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51.

So wie wir noch sind! — »Seien wir nachsichtig gegen die grossen Einäugigen!«— hat Stuart Mill gesagt: als ob Nachsicht zu erbitten nöthig wäre, wo man gewöhnt ist, ihnen Glauben und beinahe Anbetung zu zollen! Ich sage: seien wir nachsichtig gegen die Zweiäugigen, grosse und kleine, — denn höher, als bis zur Nachsicht werden wir, so wie wir sind, es doch nicht bringen!

52.

Wo sind die neuen Arzte der Seele? — Die Mittel des Trostes sind es gewesen, durch welche das Leben erst jenen leidvollen Grundcharakter, an den man jetzt glaubt, bekommen hat; die grösste Krankheit der Menschen ist aus der Bekämpfung ihrer Krankheiten entstanden, und die anscheinenden Heilmittel haben auf die Dauer Schlimmeres erzeugt, als Das war, was mit ihnen beseitigt werden sollte. Aus Unkenntniss hielt man die augenblicklich wirkenden, betäubenden und berauschenden Mittel, die sogenannten Tröstungen, für die eigentlichen Heilkräfte, ja, man merkte es nicht einmal, dass man diese sofortigen Erleichterungen oft mit der allgemeinen und tiefen Verschlechterung des Leidens bezahlte, dass die Kranken an der Nachwirkung des Rausches, später an der Entbehrung des Rausches und noch später an einem drückenden Gesammtgefühl von Unruhe, Nervenzittern und Ungesundheit zu leiden hatten. Wenn man bis zu einem gewissen Grade erkrankt war, genas man nicht mehr, — dafür sorgten die Arzte der Seele, die allgemein beglaubigten und angebeteten. — Man sagt Schopenhauern nach, und mit Recht, dass er die Leiden der Menschheit endlich einmal wieder ernst genommen habe: wo ist Der, welcher endlich auch einmal die Gegenmittel gegen diese Leiden ernst nimmt und die unerhörte Quacksalberei an den Pranger stellt, mit der, unter den herrlichsten Namen, bis jetzt die Menschheit ihre Seelenkrankheiten zu behandeln gewöhnt ist?

53.

Missbrauch der Gewissenhaften. — Die Gewissenhaften und nicht die Gewissenlosen waren es, die so furchtbar unter dem Druck von Busspredigten und Höllenängsten zu leiden hatten, zumal wenn sie zugleich Menschen der Phantasie waren. Also ist gerade Denen das Leben am meisten verdüstert worden, welche Heiterkeit und anmuthige Bilder nöthig hatten — nicht nur zu ihrer Erholung und Genesung von sich selber, sondern damit die Menschheit sich ihrer erfreuen könne und von ihrer Schönheit einen Strahl in sich hinüber nehme. Oh, wie viel überflüssige Grausamkeit und Thierquälerei ist von jenen Religionen ausgegangen, welche die Sünde erfunden haben! Und von den Menschen, welche durch sie den höchsten Genuss ihrer Macht haben wollten!

54.

Die Gedanken über die Krankheit! — Die Phantasie des Kranken beruhigen, dass er wenigstens nicht, wie bisher, mehr von seinen Gedanken über seine Krankheit zu leiden hat, als von der Krankheit selber, — ich denke, das ist Etwas! Und es ist nicht Wenig! Versteht ihr nun unsere Aufgabe?

55.

Die» Wege«. — Die angeblichen» kürzeren Wege «haben die Menschheit immer in grosse Gefahr gebracht; sie verlässt immer bei der frohen Botschaft, dass ein solcher kürzerer Weg gefunden sei, ihren Weg — und verliert den Weg.

56.

Der Apostat des freien Geistes. — Wer hat denn gegen fromme glaubensstarke Menschen eine Abneigung? Umgekehrt, sehen wir sie nicht mit stiller Hochachtung an und freuen uns ihrer, mit einem gründlichen Bedauern, dass diese trefflichen Menschen nicht mit uns zusammenempfinden? Aber woher stammt jener tiefe plötzliche Widerwille ohne Gründe gegen Den, der einmal alle Freiheit des Geistes hatte und am Ende» gläubig «wurde? Denken wir daran, so ist es uns, als hätten wir einen ekelhaften Anblick gehabt, den wir schnell von der Seele wegwischen müssten! Würden wir nicht dem verehrtesten Menschen den Rücken drehen, wenn er in dieser Beziehung uns verdächtig würde? Und zwar nicht aus einer moralischen Verurtheilung, sondern aus einem plötzlichen Ekel und Grausen! Woher diese Schärfe der Empfindung! Vielleicht wird uns Dieser oder Jener zu verstehen geben, dass wir im Grunde unser selber nicht ganz sicher seien? Dass wir bei Zeiten Dornenhecken der spitzesten Verachtung um uns pflanzten, damit wir im entscheidenden Augenblicke, wo das Alter uns schwach und vergesslich mache, über unsere eigene Verachtung nicht hinwegkönnten? — Aufrichtig: diese Vermuthung greift fehl, und wer sie macht, weiss Nichts von dem, was den freien Geist bewegt und bestimmt: wie wenig erscheint ihm das Verändern seiner Meinungen an sich als verächtlich! Wie verehrt er umgekehrt in der Fähigkeit, seine Meinungen zu wechseln, eine seltene und hohe Auszeichnung, namentlich wenn sie bis in's Alter hineinreicht! Und selbst zu den verbotenen Früchten des spernere se sperni und des spernere se ipsum greift sein Ehrgeiz hinauf (und nicht sein Kleinmuth): geschweige dass er die Angst des Eitlen und Bequemen davor hätte! Zu alledem gilt ihm die Lehre von der Unschuld aller Meinungen so sicher wie die Lehre von der Unschuld aller Handlungen: wie könnte er vor dem Apostaten der geistigen Freiheit zum Richter und Henker werden! Vielmehr berührt ihn sein Anblick, wie der Anblick eines widerlich Erkrankten den Arzt berührt: der physische Ekel vor dem Schwammigen, Erweichten, Überwuchernden, Eiternden siegt einen Augenblick über die Vernunft und den Willen, zu helfen. So wird unser guter Wille von der Vorstellung der ungeheuren Unredlichkeit überwältigt, welche im Apostaten des freien Geistes gewaltet haben muss: von der Vorstellung einer allgemeinen und bis in's Knochengerüste des Charakters greifenden Entartung. —

57.

