»Ein bißchen dunkel, aber gemütlich«, meinte Lisa und sah ihr über die Schulter. »Ob Sie wohl eine Zimmergenossin kriegen?«
»Da käme allerdings nur Mrs. Lovecraft in Frage«, erklärte Mrs. Polüfax.
Die beiden wechselten einen Blick, und Lisa lachte. »Sie ist ziemlich schrecklich, nicht wahr? All der Schmuck und die Pseudo-Weiblichkeit, aber unter dem ganzen Gepluster beginne ich die eiserne Hand im Samthandschuh zu spüren. Mein Vater hatte die Unverfrorenheit, mir zu sagen, ich würde so wie sie, wenn ich mich nicht vorsähe.«
»Das ist ganz und gar unmöglich«, sagte Mrs. Pollifax.
Lisa lachte. »Das sagen Sie, weil Sie mich früher nicht gekannt haben. Ich bin für Dad eine ganz schöne Heimsuchung gewesen, muß ich gestehen. Er ist ein Schatz, und er sorgt sich sehr. Der Himmel weiß, daß ich ihm Anlaß genug dazu gegeben habe. Ich kannte einmal einen Mann, wissen Sie, und ehe er sich aus dem Staube machte, dachte ich, er könnte alle meine Probleme lösen.«
»Was natürlich kein Mann kann«, bemerkte Mrs. Pollifax.
Lisa nickte. »Ja, jetzt sehe ich das ein, aber lange Zeit habe ich mir selbst die Schuld dafür gegeben. Ich fühlte mich so, so wenig liebenswert, verstehen Sie? So verfiel ich ins andere Extrem und unterdrückte jedes Gefühl. Aber das war natürlich auch lächerlich. Ich habe daraus gelernt, mich anzunehmen und zu mögen. Jetzt freue ich mich darüber.« Sie hielt inne und lächelte Mrs. Pollifax an. »Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Vermutlich, weil ich platze, wenn ich es nicht jemandem sage, und Sie wirken so... so menschlich - Afrika übt eine höchst bestürzende Wirkung auf mich aus. Seit wir hier sind, habe ich nachts die seltsamsten Träume, und ich sehe das Leben und mich selbst unter völlig neuen Gesichtspunkten. Dies Land führt mich zu etwas zurück, was ich verloren hatte. Es löst meine Fesseln. Finden Sie das beängstigend?«
»Nein«, sagte Mrs. Pollifax und lächelte nachdenklich. »Nein, weil ich gerade lange genug hier bin, um zu verstehen, was Sie meinen. Man lebt hier wie in einer andern Zeit. Alles ist neu. Und doch ist es zugleich sehr alt.« Lachend hielt sie inne. »Ich kann's offenbar nicht richtig ausdrücken.«
»Kann man auch nicht«, stimmte Lisa eifrig zu, und sie begannen unter den mächtigen alten Bäumen zum Fluß hinunterzugehen. »Keine wichtigen Bewegungen. Und doch, wissen Sie, unter der Oberfläche scheint eine Menge vor sich zu gehen«, fuhr Lisa fort. »Gestern, als ich nach Lusaka zurückfuhr, habe ich etwas richtig Unheimliches erlebt. Ich brachte eine Frau und ihr Kind zu ihrem Dorf, etwa eineinhalb Kilometer abseits der Fahrstraße, aber hinterher muß ich die falsche Abbiegung genommen haben, denn ich hatte mich total verfahren. Ich fuhr und fuhr«, sagte sie mit einem Schauder, »bis ich an eine Straßensperre kam, und - es war erschreckend - ich war plötzlich von Soldaten umgeben oder Polizisten, alle mit Gewehren.«
»Gütiger Himmel«, sagte Mrs. Pollifax verblüfft.
Lisa nickte. »Es waren ungefähr zwanzig Mann. Sie waren schrecklich nett, aber sie kontrollierten alles, meinen Paß, mein Gepäck. Sie verhörten mich fast eine Stunde lang, warum ich diesen Weg genommen hätte, wie lange ich in Sambia bliebe, wo ich hin wolle, und vor allem, warum ich nach Sambia gekommen sei.«
»Wo ist das passiert?« fragte Mrs. Pollifax.
