zeit an, wo man einsiedlerisch-gesellig, verzehrend und verzehrt, mit tiefen fruchtbaren Gedanken, und nur noch mit ihnen, lebt, will man von der Kunst entweder überhaupt Nichts mehr oder man will etwas ganz Anderes, als früher, — das heisst, man ändert seinen Geschmack. Denn früher wollte man durch die Thür der Kunst gerade in das Element auf einen Augenblick hineintauchen, in welchem man nun dauernd lebt; damals träumte man sich damit in das Entzücken eines Besitzes, und nun besitzt man. Ja, vorübergehend wegwerfen, was man jetzt hat, und sich arm, als Kind, Bettler und Narr träumen — kann uns nunmehr gelegentlich entzücken.

532.

«Die Liebe macht gleich.«— Die Liebe will dem Andern, dem sie sich weiht, jedes Gefühl von Fremdsein ersparen, sie ist folglich voller Verstellung und Anähnlichung, sie betrügt fortwährend und schauspielert eine Gleichheit, die es in Wahrheit nicht giebt. Und diess geschieht so instinctiv, dass liebende Frauen diese Verstellung und beständige zarteste Betrügerei ableugnen und kühn behaupten, die Liebe mache gleich (das heisst sie thue ein Wunder!). — Dieser Vorgang ist einfach, wenn die eine Person sich lieben lässt und es nicht nöthig findet, sich zu verstellen, vielmehr diess der anderen, liebenden überlässt: aber nichts Verwickelteres und Undurchdringbareres von Schauspielerei giebt es, als wenn beide in der vollen Leidenschaft für einander sind und folglich Jeder sich aufgiebt und sich dem Anderen gleichstellen und ihm allein gleichmachen wilclass="underline" und keiner zuletzt mehr weiss, was er nachahmen, wozu er sich verstellen, als was er sich geben soll. Die schöne Tollheit dieses Schauspiels ist zu gut für diese Welt und zu fein für menschliche Augen.

533.

Wir Anfänger! — Was erräth und sieht ein Schauspieler Alles, wenn er einen anderen spielen sieht! Er weiss es, wenn ein Muskel an einer Gebärde den Dienst versagt, er sondert jene kleinen, gemachten Dinge ab, welche einzeln und kaltblütig vor dem Spiegel eingeübt sind und nicht in's Ganze hineinwachsen wollen, er fühlt es, wenn der Spieler von seiner eigenen Erfindung auf der Scene überrascht wird und wenn er sie in der Überraschung verdirbt. — Wie anders wieder sieht ein Maler auf einen vor ihm sich bewegenden Menschen! Er sieht namentlich sofort Vieles hinzu, um das Gegenwärtige zu vervollständigen und zur ganzen Wirkung zu bringen; er probirt im Geiste mehrere Beleuchtungen des selben Gegenstandes, er dividirt das Ganze der Wirkung durch einen Gegensatz, den er hinzustellt. — Hätten wir doch erst das Auge dieses Schauspielers und dieses Malers für das Reich der menschlichen Seelen!

534.

Die kleinen Dosen. — Soll eine Veränderung möglichst in die Tiefe gehen, so gebe man das Mittel in den kleinsten Dosen, aber unablässig auf weite Zeitstrecken hin! Was ist Grosses auf Einmal zu schaffen! So wollen wir uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöhnt sind, mit einer neuen Werthschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeiten zu vertauschen, — nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben — bis wir, sehr spät vermuthlich, inne werden, dass die neue Werthschätzung in uns zur überwiegenden Gewalt geworden ist und dass die kleinen Dosen derselben, an die wir uns von jetzt ab gewöhnen müssen, eine neue Natur in uns gelegt haben. — Man fängt ja an, auch diess einzusehen, dass der letzte Versuch einer grossen Veränderung der Werthschätzungen, und zwar in Bezug auf die politischen Dinge, — die» grosse Revolution«— nicht mehr war, als eine pathetische und blutige Quacksalberei, welche durch plötzliche Krisen dem gläubigen Europa die Hoffnung auf plötzliche Genesung beizubringen wusste — und damit alle politischen Kranken bis auf diesen Augenblick ungeduldig und gefährlich gemacht hat. —

535.

Die Wahrheit hat die Macht nöthig. — An sich ist die Wahrheit durchaus keine Macht, — was auch immer des Gegentheils der schönthuerische Aufklärer zu sagen gewohnt sein mag! — Sie muss vielmehr die Macht auf ihre Seite ziehen oder sich auf die Seite der Macht schlagen, sonst wird sie immer wieder zu Grunde gehen! Diess ist nun genug und übergenug bewiesen!

536.

Die Daumenschraube. — Es empört endlich, immer und immer wieder zu sehen, wie grausam Jeder seine paar Privat-Tugenden den Anderen, die sie zufällig nicht haben, aufrechnet, wie er sie damit zwickt und plagt. Und so wollen wir es auch mit dem» Sinn für Redlichkeit «menschlich treiben, so gewiss man an ihm eine Daumenschraube besitzt, um allen diesen grossartigen Selbstlingen, die auch jetzt noch ihren Glauben der ganzen Welt aufdringen wollen, bis auf's Blut wehe zu thun: — wir haben sie an uns selber erprobt!

537.

Meisterschaft. — Die Meisterschaft ist dann erreicht, wenn man sich in der Ausführung weder vergreift, noch zögert.

538.

Moralischer Irrsinn des Genie's. — Bei einer gewissen Gattung grosser Geister giebt es ein peinliches, zum Theil fürchterliches Schauspiel zu beobachten: ihre fruchtbarsten Augenblicke, ihre Flüge aufwärts und in die Ferne scheinen ihrer gesammten Constitution nicht gemäss zu sein und irgendwie über deren Kraft hinauszugehen, sodass jedes Mal ein Fehler und auf die Dauer die Fehlerhaftigkeit der Maschine zurückbleibt, als welche sich aber wiederum, bei so hochgeistigen Naturen wie den hier gemeinten, in allerlei moralischen und intellectuellen Symptomen viel regelmässiger als in körperlichen Nothzuständen zu erkennen giebt. So könnte das unbegreiflich Ängstliche, Eitle, Gehässige, Neidische, Eingeschnürte und Einschnürende, welches plötzlich aus ihnen hervorspringt, jenes ganze Allzupersönliche und Unfreie in Naturen, wie denen Rousseau's und Schopenhauer's, recht wohl die Folge eines periodischen Herzleidens sein: diess aber die Folge eines Nervenleidens und dieses endlich die Folge — . So lange der Genius in uns wohnt, sind wir beherzt, ja wie toll, und achten nicht des Lebens, der Gesundheit und der Ehre; wir durchfliegen den Tag freier, als ein Adler, und sind sicherer im Dunkel, als die Eule. Aber auf einmal verlässt er uns, und ebenso plötzlich fällt tiefe Furchtsamkeit auf uns: wir verstehen uns selber nicht mehr, wir leiden an allem Erlebten, an allem Nichterlebten, wir sind wie unter nackten Felsen, vor einem Sturme, und zugleich wie erbärmliche Kindsseelen, die sich vor einem Geraschel und einem Schatten fürchten. — Drei Viertel alles Bösen, das in der Welt gethan wird, geschieht aus Furchtsamkeit: und diese ist vor Allem ein physiologischer Vorgang! —