Andere Furcht, andere Sicherheit. — Das Christenthum hatte dem Leben eine ganz neue und unbegränzte Gefährlichkeit beigelegt, und damit ebenfalls ganz neue Sicherheiten, Genüsse, Erholungen und Abschätzungen aller Dinge geschaffen. Diese Gefährlichkeit leugnet unser Jahrhundert, und mit gutem Gewissen: und doch schleppt es die alten Gewohnheiten der christlichen Sicherheit, des christlichen Geniessens, Sich-Erholens, Abschätzens noch mit sich fort! Und bis in seine edelsten Künste und Philosophien hinein! Wie matt und verbraucht, wie halb und linkisch, wie willkürlich-fanatisch und vor Allem: wie unsicher muss das Alles sich ausnehmen, jetzt, da jener furchtbare Gegensatz dazu, die allgegenwärtige Furcht des Christen für sein ewiges Heil verloren gegangen ist!

58.

Das Christenthum und die Affecte. — Aus dem Christenthum ist auch ein grosser volksthümlicher Protest gegen die Philosophie herauszuhören: die Vernunft der alten Weisen hatte den Menschen die Affecte widerrathen, das Christenthum will dieselben ihnen wiedergeben. Zu diesem Zwecke spricht es der Tugend, so wie sie von den Philosophen gefasst war, — als Sieg der Vernunft über den Affect — allen moralischen Werth ab, verurtheilt überhaupt die Vernünftigkeit und fordert die Affecte heraus, sich in ihrer äussersten Stärke und Pracht zu offenbaren: als Liebe zu Gott, Furcht vor Gott, als fanatischen Glauben an Gott, als blindestes Hoffen auf Gott.

59.

Irrthum als Labsal. — Man mag sagen, was man wilclass="underline" das Christenthum hat die Menschen von der Last der moralischen Anforderungen befreien wollen, dadurch, dass es einen kürzeren Weg zur Vollkommenheit zu zeigen meinte: ganz so, wie einige Philosophen sich der mühseligen und langwierigen Dialektik und der Sammlung streng geprüfter Thatsachen entschlagen zu können wähnten und auf einen» königlichen Weg zur Wahrheit «verwiesen. Es war beide Male ein Irrthum, — aber doch ein grosses Labsal für Übermüde und Verzweifelnde in der Wüste.

60.

Aller Geist wird endlich leiblich sichtbar. — Das Christenthum hat den gesammten Geist zahlloser Unterwerfungslustiger, aller jener feinen und groben Enthusiasten der Demüthigung und Anbetung in sich geschlungen, es ist damit aus einer ländlichen Plumpheit — an welche man zum Beispiel bei dem ältesten Bilde des Apostels Petrus stark erinnert wird — eine sehr geistreiche Religion geworden, mit Tausenden von Falten, Hintergedanken und Ausflüchten im Gesichte; es hat die Menschheit Europa's gewitzigt und nicht nur theologisch verschlagen gemacht. In diesem Geiste und im Bunde mit der Macht und sehr oft mit der tiefsten Überzeugung und Ehrlichkeit der Hingebung hat es vielleicht die feinsten Gestalten der menschlichen Gesellschaft ausgemeisselt, die es bisher gegeben hat: die Gestalten der höheren und höchsten katholischen Geistlichkeit, namentlich wenn diese einem vornehmen Geschlechte entsprossen waren und von vornherein angeborene Anmuth der Gebärden, herrschende Augen und schöne Hände und Füsse hinzubrachten. Hier erreicht das menschliche Antlitz jene Durchgeistigung, die durch die beständige Ebbe und Flut der zwei Arten des Glückes (des Gefühls der Macht und des Gefühls der Ergebung) hervorgebracht wird, nachdem eine ausgedachte Lebensweise das Thier im Menschen gebändigt hat; hier hält eine Thätigkeit, die im Segnen, Sündenvergeben und Repräsentiren der Gottheit besteht, fortwährend das Gefühl einer übermenschlichen Mission in der Seele, ja auch im Leibe wach; hier herrscht jene vornehme Verachtung gegen die Gebrechlichkeit von Körper und Wohlfahrt des Glückes, wie sie geborenen Soldaten zu eigen ist; man hat im Gehorchen seinen Stolz, was das Auszeichnende aller Aristokraten ausmacht; man hat in der ungeheueren Unmöglichkeit seiner Aufgabe seine Entschuldigung und seine Idealität. Die mächtige Schönheit und Feinheit der Kirchenfürsten hat immerdar für das Volk die Wahrheit der Kirche bewiesen; eine zeitweilige Brutalisirung der Geistlichkeit (wie zu Zeiten Luther's) führte immer den Glauben an das Gegentheil mit sich. — Und diess Ergebniss menschlicher Schönheit und Feinheit in der Harmonie von Gestalt, Geist und Aufgabe wäre, mit dem Ende der Religionen, auch zu Grabe getragen? Und Höheres liesse sich nicht erreichen, nicht einmal ersinnen?