»Nicht Mr. Reed«, sagte er bestimmt. »Nennen Sie mich Cyrus.«
»Oh.« Nach kurzem Zögern nickte sie. »Und ich heiße Emily.« Als sie zum Ufer hinunterstieg, merkte sie, daß sie sich wohler fühlte und sogar lächelte. Ein einfältiges Lächeln vermutlich, aber immerhin ein Lächeln.
Gegen halb sieben saßen alle unten am Fluß um ein prasselndes Feuer. Es war die einzige Beleuchtung außer einer an einem Pfahl aufgehängten Laterne. Sie saßen im Kreis, und die Dunkelheit ringsum hatte sie enger zusammenrücken lassen oder auch das Gefühl ihrer Winzigkeit angesichts der mächtigen Bäume und des rauschenden Flusses. Sie saßen, plauderten und tranken Bier. Nur zwei Menschen waren beschäftigt: zum einen der ernste junge Mann im weißen Jackett. Er kam mit Besteck, Tischtüchern und Tellern den Berg hinunter, ging dann wieder nach oben, um mit Tassen, Untertassen, weiterem Bier und Gläsern zurückzukehren. Zum anderen Mrs. Pollifax, die ein Blitzlicht an ihrer Kamera befestigt hatte, kniete, hockte, stand, saß und eine Aufnahme nach der anderen machte.
»Warum machen Sie sich die Mühe«, fragte Mr. Kleiber neugierig, »wenn Sie nicht einmal eine gute deutsche Kamera haben wie Mr. Mclntosh oder Mrs. Lovecraft?«
»Oh, diese Kamera ist für einen Amateur gerade richtig. Ich mache ja bloß Aufnahmen für meine Kinder«, sagte sie. »Die werden begeistert sein, und natürlich wollen meine Enkelkinder die Tiere sehen. Ich versuche immer, einen richtigen Hintergrund drauf zu bekommen, damit sie es auch miterleben können.«
»Und zeigen Sie auch Dias?« fragte Cyrus Reed trocken.
Sie warf ihm einen Blick zu und sagte, ohne mit der Wimper zu zucken: »Natürlich.« Dabei haßte sie Dias.
»Unglaublich«, sagte er und starrte sie an.
Und voller Begeisterung fuhr sie fort: »Nach dem Abendessen bringe ich Bilder von meinen Enkelkindern mit. Es sind ganz reizende Kinder.«
»Wirklich?« fragte Amy Lovecraft kalt.
Der junge Kellner war soeben mit einem großen Tablett erschienen. Ihn begleiteten zwei junge Männer, die dampfende Schüsseln trugen. Er verkündete, daß das Abendessen aufgetragen sei. Sofort sprang Mrs. Pollifax auf und trat als erste an den Tisch. Sie war nicht überrascht, feststellen zu müssen, daß sie nach ihrer Ankündigung von Enkelfotos eine >Art Ausgestoßene< geworden war. Mr. Kleiber wählte einen Platz, der von ihrem weit entfernt war, und Mrs. Lovecraft, die bisher kein wirkliches Interesse an Mr. Kleiber gezeigt hatte, setzte sich neben ihn. Lisa wählte einen neutraleren Platz, und Steeves begleitete sie wie gewöhnlich. Tom Henry saß nicht weit von Lisa entfernt, und Mclntosh, rätselhaft lächelnd, setzte sich neben Julian.
Nur Chanda und Cyrus Reed schien es nicht zu stören. Chanda hockte sich mit gekreuzten Beinen neben Mrs. Pollifax auf den Boden und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Ich sitze hier. Sie nunandi.«
»Verdammt unpraktisch, auf den Knien zu essen«, meuterte Reed.
»Versuchen Sie's auf einer Ecke dieses kleinen Tisches«, riet Mrs. Pollifax. »Schließlich bedeutet Safari kampieren.«
»Touche«, sagte er lachend. »Danke. Unglaublich gutes Essen. Weiß gar nicht, wie sie hier draußen ohne jede Elektrizität so erstklassig kochen können.«
»Es gibt großen Holzofen«, erklärte Chanda eifrig, »und sehr feiner Koch. Julian nennt ihn einen Chef.«
»Darum also«, sagte Reed. »Hab' dich da oben rumschnüffeln sehen. Spricht hier noch jemand Bemba?«
»Cimo«, sagte Chanda und streckte einen Finger. »Gutes Leben hier im Park. Ich vielleicht nicht Jäger.«
»Tom sagt, daß du ein verdammt guter Jäger bist und ein Spurensucher, obwohl du erst zwölf Jahre alt bist«, erklärte Reed, indem er geschickt ein Stück Steak aufspießte. »Sagte, du seist weggegangen, um zu sehen, was von deinem alten Dorf an der angolanischen Grenze noch übriggeblieben ist, und daß du fünfzig Meilen allein durch den Busch gewandert seist.«
Chandas Lächeln vertiefte sich. »Ja, das. Er erzählt Ihnen von den Löwen?«
»Löwen!« rief Mrs. Pollifax aus.