Lisa dachte nach: »Irgendwo unten in der Kafue-Ebene. Jedenfalls sagt das die Karte.«
»Der Fahrer, der uns nach Chunga brachte«, bemerkte Mrs. Pollifax, »sprach von rhodesischen Spionen, die nach Sambia eingeschleust werden.«
»Kann sein«, meinte Lisa. »Es gab Guerilla-Überfälle die ganze rhodesische Grenze entlang - daß die Afrikaner das Land Simbabwe nennen, wissen Sie - und tief im Innern des Landes auch. Das waren keine Sambier, sondern Partisanen, die Sambia durchzogen, und vermutlich senden auch die Rhodesier Leute in dieses Land. Wenn ich an der Grenze eines Landes mit Rassentrennung leben würde, dann würde ich vermutlich auch nicht ruhig zusehen. Ich finde es einfach entsetzlich ungerecht, daß eine Minderheit von 250.000 Weißen die absolute Macht über sechs Millionen Eingeborene besitzen und sie ausbeutet. Schließlich ist es ja ihr Land.«
»Im allgemeinen«, sagte Mrs. Pollifax milde, »scheint heutzutage die Goldene Regel die letzte zu sein, an die man sich erinnert.« Sie hatten das Ufer erreicht, und Mrs. Pollifax dachte, wie unangemessen es doch war, bei einem solchen Anblick von Gewalt zu sprechen. Zu ihrer Linken schoß das Wasser über riesige, urzeitliche Felsblöcke hinab, sprühte Schaum und klang in seinem stürmischen Fall einfach atemberaubend. Jenseits der Felsen floß es ruhig um eine Insel herum. Dann setzte es seinen Weg fort nach Chunga und noch weiter. Mehrere Stühle waren nah am Ufer aufgestellt, andere standen in einem Kreis um die leere Feuerstelle herum. »Rhodesien ist sehr nah«, sagte Mrs. Pollifax, und ließ sich auf einem der Stühle nieder, »und Sambia war doch Nord-Rhodesien, nicht wahr?«
»O ja«, antwortete Lisa, »aber wenn Sie nicht in Livingstone waren, wissen Sie nicht, wie nah. Die Victoriafälle liegen zur Hälfte in Rhodesien. Ich hab' von Livingstone aus eine Bootsfahrt gemacht, und da war das eine Ufer des Sambesi sambisch und das andere rhodesisch. Der Führer erzählte uns, wir würden die ganze Zeit beobachtet, weil der Fluß die einzige Grenze ist, und die Leute ihn bei Nacht überqueren. Tatsächlich... « Sie hielt inne, weil oben vom Hang her eine Stimme nach ihnen rief. Der dritte Landrover war angekommen, und John Steeves kam heruntergestiegen, ihm folgten Amy Lovecraft, Dr. Henry und, sehr zimperlich, Willem
Kleiber. Dann erschien unter einem regenbogenfarbenen Schirm Chanda. Einen Augenblick später stiegen Cyrus Reed und Mclntosh herunter, und mit ihnen ein junger Mann in einem weißen Leinenjackett, der ein Tablett mit Gläsern trug.
Dr. Henry setzte sich neben Lisa und lächelte sie an. »Wir haben einen Wasserbüffel gesehen, eine Anzahl Pukus und eine paar Impalas.«
»Und wir haben einen Leoparden gesehen«, berichtete sie.
»Und wenn Sie ganz schnell in die Palmen da links von Ihnen schauen, dann können Sie Ihrer Liste einen Affen hinzufügen«, sagte John Steeves und setzte sich auf ihre andere Seite.
»Kümmern Sie sich nicht um den Affen«, sagte Mrs. Lovecraft geringschätzig. »Mrs. Pollifax, Julian hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß es heißes Wasser gibt, und Sie dürfen es als erste genießen.«
»Ich soll die erste sein?« fragte Mrs. Pollifax. »Ich weiß nur nicht, wo das Bad ist.«
»Ich weiß, wo bafa ist«, sagte Chanda eifrig. »Ich zeigen Ihnen.«
»Gut, dann nichts wie los.« Chanda beachtete den Pfad nicht und sprang von Fels zu Fels. Zum erstenmal bemerkte Mrs. Pollifax die lange Narbe, die sich vom Knöchel bis zur Hüfte zog. Sie erinnerte sich, daß Dr. Henry gesagt hatte, er sei beinah tot gewesen, als man ihn ins Krankenhaus gebracht habe, und sie fragte sich, wie viele Narben er sonst noch haben mochte. Oben auf dem Hügel erwartete er sie mit strahlenden Augen.
»Ich laufen schnell wie Affe«, sagte er grinsend.
»Wahrhaftig.« Während sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen, bemerkte sie einen kleinen, gelbbraunen Beutel, der an einer Schnur um seinen Hals hing. »Was ist das, Chanda?« fragte sie und deutete darauf.
Er schaute herab, stopfte den Beutel unter sein Hemd und sah sie nachdenklich an. »Cuma«, sagte er vorsichtig. Dann lachte er plötzlich wieder über das ganze Gesicht. »Möchten Sie sehen? Es ist mein Schatz.«
»Sehr gern, ist es geheim?«
»Sehr geheim«, antwortete er und war offensichtlich dankbar, daß sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete und ihm bedeutete einzutreten. Er nahm den Beutel vom Hals und leerte den Inhalt auf dem Bett aus.