Plötzlich kam die Sonne wieder zum Vorschein, jetzt ganz dicht über dem Horizont, und als das Boot wendete, konnte Mrs. Pollifax einen ersten Blick auf das Safaridorf Chunga werfen. Von einer am Ufer gelegenen Lichtung stieg der Rauch eines Lagerfeuers auf. Links stand ein langgestrecktes, weißes Gebäude mit Strohdach, dahinter kleine Hütten aus Schilfrohr und Stroh.
Das Tuckern des Bootes hatte Menschen an den Landeplatz gelockt. Es waren alles Eingeborene. Einer stand etwas abseits, ein breitschultriger junger Mann in einer Art Uniform aus dunkelgrüner Jacke und Shorts. Als das Boot den grauverwitterten Landesteg erreichte, lächelte er strahlend den Ankömmlingen zu. »Willkommen in Chunga«, sagte er. »Ich bin Julian und leite die Safari. Wenn sie bitte hereinkommen und sich eintragen wollen...«
Mrs. Pollifax betrat als erste das nahe gelegene, kleine Büro, wo Julian ihr Anmeldeformulare und einen Füllfederhalter reichte. Er rief dem Mann, der sie über den Fluß gebracht hatte, Anweisungen zu, und einen Augenblick später hörte sie das Geräusch des Bootsmotors auf dem Fluß. »Bald kommen außer dem Gepäck noch zwei weitere Gäste aus Lusaka«, erklärte Julian.
»Ja, ich weiß«, sagte sie. »Ich habe sie kennengelernt.«
Sein unwiderstehliches Lächeln erschien aufs neue. »Gut, dann haben Sie schon zwei Freunde. Moses bringt Sie jetzt nach oben. Sie wohnen in der Leoparden-Hütte.«
Moses trug staubige Turnschuhe und hellblaue Hosen. Sie folgte ihm den Kiespfad hinauf. Die Sonne begann unterzugehen, ihr Licht war nicht mehr helleuchtend, sondern ähnelte der Farbe von Bernstein. Auf dem Kiespfad raschelten unter ihren Füßen Blätter wie dürres Pergament, und Mrs. Pollifax fröstelte in der plötzlich auftretenden Kühle. Als sie die Hütte, an der Leopard stand, erreicht hatten, trug Moses den Koffer vier hölzerne Stufen hinauf und setzte ihn drinnen ab. Er erklärte ihr, daß es eine Dusche gebe, und deutete dabei in die Gegend. Mrs. Pollifax, deren Sinn jetzt mehr nach Wolljacke, Decken und heißem Kaffee stand, schüttelte den Kopf, bedankte sich und eilte die Stufen zu ihrer Hütte hinauf. Bevor sie die Tür schloß, sah sie hinaus und bemerkte, wie die Sonne endgültig hinter dem Horizont verschwand. Homer hatte recht gehabt: Es war genau sechs Uhr.
5
Im Innern der Hütte war es dämmrig. Die beiden vergitterten Fenster lagen im Schatten des Strohdaches, aber über dem Nachttisch baumelte eine elektrische Birne. Mrs. Pollifax knipste sie an. Die beiden schmalen Betten sahen seltsam bräutlich aus: Sie befanden sich unter Moskitonetzen, die wie Brautschleier von der Decke herabhingen und unter den Matratzen festgestopft waren. Hinter der Tür fand sie einen Gepäckständer, auf den sie ihren Koffer legte, und während sie sich umschaute, sagte sie laut: »Also - hier bin ich.«
Und Aristoteles vermutlich auch, rief sie sich dabei ins Gedächtnis.
Es war unglaublich still, totenstill. Draußen fiel irgend etwas zur Erde. Es klang wie eine vom Baum fallende Frucht. Eine ganz schwache Brise brachte die Schilfwände zum Rascheln. In der Ferne hörte sie einen Generator summen. Und jetzt erklangen in diese Stille hinein Stimmen. Sie hörte ein Mädchen lachen, einen Mann etwas antworten, und erkannte Cyrus Reeds Stimme. Er und Lisa waren also angekommen. Sie öffnete ihren Koffer, zog schnell ihren dicken Pullover an, kämmte ihr Haar, überprüfte den Film in ihrer Kamera und ergriff ihre Jacke.