»Drei«, sagte Reed und nickte. »Aber woher hast du gewußt, daß sie dir folgen, Chanda?«
»Weil...« Chanda zögerte. »Ich weiß nicht Wort für cula.«
»Frösche, Chanda«, rief Julian, der ein paar Stühle entfernt saß.
»Ach ja. Ich sie hören, wissen Sie. Sie machen Froschlärm, und dann kreuze ich kamana... «
»Bach«, rief Tom Henry.
»Ja, Bach. Und Frösche reden sehr laut miteinander. Ich gehe weiter, und dann -«er hob die Hand und machte eine dramatische Geste »- kula sind still. So ich schaue nach hohem Baum hinaufzuklettern, weil es dunkel wird, wie jetzt, und ich weiß, daß jemand mir folgt, sonst würden Frösche weiter Lärm machen.«
»Gütiger Himmel«, sagte Lisa. Alle hörten jetzt zu.
»Drei Löwen wollen auf Baum klettern, mir nach, aber ich bin zu hoch. Ich sitze ganze Nacht, daß sie weggehn sollen.«
»Und das taten sie wohl schließlich«, sagte Steeves.
»Aber erst am Morgen«, warf Tom Henry ein.
»Ja, ich vom Baum klettern, aber nicht kann gehen. Mwendo geworden wie Baum.«
»Er meint, seine Beine waren gefühllos geworden, weil das Blut nicht mehr zirkulierte«, erklärte Tom. »Seine Beine waren geworden wie ein Baum.«
Chanda nickte. »So ich suche Zweige und trockenes Gras, und nach langem Reiben von Zweigen mache Feuer. Ist sehr schwer. Viele Stunden ich sitze am Feuer, um warm zu werden, und dann gehe ich.«
»Kann mir nicht vorstellen, daß ein amerikanischer Zwölfjähriger so etwas schafft«, sagte Reed.
»Immerhin ist Afrika eine Spur gastlicher als die Mongolei«, warf Steeves ein. »Da gibt es Panther und Tiger und, obwohl die Sonne an dreihundert Tagen im Jahr scheint, schreckliche Winde und furchtbare Abkühlung durch den Wind.«
»Tiger haben wir nicht«, sagte Julian, »aber morgen suchen wir nach Löwen für Sie.«
»Oh, hoffentlich bekommen wir einen zu sehen«, rief Lisa eifrig.
»Um wieviel Uhr brechen wir auf?« erkundigte sich Mrs. Pollifax.
»Gleich nach dem Frühstück, gegen halb acht.«
»Früh«, sagte Amy Lovecraft und zog ein Gesicht.
Der Kellner hatte ein neues Tablett gebracht und setzte es auf den Tisch. Er verbeugte sich mit ernstem Gesicht und erklärte: »Der Pudding ist serviert, meine Damen und Herren.«
Nach dem Essen erinnerte Tom Henry Chanda daran, ans Schlafengehen zu denken. Als der Junge aufstand, hatte Mrs. Pollifax plötzlich einen tollen Einfall. Auch sie erhob sich. »Ich gehe mit Chanda nach oben«, sagte sie. »Es ist so dunkel, daß ich es nicht über mich bringe, allein zu gehen, und weil wir doch schon um sieben frühstücken... «
»Wie, keine Fotos von den Enkelkindern?« fragte Reed boshaft.
»Ich hab' noch Schlaf nachzuholen«, sagte sie, ohne ihn zu beachten, und ergriff ihre Handtasche. »Gute Nacht!«
Ein Chor von Gutenachtwünschen begleitete sie, als sie die Kunde am Feuer verließ. Außerhalb des Lichtscheins war es stockdunkel; Chanda nahm sie bei der Hand und führte sie. Kiesel knirschten unter ihren Schritten, und das Geräusch des rauschenden Flusses schläferte ein. Vom Haus aus schaute Mrs. Pollifax zur Feuerstelle zurück und zählte die Gruppe. Alle waren da. »Chanda«, fragte sie, »ob du mir wohl etwas in deinem Geheimbeutel aufbewahren würdest?« Er starrte sie an.
»Es ist etwas Wichtiges und ganz klein. Nur bis zum Ende der Safari«, fügte sie schnell hinzu. Sie öffnete ihre Kamera und nahm den Film heraus. Als sie ihn Chanda hinhielt, bewegte er sich nicht. Er blickte durch sie hindurch, und es schien, als sähe er etwas, was sie nicht sehen konnte. Dann lächelte er sie plötzlich an.
»Ja, Geheimnis«, sagte er und steckte den Film in seinen Beutel.
Sie merkte, daß sie den Atem angehalten hatte. Jetzt war sie erleichtert. »Du bist ein richtiger Freund, Chanda.«