Als sie die Tür aufmachte, glitt eine Eidechse über die Stufe und verschwand unter der Hütte. Sie ging den Pfad zum Wasser hinunter, und nach kurzem Zögern nahm sie den Weg durch eine leere, hellerleuchtete Bar in den Speiseraum, den kein Dach bedeckte. Unmittelbar vor seinen niedrigen Mauern brannte auf der dem Fluß zugewandten Lichtung ein Lagerfeuer. Ein Dutzend Stühle stand um das Feuer herum, und auf einem saß der junge Mann namens John Steeves. Als er sie erblickte, stand er auf, und das etwas scheue Lächeln, mit dem er sie begrüßte, erhellte sein ernstes Gesicht. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, sagte er, indem er ihr die Hand entgegenstreckte. »Ich bin John Steeves.«
»Emily Pollifax«, sagte sie, während sie sich die Hände schüttelten. »Setzen Sie sich doch. Ich liebe das Feuer. Ich setze mich nah heran, weil ich friere.«
»Begreiflich.« Er nickte. »Hier ist erst Frühlingsanfang, und außerdem kam die Regenzeit später als sonst, wie ich hörte, deshalb sind die Wege noch nicht in Ordnung gebracht worden. Was Ihnen nicht entgangen sein dürfte«, sagte er und grinste.
Offensichtlich war er viel älter, als sie gedacht hatte. Alles an ihm war jungenhaft. Sein faltenloses Gesicht, seine schlaksige Haltung, seine Lebhaftigkeit - nur seine Augen nicht. Sie wirkten irgendwie gehetzt, als hätten sie zuviel gesehen. Es waren, wie ihr Sohn Roger sich ausgedrückt hätte, die Augen einer alten Seele, so daß sie ihrer ersten Schätzung ein paar Jahre hinzufügte und ihn nunmehr für Mitte dreißig hielt.
»Freuen Sie sich auf die Safari?« fragte er Mrs. Pollifax, und ihr wurde klar, daß sie ihn angestarrt hatte.
»O ja, gewiß«, antwortete sie herzlich. »Und Sie?«
»Bißchen Pause für mich. Zuviel Herumreisen verdirbt einen für Kurorte und Luxushotels.«
»Dann reisen Sie also viel?«
Er nickte, während er mit seinem staubigen Stiefel Zweige zum Feuer schob. »Ich schreibe Reisebücher.«
»Steeves«, sagte sie nachdenklich. »Ich fürchte...«
»Ich weiß«, sagte er mit seinem raschen Lächeln, »kein Mensch behält Verfassernamen.«
»Nennen Sie mir die Titel Ihrer Bücher.«
»Hm... Im Himalaya verirrt, Über die chinesische Grenze, Hundert Nächte in einer Mongolenjurte.«
»Aber natürlich«, rief sie aus. »Über die chinesische Grenze habe ich gelesen. Sie verkleiden sich dort und leben unter Eingeborenen.«
»Wenn Sie so wollen, ist die Verkleidung der wichtigste Bestandteil meines Erfolges. Ich liebe die Maske. Tatsächlich habe ich als Schauspieler angefangen, aber es macht mehr Spaß, so etwas in gefährlichen Situationen anzuwenden.«
»Sie lieben die Gefahr?« fragte sie neugierig.
»Bestimmt ist sie amüsanter als das tägliche Einerlei.«
»Ja«, stimmte Mrs. Pollifax mit einem leisen Lächeln zu. »Die Anregung, die Dinge, die man über sich selbst erfährt; das völlige Aufgehen im Augenblick.«
Er sah sie überrascht an. »Sie sprechen offenbar aus eigener Erfahrung...« Sein Blick glitt über sie hinweg, sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und er verstummte. Mrs. Pollifax drehte sich um und sah Lisa Reed mit ihrem Vater kommen.
Steeves, sichtlich beeindruckt, sprang auf. »Also, ich muß sagen -guten Abend. Sind Sie auch bei der Safari? Sie waren nicht im Bus.«
Lisa hatte sich umgezogen, trug jetzt zu blauen Jeans ein Baumwollhemd und wirkte viel jünger, verletzlicher. Ihre elegante, schlanke Gestalt hatte etwas Zerbrechliches. Mrs. Pollifax glaubte, sie erröten zu sehen. Aber als sie sprach, klang ihre Stimme unpersönlich: »Nein, wir sind mit dem Wagen aus Lusaka gekommen. Ich bin Lisa Reed.«
»Und ich Cyrus Reed, Vater«, ergänzte Reed. Er sank auf den Stuhl neben Mrs. Pollifax und bemerkte: »Schön, Sie wiederzusehen.«
Steeves schien erfreut. »Sie sind Amerikaner? Bitte, setzen Sie sich zu mir. Ich habe seit Jahren keine Amerikaner getroffen. Vielleicht können Sie mir erklären, was in Ihrem Land vor sich gegangen ist?«
»Wenn das ein Mensch kann, dann nur Lisa«, sagte Reed. »Der Bericht ist natürlich einseitig.«
Steeves zeigte sein schnelles, strahlendes Lächeln. »Aber alle Berichte sind doch einseitig, nicht? Sie hatten eine Affäre, die etwas mit Entwässerung zu tun hatte?«